Eine technische Revolution ohne politische Emanzipation

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Internet, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden nahezu überall als technische Revolution bezeichnet. Und das zu Recht. Weltweit bleibt kein Lebensbereich davon unberührt, in vielen Bereichen sind es gar fundamentale Änderungen. Bemerkenswert ist dabei, dass eine derart massive technische und gesellschaftliche Revolution keine signifikanten Änderungen im politischen Sinn bewirkt – zumindest bislang. Denn bisher werden diese tiefgreifenden Veränderungen nicht wie Interessen behandelt, sondern passieren vielmehr nebenbei; haben bis dato also noch keine Ansätze für eine politische Revolution ausgelöst. Es sind nicht einmal neue politische Ziele am Horizont zu erkennen; es ist bemerkenswert ruhig. Das erstaunt, ist aber erklärbar.

Wirft man einen geschichtlichen Blick zurück und betrachtet die auslösenden Faktoren der Digitalen Transformation, zeigt sich: Der Kern dieser Transformation – so die Hypothese – waren nicht einzelne Bevölkerungsgruppen, die bestimmte politische Ambitionen verfolgten und das System infrage stellten oder sogar attackierten. Ausgangspunkt war vielmehr die Krise, die traditionelle Unternehmen und ihre Managements durchlebten. Denn zur weitergehenden Automatisierung – die notwendig war für das Bestehen der Organisationen – mussten Unternehmensführungen parallel zu dem ab den 1990er-Jahren einsetzenden Hyperwettbewerb auch dringend Innovationsquellen anzapfen.

Das Problem dabei war, dass das Management diesen Umbau aber nicht als Revolution betrachtete, sondern vielmehr als eine Fortschreibung der Unternehmensentwicklung, so wie ihn die Moderne propagierte. Und wie schon in der Industriellen Revolution und zu Beginn der Automatisierung in den 1920ern, sollte auch dieses Mal keine große gesellschaftliche und ethische Diskussion ausgelöst werden. Schließlich konnte man – wie damals von dem US-Wissenschaftler Lewis Mumford beobachtet – die Strategie verfolgen, einer politischen Wertediskussion aus dem Weg zu gehen, indem man gefährliche und dumpfe Arbeit durch Maschinen ersetzt, und so ein Mehr an Bequemlichkeit und Komfort erreicht. Es galt also nach wie vor: „Der Glaube, dass man (in der Automatisierung) keine neuen Werte benötigt, konstituiert das neue Wertesystem.“

Oberflächliche und pseudo-partizipative Debatten

Die moderne Technologie ermöglichte so Unternehmen – unter Beibehaltung ihrer traditionellen Strukturen – eine Öffnung gegenüber externen ProduzentInnen der Crowd jenseits der Hierarchie; und erschloss so neue Innovationsquellen. Gleichzeitig trieb die Automatisierung und Robotisierung den Umbau der Produktion weiter an. Der Mensch und seine Interessen waren zwar scheinbar nicht Ausgangspunkt für diese Entwicklung, er war jedoch ein wichtiger, wenn auch reaktiver Faktor beim Umbau des Unternehmens: er lernte Maschinen an, optimierte Algorithmen, steuerte Innovation bei und ahnte zunehmend, so wie bei den vorangegangen industriellen Revolutionen auch, dass es hier ebenfalls um ihn ging. So kam es, dass immer mehr Menschen zu verstehen versuchten, was die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung mit ihnen machen würde. Sie suchten nach Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen oder aber sich von diesen Entwicklungen abzuschirmen.

Die Besonderheiten dieser Transformation: Trotz dieser zunehmenden Reflexionen war eine politische Revolution von niemanden beabsichtigt. Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung merkte in einer Studie zum Thema an, dass die Transformation als eine notwendige Anpassung an vorgegebene disruptive Technologien verstanden wird. Es geht also nicht um Gestaltung, schon gar nicht als ein Resultat von Entscheidungen. Denn „die hätten auch anders getroffen werden können“, so die Studie. Vielmehr wird merkwürdig oberflächlich und pseudo-partizipativ debattiert. Den traditionellen politischen Parteien und Gewerkschaften, allesamt der Moderne verpflichtet, fällt vielleicht auch wegen der inhaltlichen Tragweite schwer, Konsequenzen zu ziehen, Bilder und Ziele für diesen Prozess zu skizzieren oder Strategien zu entwickeln – und sich selbst neu zu konstituieren. Vielleicht sind Orte und Akteure dieser Revolution daher auch außerhalb der üblichen Vorstellungen zu suchen.

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Der US-Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein machte in einem seiner letzten Texte auf die Unternehmensprobleme aufmerksam: stetig steigende Inputkosten führen zu geringeren bzw. langsamer wachsenden Gewinnen. Unternehmen bzw. der Kapitalismus werden so für den „Kapitalisten uninteressant“, dieser investiert daher lieber in Immobilien statt in Firmen. Als Ausweg suchten Manager deshalb nach Innovationskräften, die ihnen halfen, innovative Produkte in immer schnelleren Taktungen auf den Markt zu werfen. Und obwohl die Open Source-Bewegung eine Bewegung weg vom traditionellen Unternehmen ist, wurden sie gerade hier fündig. Denn hier trafen sich ProgrammierInnen großer Technologiefirmen nach Feierabend auf selbst entwickelten Produktionsplattformen, um dort endlich die Dinge zu tun, die ihnen die Hierarchie nicht zugestand. Unbezahlt arbeiteten sie an Projekten, deren Ergebnisse sie umsonst der Öffentlichkeit (aber auch den Großkonzernen) zur Verfügung stellten.

Diese Kapazitäten mussten die nach Innovation dürstenden Unternehmen nun aber wieder in ihre Wertschöpfungskette re-integrieren. Der Exodus von Ideen und ungenützten Talenten, der sogenannte “kognitive Überschuss“, musste umgekehrt werden: Aus dem Peer (dem selbstgesteuerten, freien Produzenten) in einer Peer-to-Peer-Produktion (P2P) wurde der Crowdworker, der Arbeitspakete von einer kommerziellen und algorithmisch gesteuerten Plattform – jetzt bezahlt – übernahm. An diesen Foundations der Peers (Linux, Apache und Mozilla) sind heute die großen Technologieunternehmen beteiligt. IBM verdient einen großen Teil seines Umsatzes mit Beratungsleistungen zu Open Source-Produkten. Der Ausbruch aus dem kapitalistischen System, so der französische Sozialphilosoph André Gorz resignierend, wurde also verpasst.

Crowdworker und Konsumenten als Algorithmen-Trainer

Und nicht nur wurden potentieller Widerstand und alternative Produktionsverfahren re-integriert. Durch die Verwendung Sozialer Medien entstand gleichzeitig – quasi als Nebenprodukt – eine schier unerschöpfliche Menge an Daten, die genutzt werden konnten. Vor allem gehörten dazu Algorithmen, die menschliche Entscheidungen übernahmen.

Diese Substitution funktioniert am einfachsten im Rahmen wiederholender, repetitiver Aufgaben bzw. Entscheidungen, die in traditionellen arbeitsteiligen Hierarchien die Mehrheit bilden; und auch nicht vor kreativen und unstrukturierten Aufgaben Halt machen. In dieser Situation mutieren Crowdworker und Konsumenten zu Trainern von Algorithmen: Der Uber-Chauffeur fährt solange mit dem Wagen – der dabei alle Wege und Manöver aufzeichnet – bis dieser autonom fahren kann. Amazons Alexa ist deswegen so günstig, weil so der Zugriff auf Millionen von Sprachtrainern gelingt, die sich bemühen müssen, verständlich zu artikulieren, um ihre Musik abspielen oder das Licht anschalten zu lassen.

Die Reaktionen und der Widerstand gegen diese Entwicklungen sind also nach wie vor verhalten; und die Effekte auf die Beschäftigung im Westen beherrschbar. Schließlich werden hier erst noch die Maschinen und Datenmodelle gebaut, die die Automatisierung voranbringen sollen. Während hierzulande aber noch spekuliert wird, ob nun 40 Prozent der Jobs durch die Automatisierung verloren gehen, oder vielleicht gar keine, haben laut des Deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Roboter und Algorithmen in den Entwicklungsländern zwischen 2005 und 2014 bereits 14 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet. Und weil gerade diese Regionen von der Klimakrise am verheerendsten getroffen wurden, wird das – so die Modellrechnungen des Potsdamer Klimainstituts – zum Auseinanderfallen ganzer Nationen entlang ethnischer Bruchlinien führen. Dennoch haben diese Entwicklungen bislang noch zu keinem grundsätzlichen Umdenken oder keinen neuen Politikansätzen geführt. Einzig, sehr traditionell und analog, die Mauer – eine „bewährte“ Militärarchitektur – wurde fast schon reflexhaft wieder in den Politikdiskurs eingeführt.

