Tödliches Terrain – eine akustische Erzählung

Der Schriftsteller Peter Weiss, 1916 in Babelsberg unweit des späteren KZ Sachsenhausen geboren, hat das Unfassbare geschildert:

„Dann, im Frühjahr 1945, sah ich den Endpunkt der Entwicklung, in der ich aufgewachsen war […] Dort vor uns, zwischen den Leichenbergen, kauerten die Gestalten der äußersten Erniedrigung, in ihren gestreiften Lumpen. Ihre Bewegungen waren unendlich langsam, sie schwankten umher, Knochenbündel, blind füreinander, in einem Schattenreich. Die Blicke dieser Augen in den skeletthaften Schädeln schienen nicht mehr zu fassen, dass die Tore geöffnet worden waren.“

Aus: Fluchtpunkt, ein autobiographischer Roman

Anlässlich des 75. Gedenkfeiertags der Befreiung des KZ Sachsenhausen entstand an und im Umfeld der Filmuniversität Babelsberg das fünfteilige Hörstück „Tödliches Terrain. Eine akustische Erzählung“. Kreatives Erinnern – gegen das Vergessen und gegen einen neuen Faschismus.

„Eine Gruppe von insgesamt 22 Medienschaffenden hat trotz Corona-Lockdown an der Realisierung des Erzählprojektes im Andenken an die Opfer und die Hinterbliebenen festgehalten: In einem rein digitalen Workflow, in dem sich das Team niemals live treffen konnte, wurde das Erzählprojekt realisiert. Eindrücklich steht die Gruppe der akustischen Erzähler und Erzählerinnen dafür, was Solidarität – nicht nur im Zeitalter des Corona-Virus – leisten kann: Gemeinsam erzählen für die Zukunft des Erinnerns“ sagt der Projektleiter Alfred Behrens, Träger mehrerer Hörspielpreise, über den Produktionsprozess.

Als Modell-, Schulungs- und Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe der Reichshauptstadt hatte das KZ Sachsenhausen eine besondere Stellung, die dadurch betont wurde, dass 1938 die „Inspektion der Konzentrationslager“ als zentrale Verwaltungsinstanz für alle  Lager im NS-Machtbereich von Berlin nach Oranienburg verlegt wurde.

„Im T-Gebäude“ erläutert Alfred Behrens, „finden unsere Kameras, unsere Mikrofone die Zentrale des KZ-Terrors. Hier haben die Schreibtischtäter alle Haftbedingungen bestimmt, die Zwangsarbeit koordiniert und den Massenmord organisiert“.

Künstlerische Erfahrung und experimentelle Offenheit

Eine enorme Recherche-Arbeit, materialreiche Perspektivenwechsel, eine medientechnische Höchstleistung, historisch bestens informierte und gesellschaftspolitisch aufgeklärte Zugriffe bilden die Grundlage der Hörstücke. Die Qualität kommt aus dem Zusammenwirken eines Teams, in dem Jahrzehnte lange künstlerische Erfahrungen und die experimentelle Offenheit der Studierenden sich wechselseitig anspornen.

„Geschichte ist unser Gegenstand, das Erzählen selbst ein Experiment“ sagt Behrens. „Mit welchen künstlerischen Methoden gestalten wir ‚Erinnernde Gegenwart’, wie erreichen wir wen und welche ästhetischen Strategien erweitern unseren Begriff von ‚Erinnerungskultur’? Im aktuellen Erzählprozess geht es um das Lebendig-Halten der Vergangenheit für die Zukunft.“

Den Texten der Studierenden sind die Erschütterungen der direkten Konfrontation mit dem tödlichen Terrain anzuhören. Naomi Achternbusch, Saskia Benter, Caroline Grau, Marlene Grau, Jessica Hölzl und Felix Römer bieten alle künstlerische Kraft und Kompetenz auf, um Distanz herzustellen, um ihr Erschrecken in darstellbare Formen zu zwingen. Der Intensität, mit der Resignation, Trauer, Zorn trotzdem durchbrechen, werden sich Hörerinnen und Hörer nicht entziehen können. Trotzdem weiß man in manchen Passagen nicht, was deutlicher spricht: der Text oder die Musik, die Felix Römer komponiert hat.

