Herrengedeck – oder feministische Wut für Späteinsteiger

Foto: (c) Mauricio Bustamante

„Wenn alles stillsteht“ ist derzeit eine häufig gebrauchte Überschrift, zum Beispiel auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung vom 17. April. Das war knapp fünf Wochen nachdem ein Großteil der bundesrepublikanischen Printjournalisten ins Homeoffice verbannt wurde. Knapp fünf Wochen, in denen nicht wenige Journalistenkollegen ihre persönlichen Erfahrungen mit der für sie offenbar neuen Situation in ihren Medien weidlich ausgebreitet hatten: Wie schwer, die ganze Zeit Kinder bespaßen zu müssen und dennoch die Schreibtischarbeit zu schaffen. Welche Logistikherausforderungen der Einkauf, das Kochen, die Wäscheberge, überhaupt der Dreck in der Wohnung so mit sich bringen.

Dennoch, von all diesen Tätigkeiten völlig unberührt, steht in Woche fünf der neuen Zeitrechnung diese Überschrift und behauptet Stillstand. Wo? Na, in der Wirtschaft natürlich. Da, wo das echte ernste wahre Leben weiterhin verortet wird. Allem Applaus für systemrelevante Krankenschwestern und Erzieherinnen zum Trotz. Der ist, wie die mit großer Geste verkündeten  Prämien und Einmalzuschläge, ein „Danke, Schätzchen!“. Trinkgeld, das in den Ausschnitt geschoben wird. Herrengedeck. Gewährt von denen, die im Gegenzug weiterhin die Macht für sich beanspruchen. Zu der gehört eben auch die Macht der Beschreibung, Deutung und Analyse dessen, was wichtig und weniger wichtig ist. 

Die Corona-Krise hat das bisher eher verstärkt, als in Frage gestellt, wie  Jana Hensel, deren politische Einschätzungen ich ansonsten nicht teile, in einem Text für Zeit-Online sehr gut beobachtet: Der anfangs omnipräsente Virologe Christian Drosten sei so etwas gewesen wie „die Vorhut einer männlichen Expertendämmerung“. Nach den Virologen, so Hensel, seien dann die ebenfalls männlichen Politiker, Soziologen, Philosophen, Ökonomen, Unternehmer, Schriftsteller und Therapeuten aufgetreten.

Es geht um viel Grundsätzlicheres

Das erklärt vielleicht, warum mir deren Analysen und Forderungen nicht reichen. Selbst solche nicht, die im neoliberalen Spätkapitalismus progressiv klingen, wie jene von der pandemiefesten Risikogesellschaft, die eine bessere Daseinsvorsorge durch den Staat, eine Stärkung des Regionalen und eine Entschleunigung benötige. Es geht um viel Grundsätzlicheres. Je nach Alter und politischer Sozialisation trägt es unterschiedliche Namen: Verhältnis von Produktion und Reproduktion, die Mutter von Adam Smith, Haupt- und Nebenwiderspruch, patriarchale Hegemonie, Care-Revolution. Nennt es, wie ihr wollt, aber kapiert es endlich: Es geht weder um die Größe des Kuchenstücks, noch um die Frage, wem die Bäckerei gehört, sondern um den verdammten Bauplan für die Bäckerei. 

Die Baupläne, alle, sind unvollständig, und zwar schon viel zu lange. Deswegen fällt die Bäckerei regelmäßig in sich zusammen, aber jedes Mal wird sie nach dem alten, unvollständigen Bauplan wieder aufgebaut. Wieso machen Männer, die klug genug sind, um Cum-Ex Geschäfte zu verstehen, Akkumulationstheorien zu entwickeln und schwarze Löcher zu entdecken, dabei immer noch mit? 52 Jahre nachdem die Soziologiestudentin Sigrid Rüger den SDS Bundesvorstand Hans-Jürgen Krahl mit Tomaten bewarf? Und trotz all der Texte von Alexandra Kollontei, Rosa Luxemburg, Rosanna Rossanda, Frigga Haug, Silvia Federici, Nancy Fraser – um nur ein paar Feministinnen zu erwähnen, die offenbar immer noch nicht so selbstverständlich in den linken Kanon gehören wie Antonio Gramsci, Thomas Piketty oder Andreas Reckwitz. Oder wie Jana Hensel beobachtet hat, „all diese einflussreichen Männer suchen in der momentanen Krise  offenbar ausschließlich den Rat anderer Männer.“

Aquarell (c) Annette C. Eckert

OK, wer weiß, wann es die nächste Krise gibt, die all die feministischen Theorien aufs deutlichste bestätigt. Deshalb noch einmal ganz von vorne und so einfach formuliert, wie es jede Frau aus der alltäglichen Praxis kennt. Ach so, Frau meint hier übrigens alle, die eben genau für das, was jetzt beschrieben wird, zuständig sind: ob bezahlt oder unbezahlt, freiwillig oder gezwungener Maßen, und unabhängig von ihrer sexuellen Identität und auch dem biologischen Geschlecht.

Das Brot des Bäckers

Alle diese Differenzierungen sind auch wichtig, machen aber keinen Sinn, solange jemand den grundsätzlichen Fehler im Bauplan der Bäckerei nicht sehen kann oder will: Das Brot des Bäckers kann nicht produziert werden ohne die Haushalte der Produzenten. Ohne Dienstleistung keine Produktion, ohne Fürsorge kein menschliches Leben. Der grundsätzliche Fehler beginnt irgendwo da, wo Marx und Engels meinten, den zuvor herrschenden Idealismus vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Der Ansatz war so überfällig wie verdienstvoll, bloß die Füße waren eben nicht die Füße. In der historischen Situation durchaus verständlich, hatten die Herren, wie wohl alle ihre gesellschaftstheoretisch schreibenden und denkenden Zeitgenossen, das, was ihre Frauen, Mütter und Schwestern tagtäglich, werktags wie sonntags, ganz selbstverständlich taten, eher nicht für theoriewürdig befunden. Geschenkt. Aber von heute aus müssen wir feststellen, dass die vermeintlichen Füße  bestenfalls, des Bildes wegen, vielleicht so in Höhe des Gemächts sitzen.

Der Rest, seit damals schon, Frauen und Gedöns. Bloß, ohne das Gedöns läuft halt nix: Kein Essen, das nicht zubereitet werden muss, kein Wehwehchen, das nicht verpflastert und bemitleidet werden will, kein Proletarier, kein Kapitalist, die nicht eine bräuchten, die sich um all das kümmert. Muss hier jetzt wirklich nicht weiter ausgeführt werden, ist alles tausend Mal gesagt, geschrieben, geschrieen worden. Zuerst wurde noch mit irgendeiner „weiblichen Natur“ argumentiert, der das Gedöns sowieso eigen sei, weshalb es ihr eben auch nichts ausmache. Dann, gefühlt seit mindestens zwei Frauengenerationen (der meiner Mutter und meiner eigenen, aber wahrscheinlich eher seit drei bis fünf), unzählige Versuche, die vernachlässigte Kümmerei irgendwie als „Reproduktionsarbeit“ nachträglich in das ganze materialistische Gesellschaftskonstrukt einzupreisen.

So richtig funktioniert weder das Staats- noch das Marktmodell

Wohlgemerkt erst, nachdem Frauen ihrerseits ausreichend bewiesen hatten, dass sie das bisschen Fließband oder Büro auch hinkriegen, der Rest aber weiter ihre alleinige Zuständigkeit blieb. Also wird seit fünf Jahrzehnten versucht, aus diesen Kümmerer-Tätigkeiten Arbeit zu machen, die bezahlt wird, wenn auch schlecht. Je nach politischem Klima mal eher von „vom Staat“ – gefordert wurde Lohn für Hausarbeit, erreicht immerhin Erziehungsgeld – oder, das weit populärere Modell, „vom Markt“, der ja im globalisierten Neoliberalismus alles richten muss. Es folgte eine exponentielle Vermehrung der immer schon für Geld zu habenden Dienstleistungen: Von putzen, kochen, einkaufen, pampern, trösten, über Sex, Kinder austragen, Kinder erziehen ist alles auf einem globalisierten Markt zum günstigsten Tageskurs zu haben. Für alle, die dafür zahlen können. Die anderen müssen es sich weiter selbst besorgen. Doch so richtig funktioniert hat bisher weder das Staats-, noch das Markt-Modell. Kümmer-Tätigkeiten verweigern sich hartnäckig der Effizienz und Profit-Logik, mit der „die Wirtschaft“ längst auch den Rest der Gesellschaft infiziert hat.

Für solche einfachen Gedanken benötigen selbst kluge Männer offenbar ein große Krise wie die gegenwärtige. Frauen, also alle, die sich gegen Bezahlung oder aus anderen Gründen jemals um Kinder, Kranke, Alte oder andere einfach bedürftige Menschen gekümmert haben, wissen das längst. Deshalb ist es so unerträglich jetzt, in der Krise, von Staatshäuptern und anderen Machthabern mit großer Geste zu Verhaltensweisen aufgefordert zu werden, die uns sowieso selbstverständlich sind: Rücksichtnahme, Empathie, Akzeptanz von Schwäche, „dass es nicht immer nur schneller, höher, weiter geht“. Echt jetzt? Was meint ihr eigentlich, was wir seit Jahr und Tag und Ewigkeit tun, während ihr euch weiter einbildet, die Welt zu bewegen?

Foto: unbekannte Fotografin ca. 1950

Genauso unerträglich: Mit ansehen zu müssen, wie in der Krise das, was sonst als Gedöns gedisst wird, nun plötzlich zur Chefsache wird. Lass Vati mal machen. Einkauf ist jetzt Männersache. Jeder Supermarkt eine Kampfzone, jede Besorgung eine Kommandooperation. Egal ob Bioladen oder Discounter: Lauter 1-Mann-SoKos, jeder ein Spezialist für Navigation, Sicherheitsabstand und Logistik. Bewaffnet mit Einkaufslisten, Handschuhen, Gesichtsmasken. Lächeln, Blickkontakt, Zögern vor dem Joghurtregal? Geht jetzt gar nicht mehr. Volle Konzentration spiegelt sich in finsteren Minen: Mit dem Gesichtsausdruck, mit dem jetzt eine Dose Tomaten aus dem Regal gezogen wird, wurden noch vor kurzem Blindgänger entschärft.

Jede Menge konstruktive Vorschläge

Allerdings geht der „Man on a Mission“-Modus vor der zyklischen Natur dieser Tätigkeiten erwartbar schnell in die Knie. Bisher noch jedes Mal vor Ende der jeweiligen Krise. Denn ja, leider sind diese Tätigkeiten, ebenso notwendig wie doch auch anstrengend, langweilig, intellektuell weder stimulierend noch befriedigend. Wissen wir längst. Haben wir auch schon ausreichend beschrieben und analysiert. Weil Frauen, die nur meckern, ja noch nie sehr weit gekommen sind, haben wir auch jede Menge konstruktive Vorschläge gemacht.

Der für mich tragfähigste stammt von Frigga Haug, die als feministische Marxistin und marxistische Feministin, als Diplom-Soziologin, Doktorin der Psychologie und Professorin der Sozialpsychologie nun wirklich über genug Mehrfachqualifikationen für ein Frauenleben verfügt. Vor über zehn Jahren hat sie ein Buch mit dem Titel „Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke“ veröffentlicht. Dort widmet sie sich all dem, was in den Debatten um Kapital und Arbeit hinten runter gefallen ist. Dabei unterscheidet sie vier Hauptbereiche des Lebens: Erwerbsarbeit, Reproduktions- oder Sorgetätigkeit, Selbstentwicklung und politische Arbeit. In der Praxis sind die Übergänge selbstverständlich fließend, doch bei der Analyse hilft es, sie getrennt zu betrachten.

