Einer Entscheidungssituation die Unsicherheit zu nehmen, ist Freiheitsberaubung

Wissenschaftliche Prophylaxe: Cover des Forschungsmoduls „Expect the unexpected. Theorie und Praxis der Entscheidungs-, Risiko- und Krisenkommunikation“ im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation der Universität der Künste Berlin (UdK) im Wintersemester 1919/20. Weitere Werke der Künstlerin unter www.beatrix-grohmann.de

Aufklärung ist passé, Aufregung angesagt. Unsere Sicherheit, das „Supergrundrecht“, wie es die Ex-Innenminister Schily (SPD) und Friedrich (CSU) nannten, ist in Gefahr. Deshalb werden Grundrechte beschnitten und aufgehoben – „ohne großen gesetzgeberischen Aufwand, mit einem Fingerschnippen der Exekutive quasi“ (Heribert Prantl). Sicherheit, Risiko, Gefahr, Entscheidung, Krise, in diesem dornenreichen Dickicht verheddern sich die Talkmaster der Republik wie Fische im Fangnetz.

Safety first

„Risiken erkennen – Gesundheit schützen“ lautet die Aufgabenbeschreibung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR). Sicherheitspolitik, zivile Sicherheit, Lebensmittelsicherheit, Arzneimittelsicherheit – Sicherheit ist ein Megatrend, weil wir in einer Risikogesellschaft leben. Sicherheit muss versprochen werden, wo riskant gehandelt wird. Deutsche gelten als Sicherheitsillusionsweltmeister, sie lieben Versicherungen, als ob damit der Eintritt des Schadens verhindert würde. Wer sein Leben versichert, bekommt selbiges im Versicherungsfall nicht zurück und Krankenversicherung schützt auch nicht vor Krankheit. Zugegeben, Versicherungen mindern manchmal die Folgen, auch wenn sie die Regenschirme, die sie verteilen, nicht selten einziehen, sobald die ersten Tropfen fallen.

Auch Kirchen brauchen Blitzableiter

Risiko und Gefahr unterscheiden sich. Wer ein Risiko auf sich nimmt – »to take a risk» -, ist allein schon psychologisch im Vorteil im Vergleich zu denen, die Gefahren machtlos gegenüberstehen. Am Steuer fühlen wir uns sicherer als auf dem Beifahrersitz. Brisanz entsteht, wenn riskante Entscheidungen der „Verantwortlichen“ Gefahren für andere hervorrufen. Als die meisten Unsicherheiten noch von außen kamen, von launischen Göttern und Naturgewalten, konnte man die höheren Instanzen dazu im Orakel direkt befragen. Mit der Neuzeit ändern sich „die Wirklichkeiten“, Unsicherheit wie Sicherheit gelten nunmehr als hausgemacht. „Dass in den Kirchen gepredigt wird, macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig“, notiert der erste deutsche Professor für Experimentalphysik Georg Christoph Lichtenberg 1796 in sein Sudelbuch.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Seemächte Italien, Spanien und England längst mit einem Ersatzkonzept für Sicherheit unterwegs. Risiko ist lateinischen Ursprungs (»risicare«) und im Zusammenhang mit dem Umschiffen von Klippen bereits in italienischen Handelsdokumenten des 12./13. Jahrhunderts zu finden. Prototypisch für den Umgang mit Ungewissheiten, von der Finanzierung bis zur Durchführung, ist der Seehandel – dramatisch nachzuerleben in Shakespeares Kaufmann von Venedig, einem Theaterstück über schicksalhafte Zufälle, kommunikativen Risiken, Gewinn und tragischem Verlust.

Wie subjektiv Risiken empfunden werden und welche Rolle die Kommunikation spielt, erzählt Gustav Schwab, berühmt für seine „Sagen des klassischen Altertums“, als tragische Begebenheit. An einem Wintertag verfehlt ein Reiter einen Fährhafen und reitet, ohne es zu wissen oder auch nur zu erahnen, über den zugefrorenen Bodensee. Für die Menschen am Ankunftsort ist das eine Sensation. Sie erzählen dem Reiter seine Geschichte und dadurch wird er sich des Risikos im Nachhinein so sehr bewusst, dass er vor Schreck tot zusammenbricht. Kommunikation ist riskant!

„Der Moment der Entscheidung ist eine Verrücktheit“

Anfang der 80er Jahre fieberten über 60 Prozent der Fernsehzuschauer in der BRD regelmäßig mit bei der ZDF-Quizsendung Der Große Preis – einer Kopie der italienischen Show Rischia tutto (ital. „Riskiere alles“) –, moderiert von dem Showmaster Wim Thoelke. Der besondere Augenblick war die Risiko-Frage, in Szene gesetzt durch starke visuelle Effekte. Kandidatinnen mussten dabei eine Wette eingehen, dass sie eine noch unbekannte Frage richtig beantworten können. 

„Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden“, lautet das Paradoxon der Entscheidung, wie es der österreichische Physiker, Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster formuliert hat. Entscheidungen sind demnach notwendig, obwohl richtige Entscheidungen unmöglich sind. „Der Moment der Entscheidung ist eine Verrücktheit“, weiß Søren Kierkegaard, Dänemarks berühmter Philosoph. Wüsste man, was richtig ist, müsste man sich ja nicht mehr entscheiden, sondern nur noch Regeln befolgen. Entscheiden heißt, Alternativen bedenkend mit bestimmten Mitteln bestimmte Ziele im Horizont einer ungewissen Zukunft zu verfolgen. Das verursacht schon im Normalfall erst lange Uneinigkeit, dann hastiges Handeln.

Foto: Jürgen Schulz

Wenn – dann, taktlose Routinen

Krisen sind aber Ausnahmezustände, die den Normalzustand überfordern und es erschweren, Ziele zu erreichen. Praktisch geht es um die Komplexität einer Katastrophe, in der es mehr Hilfsnachfragen als Hilfsangebote gibt. So wird erwartet, dass durch Entscheidungen bestimmte Ziele wie Rückgang der Neuinfektion, verfügbare Schutzkleidung oder weniger Kontakthäufigkeit erreicht werden. Um Bedingungen für Entscheidungen geht es bei der Priorisierung von Hilfeleistungen, der Triage. Allerdings ist die Sortierung von Krankheitsfällen im Rahmen der Katastrophenmedizin vor allem ein administrativ festgelegtes Verfahren bzw. ein Algorithmus mit eindeutigen Handlungsvorschriften: Wenn, dann! Unter Verfahrensregeln mit medizinethisch vertretbaren Prämissen wird entschieden, was eigentlich nach moralischen Kriterien nicht entscheidbar ist. Solche Routinen sind taktlos, wie wir tagtäglich in den großen und kleinen Instanzen der Bürokratie erfahren können, weil wir uns als Individuen nicht respektiert fühlen. Aber Routinen sind verlässlich, sie ermöglichen Anschlusshandeln.

Beim Verwaltungshandeln sind die Tatbestände und die Entscheidungen definiert. Wer nach dem neuen Bußgeldkatalog in Berlin seine Wohnung ohne triftigen Grund verlässt, muss zwischen 10 und 100 Euro bezahlen. Entschieden werden muss dann allerdings noch über den Verstoß und man möchte derzeit nicht in der Uniform der zu Parkwächtern abkommandierten Ordnungshüter stecken.

Improvisationen

Beim Entwurf von Ausstiegsszenarien aus der Krise helfen aber keine Wenn-dann-Vorgaben. Vielmehr muss nach Antworten gesucht werden auf die Frage: „was wäre wenn?“. Was wäre, wenn alle Menschen Masken tragen würden? Was wäre, wenn wir von aufwendigen Einzeltests umstellen würden auf Pooling? Federführend dafür sind Herbert A. Simons Überlegungen über Entwurfsprozesse ohne endgültige Ziele. Simon, Nobelpreisträger für Wirtschaftwwissenschaften, wendet sich ausdrücklich gegen überbordende Vorstellungen von Endzielen und schlägt stattdessen vor, dass Ziele permanent gesetzt und zugleich infrage gestellt werden. Er beschreibt dies am Beispiel der bildenden Kunst, bei dem für die Künstlerin jede Entscheidung eine kontinuierliche Quelle für neue Entscheidungen ist. Der Schaffensprozess wird angeregt durch zyklische Interaktion zwischen Werk und Künstlerin und auch den Werken anderer Künstler. Ziele ändern sich permanent und regen neue Ziele an. In Kunst und Kultur und insbesondere in der Jazzmusik nennt man diese Fähigkeit Improvisation. Damit ist ausdrücklich keine Mangelverwaltung gemeint.

Krisen sind Chancen, Risikokompetenz zu entwickeln. Spätestens wenn die Instanzen der Politik und Wissenschaft unsicher sind, wenn Evidenzen fehlen, sind die Bürgerinnen und Bürger gefordert. So plädiert der Psychologe Gerd Gigerenzer, in Qualitätsmedien zur Zeit hoch präsent, für individuelle Risikokompetenz. Forschungen zeigen, dass dabei Bauchentscheidungen häufig erfolgreicher sind. Sein Rat: „Fragen Sie Ihren Arzt nicht, was er empfiehlt, sondern fragen Sie ihn, was er täte, wenn es seine Mutter wäre.” Vielleicht muss auch an einfache Kulturtechniken der Hygiene und Haushaltsführung wieder appelliert werden. Das gilt auch für alle Aspekte der Vorsorge, damit man nicht im Ernstfall in einer analen Übersprungshandlung zum Toilettenpapier greift.

Dazu hat Macchiavelli alles gesagt

Alle Kommunikation ist riskant und häufig unaufrichtig; denn viele aus der Risikogruppe haben den Risikograd bereits vor den staatlichen Repressionen selbst richtig eingeschätzt. Diese Menschen brauchen keine gutgemeinte Bevormundung. Für meinen Vater, der gerade in einem Pflegeheim lebt, das den Namen mehr als verdient, war es das höchste Ziel, dass seine Kinder ohne Angst leben. Wie käme ich dazu, ihn jetzt in Angst zu versetzen und zu bevormunden. Individuelle Freiheit hat eine Grenze, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. Diese Verantwortung ist nicht zu verwechseln mit jener Floskel von der Verantwortungsübernahme von Politikern und Managern. 

Zum Einfluss von Virologen auf politische Entscheider hat der große italienische Macht-Theoretiker des 15./ 16. Jahrhunderts, Niccolò Machiavelli, bereits alles gesagt, was zu sagen ist: „Denn es gibt drei Arten von Köpfen: der eine erkennt alles von selbst, der zweite nur, wenn es ihm von anderen gezeigt wird, der dritte sieht nichts ein, weder von selbst noch durch die Darlegung anderer.“

Foto: Jürgen Schulz [Namen und Telefonnummern der Praxis wurden entfernt]

Von den Medien werden Wissenschaftlerinnen als Experten häufig mit Zukunftsfragen genötigt, die sie gar nicht beantworten können. Dabei sind Wissenschaftler doch Experteninnen des Nichtwissens, denen man ihr Nichtwissen zu einem früheren Zeitpunkt auch nicht übel nehmen sollte. Aber das Nichtwissen und Nichtverstehen motiviert uns jeden Tag und jede Stunde. Ein berühmter Vertreter der evidenzbasierten Medizin, der ungarische Medizinnobelpreisträger Albert Szent-Györgyi, erzählt die Geschichte einer Gruppe von Soldaten, die in den Alpen die Orientierung verliert. In auswegloser Lage entdeckt dann jemand einen Teil einer Landkarte in seinem Rucksack. Die Gruppe orientiert sich an der Karte und findet den Weg zurück. Im Nachhinein stellt sich dann heraus, dass es sich um den Ausschnitt einer Karte der Pyrenäen und nicht der Alpen gehandelt hat.

„Schiffbruch mit Zuschauer“

Die Bilder gleichen sich. Verirrte, Schiffbrüchige, Gestrandete auf Inseln oder im Krankenhaus. Auch Zuhausebleiben ist ein Risiko. „Der Hafen ist keine Alternative zum Schiffbruch; er ist der Ort des versäumten Lebensglücks“ schreibt der Philosoph im Ausguck Hans Blumenberg. Er bezeichnet den „Schiffbruch mit Zuschauer“ als Paradigma einer Daseinsmetapher. Wir als Zuschauer sind keine Schaulustigen. Vielmehr wird bewusst, was uns noch widerfahren wird.

„Geboren um zu sterben“ heißt ein Album des Rappers Alpa Gun. „Geboren, um zu leben“ heißt ein Lied der Band Unheilig. „Man wird geboren, um zu sterben, aber man stirbt, um zu leben“, lautet dagegen das Credo des Christentums. Bei all den Herausforderungen, Risiken, Unsicherheiten, Problemen, Entscheidungsnotwendigkeiten wäre es vielleicht am besten, gar nicht erst geboren zu werden. Aber wem passiert das schon?

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

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