Mauern, aber kein innovativer lösungsorientierter Diskurs

Dabei ist gut zu beobachten, wie Populisten im Westen Karriere machen: Die Mauer verlangt die breite, permanente Mobilisierung gegen alle jenseits der Mauer, welche in der Regel auch ethnische und rassistische Kriterien beinhaltet (und natürlich auch auf den Diskurs innerhalb der Mauer abfärbt). Nachdem die Sozialen Medien zunächst also die Befreiung des Individuums und seiner Leidenschaften aus den Zwang der Hierarchie versprachen, wird nun ein populistischer, ethno-nationalistischer Ton angeschlagen, der paradoxerweise nicht die Problematik der Automatisierung, Ungleichheit und Klimakatastrophen anspricht, sondern gesellschaftliche Probleme einzelnen ethnischen Gruppen zuweist, die zumeist „ganz unten“ angesiedelt sind. Ein innovativer, lösungsorientierter Diskurs unterbleibt auf diese Weise.

Vielmehr ist zu beobachten, dass die Automatisierung nun genutzt wird, die Mauer mit Maschinen zu bewachen – um so ethische Dilemmata und Anachronismen im Westen zu verringern. In aktuellen Konflikten in Afghanistan und Gaza beispielsweise werden Sperren und Drohnen heute so weit perfektioniert, dass sie universell einsetzbar sind: Der israelische Sicherheitsminister bot seiner sichtlich beeindruckten amerikanischen Amtskollegin bei einem Lokaltermin die Erfahrungen seines Landes beim Bau der Mauer zu Mexiko an.

Diese Revolution (die keine sein will oder darf) führt oft zu Diskursen, die sich gegenüber früheren kritischen Diskussionen und Analysen zurückhalten, ohne sozialen Kontext operieren und sich vor allem auf die technische Machbarkeit bestimmter Lösungen fokussieren. So kreisen die Diskussionen im Bildungsbereich vor allem um die Ausstattung von Institutionen mit neuen Lerntools wie Tablets, Smartphones, Laptops, Whiteboards oder Methoden wie Flipped Classroom. Wenig verbreitet und akzeptiert ist die Idee, dass ganze Bevölkerungsgruppen – die durch die Digitalisierung neue Berufe brauchen bzw. sich traditionelle Bildung nicht leisten können – Lerninhalte kostenfrei aus dem Netz abrufen, sich zu digitalen Lern-Communities zusammenschließen und so, zusätzlich zur Nutzung traditioneller Institutionen, einen lebenslangen, sehr persönlichen Lernpfad beschreiten.

“Objektive Zensuren” als Schutzzäune für Eliten

Allzu oft bleiben die dominierenden Bildungsinstitutionen und -abschlüsse nur der Mittelschicht, den Eliten und der Exzellenzforschung vorbehalten. Sie halten so einen Großteil der Bevölkerung von ihrer beruflichen Selbstverwirklichung ab, indem sie mit „objektiven Zensuren“ belegen, dass diese „nicht das Zeug für mehr haben“. Und eine kaum beachtete Funktion insbesondere höherer Bildung ist: Die Masse der Bevölkerung mit kognitiven Lehrinhalten von dem Erklimmen der höheren Hierarchieebenen abzuhalten und gleichzeitig die Akzeptanz dieser Unterordnung auf Basis eines meritokratischen Prinzips zu schaffen. So wird die Klassenfrage gelöst, denn die Unternehmenshierarchie weist jedem seinen Platz gemäß seiner Fähigkeiten zu. Obschon erkennbar ist, dass sehr viele karrierefördernde Fähigkeiten und Verhaltensweisen – wie etwa Disziplin, Zielstrebigkeit, Ausdauer, Empathie – nicht auf diesen kognitiven Lehrinhalten beruhen. Selbst im Bereich der Informatik – so eine Analyse der Stanford Universität – werden „Cutting Edge“-Fähigkeiten eher „on the job“ erlernt als im Hörsaal.

Diese enge Verknüpfung von Bildungsmöglichkeiten und Klassenfragen bzw. der Unternehmenshierarchie ist wohl der wahre Grund, warum Digitalisierung nicht zu einer Umwälzung des Bildungssystems führt – obwohl das technisch möglich wäre. Die damalige deutsche Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ließ sich auf einer re:publica-Konferenz im Kontext des Grundeinkommens zu dem verunglückten Zitat hinreißen, „dass dann keiner mehr schlechte oder niedrig bezahlte Arbeit machen möchte“ (unglücklich schon deshalb, weil sie diese These in ihrem Vortrag selbst in Frage stellte). Hier wäre aber der Nagel auf den Kopf getroffen: Solange Maschinen derartige Arbeiten noch nicht übernehmen, müssen Menschen das erledigen. Was schon die Erkenntnis des Sozialforschers Paul Willis in den 1970er-Jahren war, der Arbeiterkinder auf dem Weg durch ihre Laufbahn begleitete: „Was würde passieren“, so Willis zum Abschluss seiner Studie „Learning to Labour“, “wenn Kinder der Arbeiterklasse, die die Konzepte der Selbstverwirklichung und das Interesse an Arbeit absorbiert hätten, um die wenigen Jobs kämpfen müssten, die dies ermöglichen, nur, um dann wieder in niedere Jobs gezwungen zu werden?“

Die eigentümliche Kraft einzelner Individuen

Zwar ist die Digitale Revolution eine, die nicht als politische Revolution deklariert werden kann. Allerdings liegt Veränderung erkennbar in der Luft. Im Jahr 2010 erschien im marktliberalen Time Magazine ein ungewöhnlicher Beitrag. „Was wäre“ fragte der Autor im Hinblick auf die Möglichkeiten neuer Sozialen Medien, „wenn drei von zehn Schülern und das Drittel an Studierenden, die abbrechen, etwas unternehmen? Während sich der Rest auf Jobs vorbereitet, die es bald nicht mehr geben wird, könnten die Abbrecher eine Revolution anzetteln, die neue Wege zu arbeiten und zu leben aufzeigt“, so die spannende Argumentation.

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Knapp zehn Jahre später muss man resümieren, dass diese Revolution ausgeblieben ist. Allerdings weist der Artikel auf die eigentümliche Kraft einzelner Individuen in der fragilen Phase des Übergangs hin. Während der Autor noch vermutete, das sich „irgendwo in einem Hinterhof ein 23-jähriger Jugendlicher auf eine kulturelle Revolution vorbereitet, die die USA aus den Angeln heben kann“, wurden wir Zeugen, wie zunächst einzelne WhistleblowerInnen wie Chelsea Manning, Julian Assange und Edward Snowden versuchten, Transparenz in digitale und nicht-digitale Aktivitäten von Staaten zu bringen – ohne jedoch eine massive Gegenbewegung zu initiieren (erinnert man sich noch an die Piratenpartei?). Dass dann ein schwedisches Schulkind scheinbar unvermittelt globale Prozesse initiieren kann, erstaunte sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Aktionen erzeugen stets Gegenbewegungen. Auch finden diese in der Regel außerhalb bestehender politischer und ökonomischer Institutionen statt. Der beste Beweis hierfür sind Bewegungen wie Fridays for Future oder Occupy, die sich neue Orte wie beispielsweise re:publica, Ouishare oder Porto Alegre schaffen. Und die allerdings auch schnell wieder ins System reintegriert werden können und werden, wie zum Beispiel die stetig wachsende Anzahl von PolitikerInnen als Speaker auf der re:publica zeigt. Diese „Individualisierung“ von Widerstand und anschließende Re-Integration scheint auch im wirtschaftlichen Bereich vorherrschend zu sein. Durch die Re-Ökonomisierung des Exodus standen plötzlich nicht mehr freie Produzenten und P2P-Modelle im Vordergrund, sondern Entrepreneure, die mit ihren Start-ups Geld von Investoren und traditionellen Unternehmen bekamen – und nun Innovationen voranbringen und mithelfen sollten, hierarchische Firmen zu revitalisieren.

China und Singapur oder Wie eine digitale Revolution Top-down funktioniert

Die Versuche des durch die Sozialen Medien erstarkten Individuums, neue politische Bewegungen zu schaffen und damit auch Einfluss auf die unternehmerische Strategie und Vorgehensweise der Digitalisierung zu erhalten, hat in westlichen Ländern (bis auf die Ausnahme der Klimabewegung) noch keinen großen Erfolg. China und Singapur hingegen zeigen eindrucksvoll, wie eine Digitale Revolution Top-down funktionieren kann. Allerdings um den Preis, dass individuelle Freiheiten keine große Rolle spielen. Denn diese autoritären Gesellschaften können ihr Vorgehen nur mit Wohlstandswachstum legitimieren – und bleiben bezüglich der individuellen Freiheiten verwundbar. Ein Konzept für die Balance zwischen Top-down-Strategie und individueller Partizipation scheint es also noch nicht zu geben.

