Skandal? Skandal!

Foto: Suicasmo | CC-BY-SA-4.0

So viel Empörung war selten. Einen „unerträglichen Angriff auf das Herz unserer Demokratie“ hat der Bundespräsident beobachtet. „Ich bin wütend“ wiederholt am Sonntagabend mit grimmiger Miene die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Weil das Demonstrationsrecht für Nazipropaganda missbraucht worden sei. „Wütend und fassungslos“ sei er, gibt auch der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil zu Protokoll. Die politische Elite war sich ungewohnt einig. Und um das Setting zu betonen, lud Frank-Walter Steinmeier 48 Stunden später sechs „Helden-Polizisten“ (BILD-Zeitung) zum Erfahrungsaustausch in sein Schloss. Was war eigentlich passiert?

Corona-Skeptiker, Impfgegner, Identitäre, Reichsbürger, Rechtsradikale, Politikzweifler, Staatsverdrossene und selbst ernannte Querdenker hatten für Ende August zur Großdemonstration in Berlin aufgerufen. Gegen Angela Merkel und die politischen Entscheider in Berlin, gegen Anti-Corona-Maßnahmen und die eingeengte Freiheit, für Trump, Putin und den Weltfrieden überhaupt. Bunter und vielfältiger, aber eigentlich kruder und wirrer war wohl selten eine Großkundgebung in Deutschland. Und mittendrin ein großes Rudel Rechtsradikaler und AfD-Parlamentarier aus Bundestag und Länderparlamenten. Es gab Kundgebungen am Brandenburger Tor und Unter den Linden, es gab rollende Bühnen, und es gab eine richtigen Aufbau, etwa 100 Meter entfernt vom Hauptportal des Reichstages. Und alles legitimiert in mehreren Entscheidungen durch das Berliner Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht.

Das Ende ist bekannt: Nach der Kundgebung auf der Reichstagswiese eilten 300 bis 400 Demonstranten, bewaffnet mit Fahnen und Bannern, mit Krücken und Rucksäcken auf den Eingang des Reichstages zu. Drei wackere Polizeibeamte stellten sich ihnen in den Weg. Nach zwei Minuten waren Dutzende Kollegen zur Stelle und drängten die Protestler wieder ab.

Das Reichstagsgebäude 1995, verhüllt von dem Aktionskünstler-Paar CHRISTO & JEANNE-CLAUDE. „Nach einer leidenschaftlichen Debatte“ stimmt der Bundestag dem Projekt zu, das seither als ein Symbol für die Offenheit des deutschen Regierungssystems gilt.
Foto: qwesy qwesy, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52389376

Symbol deutscher Offen- und Gelassenheit

Ein Skandal? Ein Sturm auf den Reichstag, wie die BILD-Zeitung vermeldete? Das Parlament kurz davor, von Nazis überrollt zu werden? War es wirklich ein Angriff auf das Herz der Demokratie, wie Frank-Walter Steinmeier meinte? Ist die Demokratie bedroht, weil sie in dieser Situation zu nachlässig gegen ihre Feinde vorging?

Wohl kaum.

Das geschichtsbeladene Areal in Berlin-Mitte beherbergt nicht nur die zentralen deutschen Polit-Institutionen, also Parlament und Kanzleramt, es ist zugleich Symbol deutscher Offen- und Gelassenheit. Kaum ein Parlament der Welt ist so zugänglich und transparent, das war schon Architekt Norman Foster mit seiner gläsernen Reichstagskuppel eines der wichtigsten Anliegen. Die Bannmeile ist abgeschafft, es darf vor dem Bundestag demonstriert werden, und auch ein Protestcamp von Impf- und Merkelgegnern, 100 Meter vom Eingang des Kanzleramts entfernt, blieb dort über Wochen unangetastet stehen. So viel Liberalität und Toleranz wäre in kaum einem anderen Land vorstellbar. Und ja, nicht zuletzt diese Gelassenheit macht die Attraktivität und innere Stärke der deutschen Gesellschaft aus.

Reale Maus, medialer Elefant

Und die Bewegung, die sich am Wochenende versammelte? Sie war ein Kondensat des deutschen Wutbürgers, der da aufmarschierte, der Russland-Fahnen schwenkend nach Freiheit schreit, während Alexej Nawalny nebenan in der Charité liegt, der da gegen Merkel und Impfen zetert, gegen zu viel und zu wenig Staat, ein Milieu jedenfalls, in dem sich Rechtsradikale und AfD-Erwählte prima verstecken können. Aber so vielfarbig der Haufen auch ist, erstens ist er eine verschwindende Minderheit, zweitens fehlen ihm Ziele und Führungsfiguren und drittens, so schien es, war er am Ende der zwei Tage selbst erschrocken über den unverhofften Aufmerksamkeitsüberschuss. Reale politische Bedeutung und mediale Aufmerksamkeit verhielten sich zueinander wie Maus und Elefant.

