Marketing ist ein Gespräch, kein Monolog der Anbieter

Krankenhäuser, die wie Industriebetriebe nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführt werden, stehen in der Kritik. Doch was ist eigentlich schlecht an Industrie und Betriebswirtschaftslehre außer den gängigen Vorurteilen gegenüber der Wirtschaft? Ein zeitgemäßes Marketingverständnis verfolgt das, was Medizin und Politik auch propagieren – der Mensch, nicht das Wirtschaftsgut, steht im Mittelpunkt. Allerdings fördert die Rolle der Medizin, so wie sie in der Coronakrise dargestellt wird, auch die Vorstellung, es gäbe für jede Krankheit eine richtige Behandlung, Medikation bzw. Geräte, die die Gesundheit wie in einer Autowerkstatt wiederherstellen könnten: vorfahren, wegfahren, glücklich sein.

Das Problem der Corona-Krise wird vor allem als Ressourcenmangel erzählt: Patienten sterben, weil es nicht genügend Kapazität für alle gibt. Als Schlüsselressource wurden Beatmungsmaschinen in der Intensivmedizin identifiziert. Die von der Politik und einigen Medizinern popularisierte Strategie mit dem zugehörigen Hashtag #flattenthecurve hatte vor allem das Ziel, diese Ressourcen der Intensivmedizin verfügbar zu halten für einen zukünftigen ungeahnten Nachfrageschub. Dahinter steckt diese für das Gesundheitssystem nicht unproblematische Unterstellung, hinreichend ausgestattet sei es allem gewachsen.

Probleme profitorientierten Wirtschaftens

Der Glaube an die Machbarkeit des Menschen durch Technologie ist dabei allzu oft unerschütterlich. Abgesehen von dieser ungesunden Haltung ist die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems grundsätzlich zu hinterfragen. Am Beispiel der gegenwärtigen Krise lassen sich aber auch ganz basale Probleme profitorientierten Wirtschaftens beobachten. Just-in-time-Beschaffung ohne Vorratshaltung mag für die Industrie das probate kostenminimierende Mittel sein. Für Krankenhäuser und Pflegeheime kann es hingegen tödlich sein, wenn Schutzausrüstungen im Fall hochansteckender Erreger fehlen. Medizin, die Wissenschaft der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen, ist inzwischen ein hoch ausdifferenziertes System mit hochspezialisierten Fachdisziplinen. Dabei den Überblick zu behalten, ist sogar für Insiderinnen eine Herausforderung.

Bild: Gerd Altmann auf Pixabay

Der Marketing-Professor Theodore Levitt hat 1960 in einem legendären Aufsatz die Kurzsichtigkeit von Industrieunternehmen kritisiert, die sich nicht für die Probleme ihrer Kunden interessieren, sondern nur für ihre eigenen Fähigkeiten und die daraus erwachsenden Angebote. Mit einer solchen Grundhaltung wird Marketing zur Überredungsstrategie. Dabei war das große Versprechen des Marketings ja Marktorientierung, damit Unternehmen nicht weiter an den Bedürfnissen der Kunden vorbei entwickeln und produzieren. Eine erste Erkenntnis der Marketerinnen war, dass nicht alle Menschen gleich sind und Märkte daher nach homogenen Bevölkerungsgruppen segmentiert werden.

Nicht nur auf Krankenhäuser und Altenheime angewendet, hätte auch im Fall der Corona-Krise die rechtzeitige Segmentierung zwischen Kranken und Gesunden, Gefährdeten und weniger Gefährdeten dazu beigetragen, Leben zu retten. Beatmungsgeräte als Patentrezept zur Behandlung in der Corona-Krise zu propagieren, erscheint kurzsichtig aus zwei Gründen. Erstens legt man damit einen sehr engen Entscheidungskorridor fest. Atemgeräte können nur beatmen und sind eine riskante Technologiefixierung. Aus dem Blick geraten dabei alternative Möglichkeiten der Behandlung. Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht bekanntlich in jedem Problem einen Nagel.

Verbrauch wird zur Kunst des Gebrauchs

Das Problem beginnt bereits bei der Problembeschreibung. Kurzsichtig ist die Fokussierung auf Beatmungsgeräte vor allem, weil ihr Einsatz häufig am Problem der Patienten vorbei geht. Die Ertragsvorteile in der Abrechnung mögen wirtschaftlich vorteilhaft sein, weil ihr Einsatz in der Intensivmedizin höher abgerechnet werden kann. Für die Patientenversorgung sind sie aber, wie sich zunehmend herausstellt, eine Milchmädchenrechnung. Zweifel an dem Nutzen massenhaft eingesetzter Atemgeräte kommen nicht nur aus den Bereichen Pneumologie und Palliativmedizin. Letztere argumentiert mit Recht medizinethisch und plädiert dafür, endlich den Willen der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht also das Patientenproblem und nicht die Frage der Technologie. Genau das ist auch das Versprechen des modernen Marketings, das seine Schlüsse aus Gesprächen und Kontakten in den Märkten zieht und die Probleme der Kundinnen und Kunden ernst nimmt. „Märkte sind Gespräche“ hieß es schon 1999 in der ersten der 95 Thesen des „Clue Train Manifesto“. Gespräch heißt nicht, die einen reden, die anderen hören zu.

Genau hier liegt der eigentliche Clou: Theoretiker des Gegenentwurfs zum Mainstream der Marketingwissenschaften ist der französische Denker und Jesuit Michel de Certeau. Seine Kunst des Handelns meint die Aktivität von Verbrauchern, die angeblich zu Passivität und Anpassung verurteilt sind. Das dazugehörige Schlagwort „Détournement“ stammt aus der Kunstbewegung der Situationisten. Détournement bedeutet im übertragenen Sinne Zweckentfremdung der vorgegebenen Bedingungen und Artefakte. Der Mensch wird zum Taktiker des Konsums. Verbrauch wird zur Kunst des Gebrauchs von Produkten.

Doch was hat das mit der Corona-Krise zu tun? Atemmasken und andere Hygieneausstattungen sind essentiell und vielfältig einsetzbar. Schutzmasken sind das probate Mittel, um das öffentliche Leben zu erhalten. Angefangen von der Herstellung bis zur Verwendung bieten sie innovative Potentiale der Aneignung und des Umfunktionierens. Beispiel für die Nutzung dieses Repertoires ist die Community-Maske. Die Begriffe Open Innovation, Open Source und Crowdsourcing sind längst nicht mehr nur Schlagwörter für die Vorstellungen von kreativem Unternehmertum.

Warum sind Entscheiderinnen in Politik und Gesellschaft trotzdem so zurückhaltend beim flächendeckenden Einsatz von Schutzmasken und anderen Hygienemitteln? Die Antwort ist naheliegend menschlich. Wer keine Eier hat, um den Kindern die gewünschten Pfannkuchen zu kredenzen, redet sich damit heraus, dass zu viele Eier nicht gesund sind. Die Gründe, warum keine Masken im Haus sind, sollten aber niemanden davon abhalten, selbst aktiv zu werden.

Literatur

Levitt, Theodore (1960). Marketing Myopia. In: Harvard Business Review, Vol. 38, July/August, S. 45-56.

De Certeau (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve [Im Original erschienen: L’ínvention du quotidien. Paris: Arts de faire 1980]

Geschrieben in Koautorenschaft mit meinem Freund und Kollegen Robert Caspar Müller

Dr. Robert Caspar Müller ist Geschäftsführer des Instituts für Auftragskommunikation in Berlin. Er forscht und unterrichtet an der UdK Berlin im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und hat einen Lehrauftrag an der htw Berlin für Wirtschafts-kommunikation.

Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

2 Kommentare

  1. Was ist zeitgemäßes Marketing?

    „Zeitgemäßes Marketing“ soll den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Soll es das oder tut es das? Es tut dies nicht in einem „humanistischen“ Sinne – wenn Humanismus nach gängiger Deutung eben den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es tut genau das aber mit Mitteln von Digitalisierung, Interaktion via Social Media, weichen Übergangen zwischen automatisierter (KI) und personalisierter Kunden-Beratung. Es geht um die (unauffällige) Instrumentalisierung von Beziehung. (Was aus einer kritischen Perspektive als „Dehumanisierung“ bezeichnet werden kann. Was der Marketingbetrieb aber als Ausdifferenzierung des eigenen Methodenarsenals betrachtet.)

    Conclusio: Es soll ein „zeitgemäßes Marketing“ geben, das ein humanistischeres Marketing wäre, als das faktisch sich als zeitgemäß verstehende Marketing. (Im „Zeitgemäßen“ ist also eine Doppeldeutigkeit versteckt, die als Rhetorik auffallen kann, wenn sie auffällt.)

    Zitat aus den Statements des faktisch zeitgemäßen Marketings:
    „Der Kunde wird in den Marketingprozess mit eingebunden, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen und seine Kaufabsicht zu beeinflussen. Dadurch entwickelt sich eine Beziehung zwischen dem Kunden und der Marke des Unternehmens. Ebenfalls neu im Marketing 4.0 ist die Abschaffung des klassischen Sender-Empfänger-Modells, da die Kunden im Internet dem Unternehmen direktes Feedback geben.“
    https://www.marketinginstitut.biz/blog/marketing-4-0/

    Das ist als Perspektive nicht neu. Sogenanntes „Interfusionsmarketing“ ist seit den 1990er-Jahren Thema. Vor allem seit einer beschleunigten Ausdifferenzierung von jüngeren Milieus. Statt diese zu beobachten und in der Folge zu manipulieren, sollten sie infiltriert werden. Dazu wurden Szene-Scouts erfunden; die heutigen Influencer sind hybride Nachfahren dieser ersten Generation subversiver Marketing-Agenten.

    Marketer haben also schon lange gelernt, dass Marketing ein Gespräch und kein Monolog ist. Dies Marketing ist aber nur Teil eines Marketing-Mix, der auch weiterhin (fast) alle klassischen Formen beinhaltet (monologische TV-Werbung oder YouTube-Spots beispielsweise). Es wollen eben nicht alle mit Unternehmen reden; manche sind von den ganzen Gesprächsangeboten schon genervt. Effektiver ist es da zur Zeit noch, gefälschte Kundenrezensionen auf Online-Portalen in Auftrag zu geben, so lange deren kommunikative Glaubwürdigkeit noch erhalten ist.

    Natürlich ist die Grundidee älter: Theodore Levitt hat in „Marketing Myopia“ 1960 in der Tat eine Wende gefordert. Es war die Zeit, in der in den USA deutlich wurde, dass man von Nachfrage-Marketing (Kunden wollten Autos) zum Angebots-Marketing übergehen musste (es gab mehr Autos, als die Kunden nachfragten). Das Marketing erfand sich damals neu. Und es hat sich seitdem auf dieser Basis weiterentwickelt. Zwangsläufig, denn wir leben im Westen immer noch und verschärft auf Angebotsmärkten. Kommunikation auf simulierter „Augenhöhe“ wurde dabei perfektioniert (natürlich nicht im Sinne eines dialogischen Humanismus, von dem auch die Cluetrain-Manifest-Verfasser inspiriert waren).

  2. Was ist vom Cluetrain-Manifest geblieben?

    Das erste Cluetrain-Manifest erschien 1999, zum Höhepunkt des Dot-Com-Booms (dem gleich danach der Crash beschert wurde). Es war eine jener Mixturen aus Technik-Euphorie und kalifornischem Hippie-Emanzipationismus, wie sie alle Jahre wieder seit den 1960ern in den USA entstanden. (Kurz zuvor, 1996, sollte beispielsweise eine Revolution des emanzipierten Publizierens per selbst gebrannter CD-Rom stattfinden, mit der die „Macht der Märkte“ ausgehebelt sein sollte. Rückblickend eher amüsant in seiner technik-euphorischen Naivität.

