Als die IG Metall das Auto noch nicht liebte

Die Frankfurter IG Metall-Zentrale. Foto: Bruno /Germany auf Pixabay

VW, Daimler, BMW und ihresgleichen haben bisher vom Steuerzahler fast alles erhalten, standen sie doch für d i e Leitbranche der deutschen Wirtschaft. Der IG Metall, Deutschlands größter Gewerkschaft, kam das gelegen. Die Konzerne konnten es sich sogar erlauben, jahrelang technisch-innovatorisch nicht vorne, lediglich im Betrügen Spitze zu sein — das ist jetzt beendet. Im Kampf um eine neuerliche generelle Kaufprämie, faktisch: Abwrackprämie, haben sie jüngst eine Niederlage erlitten, die sie als historisch empfinden müssen. Dass dieser Abstieg — gestern noch Leitbranche, heute eine unter anderen — gravierende Folgen haben wird, auch für die Arbeitsplätze, ist klar; vor allem in Anbetracht erheblicher Überkapazitäten. Was tun? Wollten sie das Beste für die Arbeitsplätze und sich geplant (nicht zufällig, chaotisch) in eine gute Zukunft retten, würden sie spätestens jetzt alles daran setzen, ihre Auto- zu einer Mobilitätsindustrie umzubauen. Aber was tun sie stattdessen? Konzerne und Gewerkschaft rennen weiter Schulter an Schulter in ihre Sackgasse der individuellen Mobilität hinein. Tragisch ist diese Mut- und Ideenlosigkeit vor allem für die IG Metall. Denn die war in den 1990er Jahren unter ihrem legendären Vorsitzenden Franz Steinkühler schon einmal viel weiter.

Keine Frage: Das privat genutzte Auto ist ein Segen — für Wildhüter, Landwirte, Handwerker und für viele Menschen, die im mobilen Abseits auf dem Land leben. Aber: In Deutschland und anderen industrialisierten Gesellschaften lebt die überwältigende Mehrheit in Großstädten und Metropolregionen; die inzwischen mit privat genutzten Autos bis zum Stopp and Go zugemüllt werden.

Christian Freese, seit 2015 Deutschland-Chef von Uber, dem sogenannten US-Fahrdienstleister, legte diesen Mobilitätsschwachsinn schon vor Jahren in einem Satz offen: „In Berlin gibt es 1,3 Millionen Autos, die meistens nur herumstehen.“ Und mit einem weiteren Satz beschrieb er die ebenso naheliegende wie machbare Alternative: „Mit Robocabs [autonom fahrenden Taxen] brauchte man nur 100 000 Autos.“ Beispielsweise mit den bereits einsatzfähigen digitalen 12-Sitzer-Kleinbus Olli.

Die Auto-Manager können jedoch über die Kühlerhaube hinaus nicht denken. Warum nicht? Weil sie nur mit der individuellen Mobilität — auf deutsch: Einer oder eine sitzt in einer tonnenschweren Kiste, nimmt viel Platz weg, beeinträchtigt Leben und Gesundheit Dritter — so hohe Gewinne machen können.

So argumentierte der gerade teil-entmachtete VW-Vorstandsvorsitzende Herbert Diess in einem Streitgespräch mit dem Grünen Cem Özdemir Anfang Mai: „In erster Linie ist Deutschland ein Autoland, 10 bis 15 Prozent aller Arbeitsplätze hängen daran.“ Und Ola Källenius, Vorstandsvorsitzender von Daimler, schreibt in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Bei Mercedes-Benz ist individuelle Mobilität der Sinn unserer Arbeit und das Vermächtnis unserer Gründerväter.“ Das bereits erschöpfte Pferd soll — auf Kosten von Natur, Gesellschaft und allen Nicht-Autofahrern — auch noch zu Tode geritten werden.

50 Millionen Elektroautos— ist das die Verkehrswende?

Bild: Ryan Searle auf Unsplash

IG Metall und Auto-Konzerne verstehen im Doppelpack das unter Verkehrswende: Weil beispielsweise mit SUV-Verbrennern viel Geld verdient wird (und viele Arbeitsplätze erhalten werden), mit Elektroautos grundsätzlich deutlich weniger, deshalb wird das Auto umdefiniert: Aus einem Fortbewegungsmittel wird ein so genanntes selbstfahrendes Smartphone auf vier Rädern, quasi ein digitales Einkaufs-, Kommunikations- und Arbeitszentrum — Mails diktieren, Musikhören mit besten Lautsprechern, recherchieren, vorlesen lassen, skypen …. .

Eine Uralt-Technik wird digital aufgemotzt, um die bisherigen Gewinne trotz Elektroantrieb halten zu können. Das Ergebnis: Statt 50 Millionen Verbrenner-Autos sollen in Deutschland künftig eben 50 Millionen Elektroautos herumfahren; ein neuer Antrieb, der übrigens ökologisch wegen der Batterie und ihrer Herstellung nicht viel weniger bedenklich ist als der Verbrennungsmotor, müssen doch in hohem Maße Kupfer, Aluminium, Zinn, Wolfram, Titan, Lithium und seltene Erden eingesetzt werden.

Eines der langweiligsten Produkte dieser Welt – vier Räder, zwei Achsen, ein Aufenthaltsgefäß für Insassen, ein Motor – soll in die Endlos-Verlängerung gehen. Vor allem, weil die Auto-Industrie (750.000 Beschäftigte, 360 Milliarden Euro Umsatz) offiziell als höchst innovativ und als Fundament der deutschen Exportstrategie gilt. Dabei tut sie nichts anderes, als den Weg in eine vernünftigere Zukunft zu verbauen: Sie will ihr überholtes Geschäftsmodell retten und blockiert deshalb neue Formen der Mobilität.

Wie absurd die eben dargestellte Produktpolitik ist, zeigen einfache Überlegungen. Die Autobauer preisen den Komfort ihrer künftigen autonomen hochdigitalisierten Elektroautos so: Die fahren selbst, finden selbst ihre Parkplätze, schlagen Ausweichrouten vor bei Staus. Es gebe weniger Unfälle. Es gebe weniger Staus, weil der Computer die Routen effizienter auswähle, es gebe deshalb weniger Abgase. Diese Autos seien so gebaut, dass der Fahrgast während der Fahrt bequem arbeiten, lesen oder Filme schauen könne. Mit einem gigantischen Aufwand an Geld, Ressourcen und Kompetenzen soll also ein ‘Luxus’ geboten werden, den moderne Züge, Trams, S- und U-Bahnen bereits heute bieten.

Also, eine Verkehrswende sieht anders aus. Natürlich spielen auch künftig Busse, Kleinbusse und Großraum-Autos eine Rolle: für den kleinräumigen Verkehr, für den Verkehr in ländlichen Regionen. Effizient gesteuert mit allen Möglichkeiten, welche die Digitalisierung bietet. Ich bestelle ein Auto für heute, 14.30 Uhr, erhalte kurz danach Bescheid, wann es genau kommt und wann ich meinen Zielort erreiche; das wird dann ein Kleinbus sein oder ein Großtaxi, für das ständig die jeweils effizienteste Strecke berechnet wird. Die künftige Rolle des Autos: dienend und nicht herrschend, randständig und nicht zentral.

24 Millionen Autos reichen doch dicke

In den Autokonzernen arbeiten hochkompetente Ingenieure und Mobilitätsexperten, die es verdient haben, an Besserem zu arbeiten als an Betrügereien und protzig-primitiven schweren Kisten. Warum entwickeln sie nicht hochintelligente vernetzte öffentliche Nahverkehrssysteme — für Stuttgart, München, für die Metropol-Region Berlin, gerne auch Rio, Peking, Madrid, Rom und anderswo? Mit Rufbussen, Schnellbussystemen, Robocabs, mit dem 12-Sitzer-Kleinbus Olli oder mit eCitaro, einem vollelektrisch betriebenen Stadtbus. Der Ausbau des Bahnnetzes, das heute nur noch 33.400 Kilometer lang ist, gehörte selbstverständlich auch dazu; 1994 waren es noch 44.600 Kilometer.

Verkehrswende heißt also: Abschied vom motorisierten Individualverkehr. Es geht um den Rückbau von zig Straßen, Park- und Schrottplätzen, Parkhäusern, vor allem um die deutliche Verringerung der Zahl der Autos.
Eine Zahl: mindestens jedes zweite Auto kann weg, 24 Millionen reichen dicke. Wer das will, der braucht keine große, sondern eine deutlich kleinere Autoindustrie.
Die Folge: Die Auto-Industrie muss sich zur Mobilitäts-Branche umbauen, die künftig öffentliche Nah- und Fernverkehrssysteme produziert. Die Schlüsselbranche der deutschen Volkswirtschaft muss möglichst zügig so umstrukturiert werden, dass hunderttausende Autobauer gute Chancen auf neue Arbeit bekommen.

Die Revolutionäre der 90er Jahre

Bereits in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren arbeitete bei dem Auto-Konzern Daimler die sogenannte „Plakat-Gruppe“ um die Betriebsräte Willi Hoss, später Bundestagsabgeordneter der Grünen, und Dieter Marcello über den sozialökologischen Umbau der Autoindustrie. In einem Papier von Dieter Marcello hieß es damals: „Wenn wir nicht nur Arbeitsplätze fordern, sondern nach dem Sinn und Zweck dieser Arbeit fragen und die Beschäftigten in dieser Richtung Druck erzeugen, auch auf die IG Metall, können wir davon wegkommen, in den 90er Jahren Sozialpläne aufstellen zu müssen, und stattdessen alternative Produkte für ein alternatives Verkehrssystem bauen.“

Anfang der 1990er-Jahren, also ein gutes Jahrzehnt später, näherte sich sogar die IG Metall selbst unter ihrem visionären Vorsitzenden Franz Steinkühler solchen Überlegungen. Zusammen mit Umweltverbänden entwickelte sie offiziell das Programm „Auto, Umwelt und Verkehr. Umsteuern, bevor es zu spät ist“, das heute revolutionär klingt: von der gift- und schadstofffreien Produktion über das systematische Recycling, der Kooperation aller Verkehrsträger über den Ausbau des öffentlichen Verkehrs bis zur Änderung des Verbraucherverhaltens. Autokonzerne sollten sich zu Unternehmen entwickeln, die ganzheitliche Mobilitätssystem anbieten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, damals denkbar, heute eine Spinnerei.

Damals, Anfang 1990, referierte auch der Visionär und Automanager Daniel Goedevert (von 1981 bis 1989 Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford-Werke) auf IG Metall-Kongressen in Wolfsburg über „Ökologische Verkehrssysteme — eine Zukunftsaufgabe der Automobilindustrie“. Jedoch: Es reichte für Worte, nicht für Taten. Denn auch die IG Metall half mit, dass 1993 Ferdinand Piech — der mit dem „Benzin im Blut“ — Vorstandsvorsitzender von VW wurde, nicht Goedevert. Damals wurden in einer historischen Sekunde die Weichen falsch gestellt.

Obwohl es in diesen Jahren auch ein politisch freundliches Umfeld für eine andere Mobilität gab. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser schreibt in seiner Biografie über Hans Matthöfer — in den 1970er und 1980er Jahren Gewerkschafter, Sozialdemokrat, Forschungs- und Finanzminister in Kabinetten von Kanzler Helmut Schmidt —, er habe damals ständig an der Frage gearbeitet, wie eine Wirtschaft wachsen könne, „ohne die Umweltbelastung zu erhöhen“. Und als Forschungsminister machte er bereits Ende der 1970er Jahre der Autoindustrie das Angebot: Wenn sie ein umweltfreundliches Langzeitauto entwickelten, würde er die Entwicklungsarbeit mit zehn Milliarden Mark fördern. Aber die Auto-Manager wollten schon damals nicht.

In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung OXI blickt Franz Steinkühler auf diese Debatten von 1990 zurück: „Wir redeten damals bereits von der Elektromobilität, vom Brennstoffzellen-Auto. Und damals haben wir in Übereinstimmung mit dem Auto-Management davon geredet, dass nicht der Verkauf von Autos das Geschäftsmodell sein müsste, sondern die Bereitstellung von Fahrleistung. Es ging um elektromagnetische Schleifen auf den Autobahnen, damit die Autos fahrerlos ohne Stau von A nach B fahren können. Der Grundgedanke: Fahrleistung bereitzustellen, möglichst kreativ und ökologisch. Leider ist diese Diskussion wieder versandet.“
Und warum?
Steinkühler weiter: „Wir hatten aus der Gesellschaft damals keinen sehr großen Rückhalt bekommen. Es war eher eine Exotendiskussion. Und da die Branche mit dem Verkauf von Autos immer mehr Geld verdiente, wollten die gar nichts mehr ändern. Das war schade, denn es waren richtige Ansätze, wie man heute sieht.“

Als die Daimler-Betriebsräte um Willi Hoss mit ihren Denkarbeiten zur sozial-ökologischen Transformation der Autoindustrie begannen, waren in der damaligen Bundesrepublik zugelassen: knapp 14 Millionen Personenkraftwagen, gut eine Million Lastwagen (1970).

Als Franz Steinkühler und seine IG Metall mit Umweltverbänden an Visionen einer anderen Mobilitätspolitik arbeiteten, waren in dem wiedervereinigten Deutschland zugelassen: gut 30 Millionen PKW, etwa 1,4 Millionen Lastkraftwagen (1990).

Und seit Bernd Osterloh, IG Metaller und VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzender, in Lobbyarbeit für seinen Konzern aufgeht, sind in Deutschland zugelassen: fast 48 Millionen PKW, 3,3 Millionen Lastkraftwagen. Gratulation!

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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