Jedoch ist auch diesen Staaten klar, dass die Digitalisierung der Gesellschaft bzw. die damit einhergehende weitgehende Transparenz eine völlig untragbare Situation hervorruft. Denn der Mensch braucht eine Hinterbühne, auf der Dinge passieren, die nicht auf die Vorderbühne gehören – aber dennoch wichtig sind, um eine Produktivität zu gewährleisten. Auch China mit seinem umfassenden digitalen Kontrollsystem hat dies vielleicht verstanden. In seinem jüngsten Roman „Der Spiegel“ des Erfolgsautors Cixin Liu, in der ein Superstring-Computer geschaffen wird, der alles weiß und alles offenlegen kann, erkennen die verantwortlichen Funktionäre, dass diese Transparenz fatale Konsequenzen hat. Die fehlende Hinterbühne führt nämlich dazu, dass eine „Entwicklung und Vitalität“ der Gesellschaft unmöglich wird. Denn diese „basieren auf dem Impuls, von der konventionellen Moral abzuweichen. Eine Gesellschaft, die keinerlei moralische Fehltritte kennt, ist tot.“

Weder im demokratischen noch im autoritären Staat, scheinen sich zufriedenstellende individuelle Möglichkeiten der Partizipation am digitalen Umbau der Gesellschaft zu ergeben. Im ersten Fall wird diese Revolution überhaupt negiert und als Unternehmensentwicklung verstanden. Im zweiten Fall hat die ambitionierte Top-down-Planung keine Botton-up-Komponenten vorgesehen. Weder Unternehmen noch Staat als Initiatoren der Digitalen Revolution benötigen Partizipation bzw. Teilhabe – ihre Legitimation ist die Wohlstandsvermehrung. Begreift man die chinesische KP-Führung als Vorstand des „Unternehmens China“, mag dies die Parallelen erklären.

Die Kommune als Zentrum der Suche nach einer neuen Gesellschaft

Möglicherweise sind Städte und Kommunen die Orte, in denen Individuen ihre Ausdrucksweise und Teilhabe finden und umsetzen können. Städte, so der amerikanische Sozialforscher Benjamin Barber, sind deutlich weniger ideologisch, eher pragmatisch: Sie sammeln Müll und Kunst, aber keine Wählerstimmen. Hier findet das Universelle im Lokalen gleichzeitig statt mit Deliberation, gemeinsamen Problemlösungen und Experimenten. Föderale Länder wie Deutschland können so ihre Stärken ausspielen. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass Experimente in kommunaler Entscheidungsfindung oder auch ethische Open-Source-Datenmodelle für Smart Cities hierzulande ihren Ausgangspunkt haben.

Die Kommune wird so zum eigentlichen Austragungsort der Suche nach einer neuen Gesellschaft. Dies mag zunächst nicht nach Revolution klingen. Ein anderes Gesellschafts- und Revolutionsbild kann jedoch allmählich entstehen, wenn die Automatisierung auch eine Emanzipation des Menschen vom Produktionsprozess bedeutet. Und das Individuum freier in der Wahl der Kommune wird, in der es Menschen mit ähnlichen Leidenschaften und Interessen findet – ergänzt um eine „web citizenship“ in einer virtuellen Community, die das Internet mit reguliert.

Unter dem Titel "Die digitale Revolution als politische Kraft" erschien dieser Beitrag zuerst auf "Wir sind der Wandel. Eine Initiative für die neue Arbeitswelt". Die Initiative will "Wirtschaft und Gesellschaft für eine modernere und gerechtere Arbeitswelt für Frauen UND Männer sensibilisieren". 

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Ayad Al-Ani
Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani lehrt als außerordentlicher Professor u. a. an der südafrikanischen Universität Stellenbosch. Außerdem ist er assoziiertes Mitglied am Einstein Center Digital Future. Al-Ani ist Lehrbeauftragter für Digitale Kultur an der Universität Basel und war von 2017 bis 2018 Gastprofessor an der Fernuniversität in Hagen.

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