Wie unterschiedlich social distancing ausgelegt werden kann, läßt sich allerorten beobachten. Besonders deutlich wird der Widerspruch zwischen der angeordneten Distanzierung und der sozialen Wirklichkeit in den Unterkünften für Geflüchtete. Nicht nur an den EU Außengrenze, wo Menschen beispielsweise in Griechenland und Rumänien seit Monaten unter Bedingungen zusammengepfercht werden, die inhuman sind – ohne oder mit Pandemie. Auch in den Aufnahmeeinrichtungen, in denen Geflüchtete in Deutschland untergebracht werden, lassen sich die empfohlenen Abstandsregeln nicht einhalten. Im sächsischen Schneeberg haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner vor einer Woche mit einem offenen Brief an die Betreiber gegen diese Zustände zur Wehr gesetzt. Das in englisch verfasste Original findet sich auf der Website des Sächsischen Flüchtlingsrates. Wir haben den Brief übersetzt und dokumentieren ihn mit einigen sprachlichen Anpassungen.
Pressestelle der sächsischen Landesdirektion auf Nachfrage:
Die Pressestelle der für die Unterkunft zuständigen sächsischen Landesdirektion hält die Beschwerde der Geflüchteten allerdings für grundlos, da jede Bewohnerin und jeder Bewohner vor Bezug der Unterkunft auf Corona getestet worden sei. Eine Antwort, die (mich) sprachlos macht: Während die ganze Republik über die fragwürdige Zuverlässigkeit von Testergebnissen diskutiert, die mögliche positive Diskriminierung durch Immunitätsausweise und die Frage, ob zwei Meter Abstand ausreichen, damit sich fünf Menschen im Freien treffen können, ist es bei Geflüchteten offenbar kein Problem, sie weiterhin in überfüllten Sammelunterkünften zu halten. Immerhin: die Verwaltungsgerichte in Sachsen haben nun schon zum vierten Mal einer Klage stattgegeben, wonach die gemeinschaftlich genutzten Sanitäranlagen ein Infektionsrisiko darstellen, und der Kläger deshalb zum Verlassen der Aufnahmeeinrichtung berechtigt ist. Der Brief der Geflüchteten in deutscher Übersetung:
An die Leitung der Unterkunft
Sehr geehrter Herr,
mit allem gebührenden Respekt möchten wir, die Geflüchteten in Schneeberg, unsere Empfindungen und unser Leid in vielen Bereichen zum Ausdruck bringen, von denen wir einige hier benennen:
1) Essen und Kantine:
Die Qualität und Menge des Essens sind sehr schlecht. Fast jede Mahlzeit besteht nur aus Brot, ohne Gemüse oder Obst und die Portionen pro Person reichen nicht aus. Die Regeln in Deutschland schreiben Restaurants einen Mindestabstand von zwei Metern zwischen Personen vor. Doch hier in Schneeberg lässt sich das nicht einhalten, weil der Speisesaal viel zu klein ist für die große Zahl von Menschen hier.
Die Essenszeiten machen keinerlei Sinn: Wie sollen innerhalb einer Stunde über 500 Menschen gleichzeitig hier essen?
2) Toiletten und Duschräume:
Auf jeder Etage gibt es sechs Toiletten und sechs Duschräume für über 80 Menschen. Keine der Duschen ermöglicht eine Privatsphäre. Es gibt keine Duschvorhänge und in den Toiletten fehlen Papierkörbe und jegliche Hygiene-Materialien, selbst in dieser schwierigen Corona-Zeit.
3) Uns allen ist bewusst:
Uns allen ist bewusst, dass die Bedingungen für Menschen hier in Schneeberg extrem schlecht sind. Wir brauchen Möglichkeiten, uns zu beschäftigen, zumindest innerhalb der Unterkunft. Die Leute wollen etwas lernen und online-Deutschkurse machen statt hier nur ihre Zeit zu verschwenden. Dadurch entstehen Stress und Depressionen, die unerwartete Folgen haben können: Viele, die bei ihrer Ankunft gesund waren, leiden jetzt an psychischen und physischen Problemen.
4) Bewegungsfreiheit:
Wir alle unterstehen der deutschen Gesetzgebung und verstehen, dass es aktuell eine schwierige Zeit ist. Aber viele von uns leiden nun schon sechs bis zwölf Monate unter den Bedingungen hier. Alles was wir wollen, ist eine Chance, unser Leben frei und sicher zu gestalten. Wir bitten Sie, Kontakt mit den zuständigen Stellen aufzunehmen, damit diese unsere Situation begreifen und die entsprechenden Verfahren beschleunigen. Dafür wären wir Ihnen sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Geflüchtete aus Schneeberg
29.04.2020
Übersetzung Sigrun Matthiesen, für bessere Verständlichkeit redigiert; der Originalbrief sowie weitere Informationen sind hier zu finden.
Buchstücke 1
„Kröger meinte, dass es in Deutschland zwei Sorten arme Schweine gebe, die ihr Leben in Containern fristen müssten. Da waren die Flüchtlinge, die zur Untätigkeit verdammt waren. Und da waren die Heerscharen osteuropäischer Bauarbeiter, die sich krumm schufteten und im Zweifel nicht einmal bezahlt wurden.“
Henrik Siebold, Inspektor Takeda und der lächelnde Mörder. Berlin: Aufbau Verlag, 2018, S. 345f.