Was soll das?

Warum ich für bruchstücke schreibe.

Immanuel Kant. Porträt von Gottlieb Doebler

Am Ende läuft es auf die alten Fragen hinaus, was können wir wissen, was sollen wir tun, was dürfen wir hoffen. In Krisen drängen sich diese drei Fragen unausweichlich auf, ohne in ruhigen Zeiten gänzlich zu verschwinden. Der Aufklärer Immanuel Kant hat sie am Beginn der Moderne so formuliert. Seine vierte Frage, was ist der Mensch, lasse ich lieber außen vor. Wenn Menschen die Frage beantworten, was der Mensch sei, kommen zu leicht Einbildungen heraus, etwa so wie wenn Donald Trump sagt, wer Donald Trump ist. Noch schlimmer wird es, wenn Frauen sagen, wie Männer sind, und am fürchterlichsten, wenn Männer sagen, wie Frauen sind.

Seht, so ist der Mensch, wird als Erklärung für Zustände aller Art bis hin zu Krisen und Katastrophen herangezogen, weil diese Begründung zwei hervorstechende Eigenschaften besitzt. Sie ist so großspurig, dass sie nicht überholt, und so billig, dass sie von jedermann benutzt werden kann. Gegenrede ist nur auf derselben fundamentalen Ebene möglich, nein, der Mensch ist anders, ich kenne da jedenfalls auch andere. Oder man weigert sich, und das ist sehr zu empfehlen, auf solche hausgemachten Anthropologien einzusteigen.

„Immer steht irgendjemand mit wirren Haaren auf und weiß, wie die Welt zu richten ist.“ (Peter Fuchs)
Foto: Bernd.Brincken – Eigenes Werk, CC0
Dass es in diesem Text nur Zitate und entsprechend nur Bilder von Männern gibt, fällt inzwischen (21. Jahrhundert!) sogar Männern auf.

Philosophie-Stars wie Slavoj Zizek („Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält“), Kommentatoren auf Online-Plattformen, Hitzköpfe an Stammtischen und Klatschmäuler in Hausfluren sind sich einig: Über „den Menschen“ zu schwadronieren, das bringt es. Ob er gut oder böse, solidarisch oder egoistisch, die Krone der Schöpfung oder ein Schwein ist. Gottfried Benn war der Meinung, letzteres schlösse sich nicht gegenseitig aus, “Die Ärzte” haben Frauen davon ausgenommen.

Als Diskussionsthema ist „der Mensch“ unerschöpflich, weil niemand etwas Genaues weiß. Seit Sokrates ist das allgemein bekannt, „in Zeiten von Corona“ frischt sich das Bewusstsein um das Nichtwissen wieder auf. Die Medizin untersucht den menschlichen Körper seit einigen tausend Jahren. Sie hat brauchbares, aber kein sicheres Wissen über Gesundheit und Krankheiten gewonnen. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts analysiert die Psychologie als eigene wissenschaftliche Disziplin die Psyche. Sie weiß vieles, aber nichts Zuverlässiges über das Bewusste und das Unbewusste. Philosophie und andere Sozialwissenschaften erforschen soziale Beziehungen theoretisch und empirisch seit Jahrhunderten. Sie haben Bibliotheken füllende Erkenntnisse gesammelt, Gewissheiten können sie nicht anbieten, dafür reichen ihre Informationen trotz Big Data nicht aus. Es steht, weltraumbreit und himmelhoch, eine Menge Platz zur Verfügung für Religionen, Ideologien, Heilslehren, politische Gesinnungen, wissenschaftliche Grundsätze, tiefe Überzeugungen und festen Glauben.

„Bevor wir wissen, was wir tun, müssen wir wissen, wie wir denken.“ (Joseph Beuys)
Foto: Wikimedia Commons

Ich weiß es auch nicht besser. Ich arbeite, denke, rede und schreibe mit diesen  beiden Unterstellungen: Erstens, das menschliche Verhaltenspotential übersteigt die jeweils aktuell praktizierten Verhaltensweisen um ein Vielfaches. Stets ist mehr und anderes möglich. Welche Gewohnheiten sich etablieren, welche Routinen sich verankern, welche Regeln gelten, welche Veränderungen sich durchsetzen, welche Risiken eingegangen werden, das alles ist entscheidungsoffen. Wer so denkt, denkt modern, nämlich in den Kategorien des Möglichen und des Zukünftigen. Es ist (in Europa) kaum mehr 300 Jahre her, dass eine andere Denkweise vorherrschte, für die das Vorherbestimmte und Traditionelle zentral war, die an das Schicksalhafte, Naturgegebene, Gottgewollte glaubte.

Zweitens, als Einzelevas und Einzeladams sind Menschen nur deshalb existenzfähig, weil sie in Beziehungen zueinander stehen, in Verhältnissen aller Art leben. Andere Verhältnisse erleichtern andere Verhaltensweisen oder erfordern sie sogar. Kein Lebewesen, das sich in einer anderen Umwelt nicht verändert! Sonst wäre die historische und interkulturelle Vielfalt nicht möglich, in der die menschliche Gattung die Erde bevölkert: Mutter Theresa, Madonna und Rosa Luxemburg, mongolische Reiter und sizilianische Paten, preußische Prinzessinnen und indianische Squaws, indigene Gruppen Südamerikas und sibirische Steppenvölker, oberbayerische Hüttenwirte, nepalesische Sherpas, römische Kardinäle, australische Ureinwohner, afrikanische Langstreckenläufer, deutsche Landsknechte, Klosterbrüder, Wikinger, Wüstennomaden… Die Unterschiede werden ständig klein geredet und geschrieben, weil es außerordentlich schwer fällt, über sein eigenes Menschen- und Weltbild hinaus irgendetwas wahrzunehmen.

„Man kann seinem sehr begründeten theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis widersprechen.“ (Antonio Gramsci)
Foto: Wikimedia Commons

Wenn erstens anderes möglich ist und zweitens die Qualität der Verhältnisse wesentlich beeinflusst, welche Verhaltensweisen verwirklicht werden – dann liegt es angesichts einer zerstörerischen Wirtschaftsweise und tiefer sozialer Ungerechtigkeiten nahe, sich mit den herrschenden Verhältnissen kritisch auseinanderzusetzen. Daran ist nichts Originelles, das machen sehr viele in einer Gesellschaft, die Informations- und Meinungsfreiheit kennt. Sobald Freiheitsrechte und eigene Entscheidungsmöglichkeiten im Prinzip für alle gelten, wird das Leben bunt. Alles wird relativ, „komplex“ und „kontingent“, wie man heute gerne sagt. Eine Position zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit zu finden, wird schwer. Die Herausforderung ist, sich damit abzufinden und darauf einzustellen, dass nicht anders als in laufenden Auseinandersetzungen, in ständigen Kontroversen vorübergehend gültige Wahrheiten festgezurrt werden. Aber, das möchten die Nutznießer der herrschenden Verhältnisse vergessen machen, manche Wahrheiten werden finanziert, andere sind mittellos, manche sind mächtig, andere ohnmächtig, manche sind bewaffnet, andere wehrlos…

Besonders finanzstark und machtbewehrt ist diese halbe Wahrheit, die Freiheit zum höchsten Gut kürt. Es ist eine halbe Wahrheit, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbestimmung ausblendet. Sie unterschlägt die praktischen Abhängigkeiten jeder sozialen Existenz und macht Verantwortungslosigkeit zum Erfolgsrezept. Sie erzählt Märchen, wie jeder sei seines Glückes Schmied, Reichtum basiere auf persönlicher Leistung, Armut sei eigenes Versagen. Sie erhebt Egozentrik zur Tugend, im Grunde redet sie glücklich gelandeten Flugzeugpassagieren ein, sie könnten fliegen.

In Krisenzeiten, wenn es nicht mehr so weiter geht, wenn man nicht weiß, was man weiß, noch was man tun soll, noch was man hoffen darf, in Krisenzeiten, wenn man dringend Antworten bräuchte, aber keine hat, weil es andernfalls ja keine Krise wäre, in Krisenzeiten wäre es besonders schwach, seinem theoretisch gut begründeten Pessimismus nachzugeben und sich nicht einzumischen, sei es noch so bruchstückhaft.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

1 Kommentar

  1. In Tagen, in denen so viele zu wissen scheinen, was der Mensch zu tun hat, und das als Bescheidwisser*in, Mahner*in, Denunziant*in, Droher*in, Disziplinierer*in zum Ausdruck bringen, tut es gut, dass da einige innehalten und schreiben – mit Vorsicht nachdenklich, bruchstückhaft.

    Herta Müller hat 2009 in „Lebensangst und Worthunger“ die Frage „Warum Schreiben?“ so beantwortet: „Diese Frage stellt man sich eigentlich nur, wenn man schon damit angefangen hat, und dann ist es zu spät. Ich glaube es wird zu einer, ja es wird zu einer Art Wirklichkeit, zu einer Art, mit sich selbst zurechtzukommen. (…) Auch wenn das Leben nicht einfacher wird, weil das Schreiben einen bis über die Ohren in die Tiefe der Dinge drückt, klammert man sich ans Schreiben.“

    Genau so liest sich für mich „Was soll das?“. Ich lese das als eine (Selbst-)Reflexion aus dem Versuch, zurechtzukommen in diesen Tagen. Ich lese das als Ausdruck der Solidarität mit denen, die das auch versuchen, ohne eine Antwort parat zu haben, wie das die Anderen zu tun und zu lassen haben.
    Vielen Dank dafür.

    Andreas Galling-Stiehler

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