Statt einen problematischen Arbeitsbegriff bis zur Unkenntlichkeit auf immer mehr menschliche Tätigkeiten auszudehnen, werden diese in ihrer Verschiedenheit und mit ihren unterschiedlichen Zeitlogiken gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Gleichzeitig, so Frigga Haug in einem Text von 2015, könne aber in dieser Perspektive auch mit gesellschaftlicher Veränderung sofort begonnen werden. „Als Forderungen an Politik lässt sich zusammengenommen sprechen von Erwerbsarbeitszeitverkürzung, damit alle anderen Bereiche überhaupt besiedelt werden können; allgemeine Teilung der sozialen Reproduktionsarbeit, damit fürsorgender Umgang mit anderen Menschen selbstverständlich ist und nicht Spezialaufgabe einiger, deshalb untergeordneter Frauen; die eigene Entwicklung in die Hand nehmen, was Anstrengung und Genuss bedeutet, gegen die allgemeine Aufforderung, bloß zu konsumieren; und schließlich, die Gesellschaft zu gestalten, politisch sich zu betätigen. Gesellschaftlich verantwortlich fokussiert dieses Projekt auf Kämpfe um Zeit, die auf allen Ebenen sofort begonnen werden können. Vom Standpunkt der Perspektive ist es ein ethisches Projekt für alle.“

Zu härteren Bandagen greifen

Das, meine Herren, wäre ein Bauplan für eine Bäckerei, die nicht bei jeder Krise zusammenkracht und bei der dann immer wieder die gleichen ran müssen als Trümmerfrauen des Systems. Um diesen Plan durchzusetzen, werden wir allerdings, so lehrt es die Geschichte aller bisher überstandenen Krisen, zu härteren Bandagen greifen müssen. Für den Anfang könnten wir eine Idee aufgreifen, die Gertraud Klemm in ihrem gerade erschienen Roman „Hippocampus“ entwickelt. Nämlich die Säcke voller gebrauchter Inkontinenz-Windeln, die  in einem kleinen österreichischen Dorf monatlich von der Müllabfuhr eingesammelt werden, als Readymades zu betrachten. „Das Altern und Sterben müsste viel mehr im Weg herumstehen. Man müsste die Alten mit ihren Rollatoren Gehsteige blockieren lassen, sie in den feinen Restaurants füttern, man müsste sie in die Vorstandsetagen schieben und mit ihnen Aufzüge von Finanz- und Versicherungstürmen verstopfen. Alle müssten viel öfter an ihren eigenen Tod erinnert werden. Dann würde es weniger Größenwahn geben. Man müsste so etwas wie Windelsäcke auf Plätzen anhäufen, vor das Parlament karren, vor Schulen und Universitäten.“

Alternativ vielleicht ein Generalstreik aller, die sich sonst kümmern. Nein, nicht irgendwann in der nächsten Tarifrunde, wo die Männergewerkschaften sich sowieso nicht trauen, sondern jetzt, mitten in der Krise. Weil nur dann ausnahmsweise mal auch dem letzten klar ist, dass es beim Kümmern um Leben und Tod geht. Weil vielleicht nur jetzt auch der letzte diesen Satz versteht: „Von allen menschlichen Eigenschaften ist Zerbrechlichkeit – welche niemals abwesend ist – die kostbarste“. Der stammt von John Berger. Nur um zu zeigen, dass ich keine Berührungsängste habe. Ich lese auch Bücher von Männern. Ich mag Männer. Einige meiner besten Freunde sind Männer.

Illustration (c) Sigrun Matthiesen

Zum Weiterlesen:

  • Cinzia Arruzza, Tithi Bhattarcharya und Nancy Fraser (2019): Feminismus für die 99 Prozent
  • John Berger (2006): Hier wo wir uns begegnen
  • Silvia Federici (2015): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution.
  • Frigga Haug (2008): Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke
  • Gisela Notz (2018): Warum flog die Tomate? Die autonome Frauenbewegung der Siebzigerjahre. Überarbeitete und erweiterte Auflage.
  • Gertraud Klemm (2019): Hippocampus
  • Rossana Rossanda (1994) Auch für mich. Aufsätze zu Politik und Kultur
Sigrun Matthiesen
Sigrun Matthiesen ist freie Journalistin in Berlin und beschäftigt sich häufig mit gesellschaftspolitischen Themen. Sie arbeitet unter anderem als Redakteurin für die Monatszeitung „OXI – Wirtschaft anders denken“ und betreibt die Textagentur "Worte und Geschichten”.

1 Kommentar

  1. Das ist ein sehr guter Gedanke: es geht nicht (nur) um den Anteil am Kuchen, auch nicht (nur) ums Rezept zum Kuchen, es geht um die Konditorei!

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