Ein geschichtsträchtiger Ort | Foto: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5309553

Ja, die Symbolkraft von Bildern ist bekannt. Und Reichskriegsflaggen im Zentrum von Berlin wecken mehr als unangenehme Erinnerungen. Der Reichstagsbrand 1933, fahnenschwenkende Rechtsextreme, die gegen das Parlament anrennen, Polizei, die vermeintlich zu spät kommt – es sind keine schönen Assoziationen, die sich da mischen. Und ja, die Polizei hatte die Situation rund um den Reichstag einen Moment lang falsch eingeschätzt. Das sollte nicht, aber es kann vorkommen bei einem Ereignis, das sich über Stunden mit ständig wechselnden Schauplätzen auf einer Fläche zwischen Friedrichstraße und Siegessäule hinzieht.

Je schlechter das Gewissen, desto größer die Empörung?

Vielleicht lag ein Teil der überschiessenden Empörung ja auch im schlechten Gewissen der politischen Eliten begründet. Denn dafür gäbe es gute Gründe. Beharrlich und viel zu lange wurden Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, latenter Antisemitismus und offener Rechtsextremismus in diesem Land weggeredet. Jahrelang wurden Zahlen geschönt, Morde vertuscht, Verfassungsschützer gedeckt, offener Rassismus wurde kleingeredet und Rechtsextremismus verlässlich mit linksextremistischen Straftaten gegengerechnet. Das herrschende Klima war eines, in dem sich Rechtsradikale und Rassisten aufgehoben und wohlfühlen durften.

Zur Demokratie, zu einer toleranten und weltoffenen Gesellschaft gehört, dass auch diejenigen sich zu Wort melden dürfen, die diese Freiheit einschränken oder gar abschaffen wollen; sogar dass Menschen ihre Meinungsfreiheit nutzen, um Präsidenten und Systemen zuzujubeln, die dieselbe Meinungsfreiheit niemals zulassen würden. Dieser Widerspruch erzeugt Spannung, er irritiert, jawohl, aber diese Spannung, diese Irritationen kann und muss eine offene, pluralistische Gesellschaft aushalten.

Wo war der emotionale und politische Aufschrei?

Was eine Gesellschaft dagegen nur schwer aushalten kann und wo sie durchaus wachsamer werden darf, wo aufrichtige Empörung tatsächlich angebracht wäre:

  • Wenn dem Bundesamt für Verfassungsschutz sechs Jahre lang ein Mann vorsteht, der, wie sich später herausstellt, auf dem rechten Auge eine schwere Trübung hat. Und bei dem nur mit Mühe und Not verhindert werden kann, dass er auch noch zum Staatssekretär befördert wird.
  • Wenn ein Landesinnenministerium – wie in Hessen, im gleichen Bundesland, in dem Walter Lübcke erschossen wurde – NSU-Akten auf 120 Jahre wegschließen will. Dass es dann nur 30 Jahre sein sollen, macht den Sachverhalt nicht besser.
  • Wenn in Hessen, Berlin und anderswo unter Zuhilfenahme von Polizeicomputern jahrelang und serienweise Drohbriefe an kritische Anwältinnen und Journalisten verschickt werden.
  • Oder wenn sich in einem Berliner Bezirk über Jahre hinweg rechtsradikale und fremdenfeindliche Übergriffe multiplizieren, Anwälten Akteneinsicht verwehrt wird und Staatsanwälte und Polizei schließlich in den Verdacht geraten, gar mit der rechten Szene zu kooperieren. Jedenfalls so viel Verdacht aufkommen lassen, dass die Generalstaatsanwältin die Ermittlungen an sich zieht.

All das sind Vorgänge, bei denen ein emotionaler und politischer Aufschrei tatsächlich angebracht wäre. Vorgänge, die ein Strukturversagen offenlegen, Vorgänge auch, die eine vertiefte und engagierte Debatte um die Frage verdienten, ob die staatlichen Instanzen in Deutschland tatsächlich adäquat aufgestellt sind, um angemessen auf die braune Herausforderung zu reagieren. Die gezeigte Empörung wirkt aber seltsam aufgesetzt, wenn sich 400 Verwirrte mit Rucksäcken und Fahnen auf den Stufen des Reichstages niederlassen, auch wenn sich darunter Rechtsradikale und Träger von Reichskriegsfahnen mischen.
Der eigentliche Skandal besteht mehr darin, dass der Rechtsextremismus vielköpfig innerhalb des Deutschen Bundestages sitzt, als dass er vor dem Reichstagsgebäude die Weltverschwörung anprangert und den vermeintlichen Erlöser Donald Trump bejubelt.

Horand Knaup
Horand Knaup (kn), geboren 1959, ging 1995 für die „Badische Zeitung“ nach Bonn und wechselte 1998 zum „Spiegel“, für den er viele Jahre aus dem Hauptstadtbüro schrieb, fünf Jahre war er „Spiegel“-Korrespondent in Afrika mit Sitz in Nairobi. Seit 2017 freier Journalist und Autor.

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