    Liest man aus historischer Distanz das Manifest, wirkt es wie eine Mischung aus Walt Whitman und Extrakten der frühen Beatnik-Literatur. Wenn die Tonalität heute wieder Gültigkeit haben soll, dann würde ich das technikgläubigen Retro-Romantizismus oder schlicht Esoterik nennen (Da aber bei engagierten Kreisen immer noch Indianer-Reden genutzt werden, um vermeintliche Weisheit als Theorie-Ersatz zu kolportieren, sollte das nicht erstaunen.)

    „Der Himmel ist übersät mit Sternen. Wolken ziehen über uns am Tag und in der Nacht. Ozeane senken und heben sich. Was immer ihr gehört habt, dies ist unsere Welt, der Platz, an dem wir leben. Was immer man Euch erzählt hat, unsere Freiheit kann man uns nicht nehmen. Unser Herz hört nicht auf zu schlagen. Menschen der Erde, erinnert euch.“ (aus dem 1. Cluetrain-Manifest)

    Neugierige mögen nachlesen: https://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html
    Nun gibt es ein zweites Manifest (https://cluetrain.com/newclues/), das 2015 von einem bereits ehedem Beteiligten (nach Absprache mit den alten Kumpels) publiziert wurde.
    (Die meisten Links sind mittlerweile verwaist; die Website mit der deutschen Übersetzung gibt es nicht mehr.)

    Der appellativ-beschwörende Ton ist in dieser zweiten Auflage nochmals verschärft. Es trieft von techno-romantizistischen Hoffnungen auf Emanzipation durch ein „freies Internet“. Und es wettert gegen „Kommerzialisierung und Entfremdung“.

    Der Schlusssatz des Intro: „We, the People of the Internet, need to remember the glory of its revelation so that we reclaim it now in the name of what it truly is.“ („Wir, die Menschen des Internets, müssen uns an die Herrlichkeit seiner Offenbarung erinnern, damit wir sie jetzt im Namen dessen zurückfordern, was es wirklich ist.“) Eine Zwischenüberschrift: „But oh how we have strayed, sisters and brothers…“ („Aber oh, wie haben wir uns verirrt, Schwestern und Brüder…“) Hier spricht ein Sektenführer, ein religiöser Eiferer, ein Guru, der seinen Jüngern predigt.

    Der Hauptautor, Doc Searls, hatte damals der Süddeutschen Zeitung ein Interview gegeben.
    (https://www.sueddeutsche.de/digital/internet-denker-doc-searls-im-netz-sind-wir-nackt-und-firmen-nutzen-das-aus-1.2298409-0#seite-2)
    Das Interview offenbart eine komplette Fehlinterpretation der Entwicklung des Internet. So wird gegen die damals sich auf Smartphones ausbreitenden Apps gewettert, die Nutzer isolieren sollen, weil sie ohne Links zur Netzwelt auskommen. Dabei haben gerade die Kommunikations-Apps den größten Boom wegen ihrer Sharing- und Link-Optionen erlebt. Artikel, Blogs, Posts in sozialen Medien nutzen Links im Übermaß. Gerade Twitter oder Facebook funktionieren überhaupt nicht ohne Verlinkung. Der Link sollte aber nach des Docs Glaubenssätzen eine Art Übergang ins Transzendente der Kommunikation aller mit allen sein. Das kann man glauben, aber nicht verifizieren.

    Man könnte den Text filigran demontieren und fände heraus, dass hier ein an seinen alten Utopien Verzweifelter seine enttäuschten Hoffnungen nochmals ausbreitet, um Solidaritäts-Applaus der versprengten Community einzuheimsen. Eine beiläufige Referenz auf die verbliebene und verblichene Rest-Aura dieser Manifeste muss bei Skeptikern eine hohe Verdachtsbereitschaft wachrufen. Gut, dass diese in einer Minderheit sind …

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