Direkte Demokratie in Berlin und München: Mehrheit für 21, 25 Euro Mindestlohn

Foto: Lowdown wikimedia commons

Die Schweiz hat etwa ein Zehntel der Einwohnerzahl Deutschlands, im Kanton Genf wohnen rund 500.000 Menschen, mal zehn ergibt es Berlin und München zusammen. Folgende Vorstellung müssen wir uns jetzt machen: Die Bundeshauptstadt und die bayerische Landeshauptstadt haben in einem Akt direkter Demokratie darüber abgestimmt, ob in ihren Stadtgebieten 21, 25 Euro Mindestlohn pro Arbeitsstunde gezahlten werden sollen – und sich mit 58 Prozent Ja-Stimmen dafür entschieden. So geschehen am Sonntag, 27. September 2020, im Schweizer Kanton Genf. Seine Wählerinnen und Wähler votierten für 23 Schweizer Franken Mindeststundenlohn. Wer mag sich, wäre es in Berlin und München tatsächlich geschehen, die Empörung der Arbeitgeberverbände und der (Wirtschafts-)Medien vorstellen, den Aufschrei des politischen Mainstreams, die Untergangs-Arien in den Talkshows. Niemand.

Mitte Juni 2020 meldete die Neue Zürcher Zeitung noch: „Linkes Bündnis lanciert Initiative für einen Mindestlohn in drei Zürcher Städten. Gewerkschaften, Parteien und Hilfswerke wollen in Zürich, Winterthur und Kloten einen gesetzlichen Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde einführen. Es ist aber fraglich, ob das überhaupt möglich ist.“ Der Kanton Genf hat diese Frage jetzt positiv beantwortet und das „Schweizer Radio und Fernsehen“ (SRF) berichtet am Tag danach unter der Überschrift „Mindestlohn in Genf – ein Zeichen der Solidarität in der Krise“.

Einstimmiger Tenor der Berichterstattung: Die Corona-Pandemie habe den Befürworterinnen und Befürwortern des Mindestlohns den nötigen Aufschwung gegeben. „Die Krise habe deutlich vor Augen geführt, wie viele sogenannte «working poor» in Genf leben – Menschen, die trotz Vollzeitanstellung nicht über die Runden kommen“, meldet SRF. „Auch die Bilder der Tausenden mittellosen Menschen, die in Genf auf kostenlose Nahrungsmittel angewiesen waren und immer noch sind, haben die Genferinnen und Genfer verstört“, schreibt Der Bund.

Foto: Christoph Rohner wikimedia commons

Für den grünen Regierungspräsidenten Antonio Hodgers bedeutet das Ja vor allem ein Zeichen der Solidarität. Geschätzt wird, dass der Mindestlohn rund 30.000 Personen zugute kommt, mehrheitlich, nämlich zu rund zwei Dritteln, Frauen. Die Abstimmung wird bereits Ende Oktober wirksam. Bei Vollzeitanstellung mit einer 42-Stunden-Woche ergibt sich ein Monatslohn von rund 4000 Franken.

Im Jahr 2014 hatte die Schweiz über eine nationale Mindestlohninitiative abgestimmt und das Anliegen verworfen, in Genf mit 60 Prozent Nein-Stimmen. Auch jetzt empfahl die Kantonsregierung ein Nein. Genf ist nun nach Neuenburg, Jura und dem Tessin der vierte Kanton der Schweiz, der einen Mindestlohn einführt.

In Deutschland gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn seit 2015. Er betrug zunächst 8, 50 Euro und liegt zur Zeit bei 9, 35 Euro. Bis zum 1. Juni 2022 soll er in vier Schritten auf 10,45 Euro angehoben werden.

Print Friendly, PDF & Email
Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

3 Kommentare

  1. Auch in Zürich und anderen Kantonen gibt es einen deutlich höheren Mindestlohn als bei uns. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass die Lebenshaltungskosten in der Schweiz ebf. deutlich höher sind. Mit hat mal ein tschechischer Kellner in Schweiz gesagt: “In der CSSR waren die Löhne niedrig, das Leben aber billig. Nach ihrem Ende ging ich nach London. Dort bekam ich viel mehr Lohn, aber Wohnen und Leben waren dort auch viel teurer. Dann lockte mich ein Kollege in die Schweiz wegen der noch höheren Löhne. Aber er hat mir nicht erzählt, was hier allein ein Zimmer kostet. Vor dem Ende des Monats war und ist so oder so das Geld alle.”

  2. Passend zu Ludwig Grevens Beitrag einige Zahlen:

    Das Durchschnittsgehalt in der Schweiz liegt 1,8 x höher als in Deutschland.
    Das Durchschnittsgehalt in Genf und Zürich liegt nochmals 1,3 x höher als in der Schweiz.
    1 Franken entspricht laut aktuellem Tageskurs 0,93 Euro
    23 Franken entsprechen also 21,40 Euro
    21,40 Euro entsprechen lohn- und kaufkraftbereinigt in der Schweiz also 11,90 Euro.
    Und in Genf 9,15 Euro.

    Eine Aufstockung des Mindestlohns in Genf auf 23 Franken entspricht also einem deutschen Mindestlohn von 9,15 Euro.

    (Es liegt das Bild von den Äpfeln und Birnen und den Problemen ihrer Vergleichbarkeit in der Luft.)

  3. Als Bayer kenn’ ich mich aus: Wenn Weißwürste so verteilt sind, dass einer vier und eine keine hat, dann hat jede Person zwei. Höhere durchschnittliche Lebenshaltungskosten in der Schweiz anerkannt (Aldi und Lidl gibt es auch in Genf), ist mein Verdacht trotzdem: Die volkswirtschaftlichen Milchmännchen haben Freigang. Auch Albert Einstein wird es nicht gelingen, mir verständlich zu machen, dass es für Gering- und Schlechtverdienende keinen Unterschied macht, ob sie in München 9, 15 Euro oder in Genf 21, 40 Euro in der Hand haben.

Schreibe einen Kommentar zu Jo Wüllner Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke