Man kann im Moment sehr gut studieren, was Glaubenssysteme sind, wie sie funktionieren und wie sie sich individuell und kollektiv in der Praxis auswirken. Dazu eine kleine Analyse im Kontext “Corona”, mit dem sich das Thema “Glaubenssysteme” gut illustrieren lässt.
Ab etwa Mitte/Ende April dieses Jahres hat es meiner Beobachtung nach keinen Sinn mehr gemacht, sich mit Andersdenkenden über die Coronafrage zu unterhalten. Im öffentlichen Diskurs hatten sich mehrere belief systems verfestigt, die jedes für sich spezifische Wahrnehmungsfilter etabliert hatten – Covid-19 ernstnehmen, Covid-19 zu einer Art harmlosen Grippe ohne Übersterblichkeit erklären, eine Verschwörung mächtiger Kreise dahinter vermuten …
Von da an waren inhaltliche Gespräche mit Andersdenkenden weitgehend sinnlos, da die unterschiedlichen Glaubenssysteme dazu geführt hatten, dass keinerlei Einigung mehr darüber zu erzielen war, was eigentlich die FAKTEN sind, auf deren Basis man seine Schlussfolgerungen zieht.
Die unterschiedlichen Glaubenssysteme waren also keineswegs ein Resultat dessen, dass irgendjemand unvernünftig und unlogisch dachte. Sie waren vielmehr eine Folge dessen, dass unterschiedliche Wahrnehmungsfilter dazu geführt hatten, dass vorhandene Informationen unterschiedlich getilgt, generalisiert und verzerrt und damit für den Einzelnen zu Fakten gemacht wurden (und weiterhin werden) – ein Vorgang, der in der Forschung auch unter der Bezeichnung “Bestätigungsfehler” bekannt ist.
Naiv, dumm, verrückt – sind die anderen
Gegen Einwände der anderen Seite hatten sich überdies standardmäßige Reaktionen herausgebildet, die das eigene belief system gegen eine Infragestellung immunisierten. Und da es für jede der Glaubensvarianten genügend Vertreter und Fachleute gab, durch die man sich bestätigt finden konnte, hielt man die anderen dann eben für naiv, dumm, verrückt oder gemeingefährlich.
Meiner Beobachtung zufolge spielten dabei eine Reihe spezifischer Faktoren eine Rolle, aus denen heraus man grob ableiten konnte, zu welchem Glaubenssystem der Einzelne tendierte:
1 Menschen, die ökonomisch kaum von der Pandemie betroffen waren, neigten dazu, Corona ernstzunehmen und die Maßnahmen gutzuheißen. Wer für sich selbst finanzielle Schwierigkeiten erwartete oder coronabedingt sonstige gravierende Herausforderungen in seinem Leben zu bewältigen hatte, neigte dazu, die staatlichen Maßnahmen für übertrieben zu halten und auf deren Abschaffung zu drängen.
2 Menschen, die sich selbst für gesundheitlich gefährdet hielten, nahmen Covid-19 und die Schutzmaßnahmen ernster als diejenigen, die sich für nicht gefährdet hielten. Dies zeigt sich inzwischen auch in einer Verlagerung der Infektionstätigkeit in jüngere Alterskohorten.
3 Introvertierte Menschen, die ohnehin viel zuhause und wenig unter Leuten sind, fühlten sich durch die Maßnahmen kaum eingeschränkt und neigten daher dazu, diese für richtig zu halten. Extrovertierte Menschen, deren Leben sich normalerweise viel außerhäuslich und in Gruppen abspielt, waren jedoch – einige nach einer anfänglich als positiv erlebten Phase – nach einigen Wochen total genervt und wollten, “dass das aufhört”. Hier habe ich des öfteren den Satz “Ich WILL das nicht mehr.” gehört. Das Coronavirus hörte das aber offenbar nicht oder es war ihm egal.
4 Menschen, die ein Grundvertrauen in die politischen Eliten haben oder diese weniger emotional wahrzunehmen pflegen und daher situativer und differenzierter hinschauen können, neigten dazu Covid-19 ernstzunehmen und die staatlichen Maßnahmen für vernünftig zu halten. Menschen, die ein eher emotionales Verhältnis zu politischen Fragen oder ein generalisiertes Misstrauen gegen “die da oben” oder gar generell Probleme mit Autoritäten haben, neigten eher dazu, Covid-19 für harmloser zu halten und den staatlichen Maßnahmen und den Medien eine verdeckte Agenda zuzuschreiben.
Landkarte und Gebiet
Insgesamt war mein Eindruck also, dass unter dem Strich der Grad der EMOTIONALEN Betroffenheit (erhöhter Arousal) eng mit der Herausbildung eines damit korrespondierenden Glaubenssystems korrelierte.
Für den Einzelfall im klinischen Bereich ist das im Neurolinquistischen Programmieren (NLP) schon lange klar. Der Einfluss emotionaler Erregung auf das kognitive Betriebssystem des Menschen lässt sich anschaulich beschreiben. [Anmerkung der Redaktion: Das lässt sich überprüfen am Beispiel von Wolfgang Walkers Vortrag “NLP und die Struktur emotionaler Prozesse“.]
Wozu dieser mentale Vorgang nun auf der kollektiven Skala führt und welche Folgen dies in der Realität hat, wird die nähere Zukunft zeigen. Denn letztlich entscheidet über die Fakten nicht die LANDKARTE (die mentale Repräsentation der Welt) sondern das GEBIET (die Welt selbst) – auf das jedoch die Landkarten rückkoppeln.