Die fünf Folgen, jede rund 15 Minuten lang, tragen diese Titel

  • Red Moon Blues in White Tiles
  • Widerständige Lebensläufe
  • Die Geometrie des Terrors
  • Die Garantie der Kapitalreproduktion
  • Block 51 – Glossolalie in der Baracke

Die Grundbotschaft aller Erinnerung an die rechtsextremistische Katastrophe heißt „Wehret den Anfängen“. Erich Kästner hat sie prägnant formuliert. Er wird in einem der fünf Hörstücke zitiert mit einem Auszug aus der Rede, die er beim PEN-Kongress 1958 im Gedenken an die Bücherverbrennungen 25 Jahre zuvor hielt:

„Die Ereignisse von 1933-1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. (…)
Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird.
Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist.
Man muß den rollenden Schneeball zertreten.
Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.
Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr.“

Leugnung statt Erinnerung

Es gibt einen bequemen Weg, der Erinnerung auszuweichen, nämlich zu leugnen, dass die fürchterlichen Ereignisse stattgefunden haben; oder sie zu einem „Vogelschiss“ der Geschichte herunterzureden wie Alexander Gaulandt, Ehrenvorsitzender der AfD. (Wenn die AfD einen Ehrenvorsitzenden hat, kann Trump auch als Gott der Wahrheit auftreten.)

Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten informiert auf ihrer Website über das KZ Sachsenhausen:

„Zwischen 1936 und 1945 waren im KZ Sachsenhausen mehr als 200.000 Menschen  inhaftiert. Unter ihnen befanden sich politische Gegner des NS-Regimes, Angehörige der von den Nationalsozialisten als rassisch oder biologisch minderwertig erklärten Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, als „Homosexuelle“ Verfolgte sowie sogenannte „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“. Waren die Häftlinge zunächst überwiegend deutsche Staatsbürger, wurden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zehntausende Menschen aus den besetzten Ländern in das KZ Sachsenhausen verschleppt, darunter politische Gegner des Nationalsozialismus bzw. der kollaborierenden Regierungen, ausländische Zwangsarbeiter sowie alliierte Kriegsgefangene. 1944 waren rund 90 Prozent der Häftlinge Ausländer, unter denen Bürger der Sowjetunion und Polen die größten Gruppen stellten. Unter den Häftlingen des KZ Sachsenhausen befanden sich auch rund 20.000 Frauen.“

Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 2. Oktober 2019:

AfD-Gast von Alice Weidel wegen Volksverhetzung vor Gericht
ORANIENBURG
Ein 69-Jähriger muss sich vor dem Amtsgericht Oranienburg wegen Volksverhetzung verantworten, weil er in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen die Existenz von Gaskammern geleugnet haben soll. Der Angeklagte hatte am 1o. Juli 2o18 die Gedenkstätte besucht, als Teilnehmer einer Reisegruppe aus dem Wahlkreis von Alice Weidel, der Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion. Er soll bei einer Diskussion geäußert haben, dass es im Zweiten Weltkrieg Gaskammern nur in den USA gegeben habe, teilte das Gericht mit.

Angefangen hat es längst, zu spät ist es noch nicht

Allerdings, und deshalb ist die akustische Erzählung „Tödliches Terrain“ um so wichtiger, geht es im Deutschland des Jahres 2020 schon länger nicht mehr darum, den Anfängen zu wehren. Dafür ist es zu spät. Wer meinen sollte, es habe noch gar nicht begonnen, muss sich fragen lassen, ab wie viel Drohungen gegen Leib und Leben, Gewalttaten und Morden es für ihn beginnt. Die Kriminalität des Rechtsextremismus der vergangenen zehn Jahre von der terroristische Vereinigung „NSU – Nationalsozialistischer Untergrund“ über die Sprengstoffanschläge der „Gruppe Freital“ bis zum Mord an Walter Lübke, dem Terror gegen die Synagoge in Halle an der Saale, den Morden im hessischen Hanau… Es ist trotzdem ganz und gar nicht zu spät, die Abschaffung der Demokratie und die Zerstörung des Rechtsstaates durch Rechtsextremisten aufzuhalten.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke