Für den angelsächsischen Begriff des ‘public intellectual’ gibt es im Deutschen zwar eine unbeholfene Übersetzung, den ‘öffentlichen Intellektuellen’, aber keine wirkliche Entsprechung. Mit Ausnahme vielleicht von Jürgen Habermas und Hans-Magnus Enzensberger haben sich hier in den letzten Jahrzehnten denn auch kaum Gelehrte so in den öffentlichen Diskurs eingebracht, dass ihre Stimme im Land und über seine Grenzen hinaus Gewicht und Bedeutung hätte. Wenn wir von ‘public intellectuals’ sprechen, beziehen wir uns meist auf andere Sprach- und Kulturkreise: historisch zum Beispiel auf das rive gauche im Paris der 50er bis 70er Jahre. Oder eben auf den angelsächsischen Diskurs, der sprachbedingt einigermaßen mühelos Staaten wie die USA, Kanada und Großbritannien umfasst.
Der britische Historiker Tony Judt, der genau heute vor 10 Jahren an den Folgen der unheilbaren Krankheit ALS verstarb, wird immer wieder als Prototyp des ‘public intellectual’ gehandelt. In seinen letzten 15 Lebensjahren leitete er das von ihm gegründete Erich-Maria-Remarque-Institut für Europastudien an der New York University. Judts opus magnum, das 2005 erschienene Postwar (dt.: Geschichte Europas), ist eine breit angelegte Darstellung der europäischen Nachkriegsjahre im Schatten der Weltkriege, explizit motiviert durch den Perspektivwechsel, der sich aus dem Zerfall des Ostblocks ergab.
Zuvor hatte sich Judt intensiv vor allem mit der jüngeren französischen Geschichte beschäftigt. Sein Vater entstammte einer belgisch-jüdischen Familie, in der Familie wurde – neben Englisch – immer wieder auch französisch gesprochen. Judt, der sich in seinen Teenagerjahren als Marxist und Zionist verstanden, dann aber von beiden Bewegungen enttäuscht abgewandt hatte, war von den intellektuellen Diskursen im Paris der Nachkriegsjahre zugleich fasziniert und abgestoßen. In einem früheren Buch, Past Imperfect (1992) hat er sich kritisch mit der Rolle von Denkern wie Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty auseinandergesetzt, denen es trotz dramatischer und glaubwürdiger Berichte über die stalinistische Schreckensherrschaft nicht gelungen war, sich öffentlich von ihrem Flirt mit dem Kommunismus zu verabschieden. Aber Judt fand in Frankreich auch positive Persönlichkeiten, Albert Camus etwa, dessen Bild bis zu letzt auf seinem Schreibtisch stand, oder Raymond Aron.
In einer späteren Sammlung von Aufsätzen mit dem Titel Re-Appraisals (2008) (dt.: Das vergessene 20. Jahrhundert) schrieb er seine Auseinandersetzung mit den europäischen Intellektuellen der zweiten Jahrhunderthälfte fort, ergänzt diesmal um Persönlichkeiten auch aus anderen europäischen Ländern, wie die Polen Leszek Kolakowski oder Karol Wojtyla, oder den Briten Eric Hobsbawm, den er als Historiker-Kollegen einerseits schätzte und respektierte, aber ebenfalls für seine mangelnde Distanzierung vom Kommunismus schalt.
Die Themen Kollaboration und Verdrängung sind Leitmotive in Judts Denken. In seiner Nachkriegsgeschichte Postwar spielt die mindestens verspätete, aber meist auch völlig unzureichende Aufarbeitung der Schuld und Verantwortung in den Schreckensjahren der Nazi-Herrschaft eine zentrale Rolle. Wie Judt nachweist und betont, lagen diese eben nicht nur bei den deutschen Besatzern, sondern beruhten oftmals auch auf einer viel breiteren Bereitschaft, das Spiel dieser Besatzer mitzuspielen und im eigenen Sinn sogar voranzutreiben.
Nicht nur für den historischen Diskurs, sondern für die gesellschaftliche Selbstverständigung insgesamt fordert Judt die Bereitschaft ein, das Geschehen auch in moralischer Perspektive zu betrachten. Für die Frivolität verspielter intellektueller Distanz oder gar einen modischen Relativismus hatte er keine Geduld. “Let’s talk about the importance of being earnest”, ruft er in einem seiner letzten Vorträge den US-amerikanischen Professoren-KollegInnen zu.
Mit dem Motiv der Verantwortung wird Judts Arbeit an der Geschichte der Nachkriegsjahre zum Nachdenken über die historische Perspektive selbst. Was ist ihre Bedeutung? Aus Verdrängung und Vergessen kann nur Schaden entstehen. Das gilt nicht nur für negative Erfahrungen, wie Diktatur, Krieg, Shoah, Gulag. Es gilt genauso auch für positive Leistungen. In einem letzten großen Vortrag an seinem Institut, bereits am ganzen Körper gelähmt und und künstlich beatmet, blickt Tony Judt im Oktober 2009 zurück auf die Errungenschaften des Sozialstaats und einer an John Maynard Keynes orientierten Wirtschaftspolitik, die der westlichen Welt in den Nachkriegsjahren eine allzu oft vergessene Blütezeit bescherten. Er beklagt den danach einsetzenden Prozess einer Umdeutung und Verschleierung dieser Leistungen durch die Verfechter des enthemmten Kapitalismus in Finanzwelt, Wirtschaft, Politik und Theorie. Er fordert dazu auf, zu einer im besten Sinne sozial-demokratischen Politik zurückzukehren. Eine ausführlichere Fassung dieses Vortrags, die Judt unter Aufbringung seiner letzten Kräfte Familienmitgliedern, FreundInnen und AssistentInnen diktierte, erschien noch vor seinem Tod unter dem Titel Ill Fares The Land (2010) (dt.: Dem Land geht es schlecht).
Der Beitrag der HistorikerInnen und anderer WissenschaftlerInnen zum öffentlichen Diskurs kann also darin bestehen, gemachte Erfahrungen und gewonnenes Wissen am Leben zu halten und deren Anschlussfähigkeit nachzuweisen. Dazu reicht es aber nicht, wenn sie ihre Erkenntnisse nur im Kreise der KollegInnen herumreichen. Sie müssen die öffentliche Bühne betreten und Position beziehen. Für Tony Judt waren diese Bühne vor allem das New York Review of Books und andere Zeitschriften, wo er Dutzende von Artikeln zu verschiedensten Themen veröffentlichte. Viele dieser Beiträge beweisen seinen Mut zur Kontroverse: die europäische Einigung sah er zum Beispiel skeptisch, und seine scharfe Kritik an der israelischen Politik seit dem 6-Tage-Krieg im Jahr 1967 brachte ihm wütende Reaktionen der notorisch starken US-amerikanischen Israel-Lobby ein.
In einem weiteren sehenswerten öffentlichen Vortrag am Boston-College aus dem Jahr 2006, von dem es ebenfalls einen vollständigen Videomitschnitt auf YouTube gibt, liest er seinen amerikanischen akademischen KollegInnen die Leviten. In einer Zeit, in der es kaum noch Platz für Intellektuelle gibt – er kann sich einen Seitenhieb auf die bezahlten Gedankendienstleister in den Think Tanks nicht verkneifen – sind es vor allem die auf Lebenszeit eingestellten Professorinnen und Professoren, die die Freiheit, Unabhängigkeit und damit auch die Verantwortung haben, nicht nur gründlich und qualifiziert nachzudenken, sondern dies auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Es handelt sich dabei nicht primär um eine professionelle, sondern um eine staatsbürgerliche Verantwortung.
Man kann sagen, dass Tony Judt diese Einsicht und Forderung aus seiner historischen Forschung abgeleitet hat, ehe er sie sich vollständig zur eigenen Aufgabe machte. Darin sehe ich das eigentliche Vermächtnis dieser eindrucksvollen, nun seit 10 Jahren bitterlich vermissten Persönlichkeit.