Die zweite Welle

Von Stephan Russ-Mohl herausgegeben, erscheint im November der Band „Streitlust und Streitkunst. Diskurs als Essenz der Demokratie“. Passagen des vorliegenden Textes sowie weitere Argumente zur Diskussion um die Corona-Berichterstattung finden sich in der Einleitung zu diesem Buch. (Foto: Pixabay)

Wir werden in Europa gerade von der zweiten Covid19-Welle erfasst, und es war wohl eher Zufall, dass mein gleichlautender Gastkommentar zum «Herdentrieb» im Journalismus (SZ-Printausgabe vom 17.10.20) und zum «Corona-Panikorchester» der Medien  fast zeitgleich zu dieser Welle und zur Berichterstattung über den bevorstehenden zweiten Lockdown erschienen ist. Das hat ihm zu ungewöhnlich breiter Resonanz verholfen.

Der Kommentar hat auch den Journalistik-Professor Lorenz Lorenz-Meyer veranlasst, für  Bruchstücke in die Tasten zu greifen – doch zunächst etwas Kontext. Denn der geschätzte Kollege hat sich nicht nur an einem Zitat abgearbeitet, ohne es einzuordnen, er unterstellt mir auch Dinge, die ich nachprüfbar nirgendwo geschrieben habe.

 Nochmals zu meiner These und zum Zitat, auf das sich Lorenz-Meyer bezieht:

«Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.»

Das ist natürlich zugespitzt formuliert. Umso wichtiger wäre es, dass die Belege, die meine These untermauern und plausibel erscheinen lassen, nicht unterschlagen werden: Im März und April ging der Anteil der Corona-News in den beiden Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF, Tagesschau und Heute, schlagartig hoch und bewegte sich wochenlang zwischen 60 und 75 Prozent, so das Institut für Medienforschung in Köln. Selten sei «ein Thema so stark präsent» gewesen wie die Corona-Pandemie, ergänzt Mark Eisenegger (Universität Zürich) im Blick auf das Nachbarland Schweiz. Auch hier habe sich im ersten Halbjahr 2020 an manchen Tagen bis zu 70 Prozent der gesamten Berichterstattung um dieses Thema gedreht. Zum Vergleich: Der Anteil Beiträge zur Klimadebatte habe «in Spitzenzeiten kaum mehr als 10 Prozent der Gesamtberichterstattung» erreicht. MediaTenor, ein weiteres Schweizer Forschungsinstitut, das auf Medien-Inhaltsanalysen spezialisiert ist, hatte übrigens bereits im März festgestellt, die Corona-Berichterstattung in Deutschland sei inzwischen umfangreicher als jene zu den Terrorattacken auf das World Trade Center im Herbst 2001. 

Die Phase der Schockstarre

Aus dem Kontext ergibt sich klar der zeitliche Rahmen, auf den sich meine Aussage bezog: auf die Phase der Schockstarre im März/April, welche die Medien mit ihrem Overkill an Coronaberichterstattung mit herbeigeschrieben und -gesendet haben. Lorenz-Meyer zufolge habe ich dagegen behauptet, «die Medien würden zur Zeit einen Handlungsdruck in Richtung Lockdown” erzeugen.

Im Gegenteil: Ich habe – allerdings an anderer Stelle, denn dafür fehlte im SZ-Kommentar der Platz – auf die typischen Phasen eines Medienhype hingewiesen. Bereits in den 70er Jahren unterschieden der Soziologe Niklas Luhmann und der US-Ökonom Anthony Downs mehrere Phasen eines Aufmerksamkeitszyklus – eine Theorie, die ich 1980 in meiner Dissertation vertieft habe. Damit einher gehen oftmals phasenspezifische Ausprägungen von Journalismus-Versagen, wobei es ja ebenso verblüffend wie vielsagend ist, dass schon dieser Begriff kaum existent ist, während Journalisten recht häufig je nach Couleur entweder Marktversagen oder Staats-, Politik- und Bürokratieversagen in ihrer Kommentierung bemühen.

  • In der Latenzphase entwickelt sich ein Problem, das meist viel zu spät erkannt wird: Im konkreten Fall bricht im fernen Wuhan eine Corona-Epidemie aus. Wer hierzulande bereits in dieser Phase Covid19 ernst genommen hat, wurde ausgelacht, ja als Verschwörungstheorektiker abgestempelt – zum Beispiel von Redakteuren des öffentlich-rechtlichen Bayerischen Rundfunks.
  • In der Aufschwungphase wird die mediale Aufmerksamkeitsschwelle durchbrochen. Immer mehr Medien fokussieren auf das Thema, und weil sich die Redaktionen sehr intensiv gegenseitig beobachten, schaukelt es sich hoch und erlangt schliesslich im öffentlichen Diskurs Dominanz. Dabei mündet die mediale Konkurrenz um Aufmerksamkeit leicht in einen Dramatisierungs-Überbietungswettbewerb. Ausserdem setzt sich eine «herrschende Sichtweise» durch. Irritierende Nachrichten und Fakten werden in dieser Phase vom Mainstream ausgeblendet. Im Fall von Corona absorbierte das Thema mit nie dagewesener Wucht die mediale Aufmerksamkeit und blieb über viele Wochen hinweg, mithin ungewöhnlich lange in der Medienarena.
  • Schliesslich wird ein Gipfelpunkt erreicht: Damit verliert in der Umschwungphase das Drama allmählich an Drive, zumal sich ein Teil des Publikums inzwischen »überinformiert» («overnewsed») fühlt und sich abzuwenden beginnt. Im Fall von Corona hielten die Redaktionen jetzt nicht mehr immer denselben Virologen, Epidemiologen und Regierungsvertretern die Mikrophone unter die Nase. Sie gewährten auch anderen -Medizinern, Verfassungsrechtlern, Finanzexperten, Mittelständlern, Politologen, Medienforschern und Psychologen – die Möglichkeit, zu einem differenzierteren Bild dessen beizutragen, was die Pandemie und der Lockdown an Folgen verursachen. Interessant ist, wie nahezu zeitgleich dieser Stimmungswandel eingeläutet wurde – in meiner Stichprobe vom Tagesspiegel und der Berliner Zeitung über den Spiegel bis hin zu Steingarts Morning Briefing und zu Bild.
  • Zu guter Letzt flacht in der Abschwungphase die Berichterstattungsdichte ab, und das Thema verschwindet allmählich wieder aus der Medienagenda – ein Stadium, das wir im Blick auf die zweite Infektionswelle, die derzeit Europa erfasst hat, noch nicht erreicht haben. Zumindest wurde aber Corona zeitweise von den weltweiten Rassismus-Protesten verdrängt, die der von US-Polizisten verursachte Mord an George Floyd auslöste.

Andererseits ist klar, dass Folgen des Lockdowns und möglicherweise auch weitere Infektionswellen uns noch lange Nachrichten bescheren werden, die ihrerseits Aufmerksamkeitszyklen zu generieren vermögen.

Alternativlose Entscheidungen?

Sodann besorgt Lorenz-Meyer, was leider inzwischen viel zu viele Journalisten tun: das Geschäft der Regierenden, indem er deren Entscheidungen als alternativlos darstellt. Es sei «das Virus, das der Politik und den Medien Vorschriften macht, die sich nicht durch irgendwelche medialen Wahrnehmungen beeinflussen lassen». Es kommuniziert also das Virus direkt mit uns und schreibt den Journalisten vor, wie sie zu berichten haben? Und den Regierenden sagt es, wie ein Lockdown zu gestalten ist und wer von den Milliarden Steuergeldern, die die Regierenden uns «schenken», wie viel abbekommt?

Sodann behauptet Lorenz-Meyer: «Anders als beim Beginn der Pandemie sind die Eckdaten mittlerweile klar. Wir wissen genug darüber, wie die Infektionszahlen sich entwickeln, wie kennen die Anteile schwerer Krankheitsverläufe und den daraus resultierenden Behandlungsbedarf.» Das ist eine ziemlich kühne Behauptung für einen Journalistik-Professor. Jedenfalls eine, die ich mir in weiser Selbstbeschränkung auf mein Kompetenzgebiet als Medienforscher nie und nimmer zutrauen würde – angesichts der Stimmenvielfalt unter Experten, mit der wir es inzwischen zu tun haben.

Zu guter Letzt wiederholt Lorenz-Meyer als Medienwissenschaftler (!), was vor ihm schon viele Journalisten hergebetet haben: «Wir können von Glück sagen, dass die Bundeskanzlerin eine Naturwissenschaftlerin ist und keine Medienwissenschaftlerin». Ich gebe freimütig zu, dass ich nicht in der Haut der Bundeskanzlerin stecken und Lockdown-Entscheidungen treffen möchte. Aber aus dem Munde eines Wissenschaftlers klingt das dann doch merkwürdig: Der Kanzlerin wegen ihres Physikstudiums, das Jahrzehnte zurückliegt, hohe Problemlösungskompetenz bei Fragen der Epidemiologie und Virologie zu bescheinigen, zeugt von einer erstaunlichen Unkenntnis der Arbeitsweisen und des Spezialisierungsgrades heutiger Naturwissenschaften. Wobei wir ja tatsächlich froh sein können, dass wir im deutschsprachigen Raum keinen Donald Trump, keinen Jair Bolsanaro und auch keinen Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin als politisches Führungspersonal haben.

So viel Echo war noch nie

Ich habe zum SZ-Beitrag zahlreiche weitere Rückmeldungen erhalten. Sie waren aus drei Gründen spannend: Erstens habe ich selbst nochmal viel dazulernen dürfen. Zweitens gab es eine Welle erstaunlich weitgehender Zustimmung unter den SZ-Leserinnen und Lesern. Sie hat mich überwältigt: So viel Echo auf einen journalistischen Beitrag habe ich in den letzten 50 Jahren meiner umfänglichen publizistischen Arbeit für zahlreiche deutschsprachige Leitmedien noch nie erhalten. Es waren obendrein erkennbar vernünftige Leute, die sich zu Wort meldeten – also kaum Aluhutträger und «Covidioten».

Die zweite Feedback-Welle erreichte mich Tage später, nachdem die Süddeutsche Zeitung meinen Beitrag kostenfrei online zugänglich gemacht hatte. Das löste ein  Twitter-Wetterleuchten  aus, neuerlich mit überwiegend zustimmendem Grundtenor. Und jetzt berichteten einige Branchendienste, darunter der Kress-Report. Es meldeten sich auch jene Profis zu Wort, mit denen ich fest gerechnet hatte: Medienleute, die nicht genau hingucken, was man zu sagen hat, einem dafür aber hochprofessionell das Wort im Mund verdrehen und – schon weniger professionell – auch vor handfesten Beleidigungen nicht zurückschrecken. Wer zu erklären versucht, dass Medien mächtig sind und Journalisten sehr selten zu der Verantwortung stehen, die sie für die Demokratie und das gesellschaftliche Leben nun einmal haben, muss halt mit Abwehrreflexen rechnen.

Ein Spiegel-Redakteur warf mir vor, ich differenziere nicht, ob es bei der großen Zahl an Berichten um das Infektionsgeschehen und andere direkt mit dem Virus verbundene Neuigkeiten gehe, oder z.B. all die sozialen Konsequenzen. Und: Natürlich werde massiv über diese globale Krise berichtet. „That’s the job“. Soll heissen: Wir machen alles richtig, auch wenn sich unsere Nachrichtenauswahl zeitweise bis hin zum Tunnelblick verengt hat…Und wenn wir, Stichwort: Aufmerksamkeitsökonomie, vor allem die schlechten Corona-News (über die USA, Spanien, Italien usw.) weiterverbreiten, dagegen sehr wenig über jene Länder berichten, bei denen sich möglicherweise im Umgang mit dem Virus konstruktiv etwas lernen liesse (z.B. Schweden, Taiwan. Südkorea).

Ein Mitarbeiter des WDR und DLF meinte, ich liefere «keinen richtigen Beleg» dafür, dass die Medien Angst gemacht hätten: «Wenn es nur die Menge an Berichterstattung sein soll, wie er behauptet, ist das etwas dünn.“ Dass schiere Quantität in Qualität umschlagen kann, kommt dem Rundfunkjournalisten nicht in den Sinn. Ein weiterer, sonst geschätzer Kollege rückt mich in AfD-Nähe und meint – ohne das weiter zu begründen – ich trage «eher zur Verwirrung als zur Aufklärung bei». Von einem vormaligen Zeit-, Stern– und ARD-Redakteur wurde ich schlichtweg als «dumm» beschimpft, mit dem Lügenbaron Donald Trump verglichen sowie zum «Hofnarren» erkoren (am Hofe Merkels?).

Offenbar einen Nerv getroffen

Das alles belegt: Offenbar habe ich ja einen Nerv getroffen. In Relation zu den Reaktionen all der anderen SZ-Leserinnen und Leser und Twitter-User zeigen die Rückmeldungen der Medienprofis auch, wie sehr sie im Glashaus sitzen, wenn sie mit Steinen werfen – und offenbar den Draht zu ihrem Publikum verloren haben, wenn sie ihren eigenen Erfolg nur noch quantitativ an Clicks und Reichweiten messen.

Balsam auf meine Seele war eine E-Mail der Schriftstellerin und brandenburgischen Verfassungsrichterin Juli Zeh, der ich über die Kommentare aus der Journalistenzunft berichtet hatte: «Ich finde es wirklich unglaublich, wie man auf intelligente, kompetente und notwendige Gedanken wie die Ihren mit Empfindlichkeit reagieren kann. Kritik und Selbstkritik, die nicht polemisch vorgebracht werden, sollten doch für jedermann ein Geschenk sein. Abgesehen davon ist die Tatsache, dass Redaktionen sich von Clickzahlen antreiben lassen, weithin bekannt. Was daraus folgt für Zuschnitt und Qualität unserer Medienlandschaft, ist ein bedenkens- und besprechenswertes Thema.»

Stephan Russ-Mohl
Prof. Dr. Stephan Russ-Mohl ist emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz) sowie Gründer des 12-sprachigen European Journalism Observatory. Er ist Medienkolumnist beim Tagesspiegel, beim Schweizer Journalist und bei Der österreichische Journalist sowie langjähriger Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung. Jüngste Buchpublikation: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2017

4 Kommentare

  1. Zunächst einmal herzlichen Dank, lieber Stephan Ruß-Mohl, dass Sie meine hier auf kleiner Bühne erschienene Kritik an Ihrem Artikel in der Süddeutschen Zeitung einer so ausführlichen Antwort gewürdigt haben. Ich möchte im folgenden versuchen, auf die wesentlichen Argumente einzugehen, die Sie gegen meinen Beitrag vorbringen.

    Nicht so gemeint ?

    Sie beginnen mit dem Vorwurf, ich habe Ihre "natürlich zugespitzt formuliert[e]" These über den möglichen Zusammenhang von COVID-Berichterstattung und politischem Handeln aus dem Zusammenhang gerissen.

    Hier auch noch einmal, zu Referenzzwecken, das Zitat, auf das ich mich im Wesentlichen bezogen habe:

    «Nicht die Regierenden haben die Medien vor sich hergetrieben, wie das Verschwörungstheoretiker so gerne behaupten. Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten.»

    Ihre These sei so, wie ich sie interpretiert habe, nicht gemeint gewesen, suggerieren Sie. Insbesondere sei es ein Fehler von mir, Ihnen zu unterstellen, Sie hätten damit eine Aussage über den gegenwärtigen Zeitpunkt treffen wollen.

    In Ihrer Replik folgt dann im Sinne einer Kontextualisierung ein längerer informativer Diskurs zu empirischen Befunden über das Außmaß der COVID-Berichterstattung in den ersten Monaten der Pandemie, eingeordnet in ein Phasenmodell für Medienhypes.

    Dazu von meiner Seite zwei Punkte:

    (1) Im Zentrum meiner Kritik an Ihrem ursprünglichem Artikel stand nicht die Frage, wann und in welchem Ausmaß journalistische Medien über die Pandemie berichtet haben. Das ist eine empirische Frage, die ich auch getrost den Empirikern überlasse. Ich habe mich in der Tat zu einer Behauptung darüber hinreißen lassen, ob man die Medien des Alarmismus zeihen solle. Meine (sinngemäße) Antwort: Nein, angesichts einer Naturkatastrophe von einem solchen Ausmaß ist eine alarmierende Thematisierung von Seiten der Medien durchaus angemessen.

    Worum es mir aber in meiner Kritik wirklich ging, war eine implizite Kausalitätsthese in Ihrem Zitat: Wenn der Druck der Medien so groß sei, könne die Politik kaum anders reagieren als mit einschneidenden Maßnahmen wie einem Lockdown.

    Fairerweise muss ich einräumen, dass Sie hier nicht behaupten, ein solcher medialer Druck sei notwendig und hinreichend für derartige politische Entscheidungen. Sie lassen durchaus offen, dass auch andere Faktoren zu Lockdown-Entscheidungen führen können. Aber die Suggestion Ihrer These bleibt, dass der mediale Druck für Entscheidungen zu radikalen Eindämmungsmaßnahmen eine große, wenn nicht gar entscheidende Rolle gespielt habe oder spiele. Lassen wir zunächst offen, ob hier die erste oder zweite Welle gemeint ist.

    Meine Einschätzung ist nun, und das war der zentrale Punkt meines Arguments, dass diese Suggestion in Situationen, in denen Politik auf Naturkatastrophen wie die Corona-Pandemie reagiert, verfehlt ist. Dass diese Suggestion darüber hinaus auf einer Überschätzung der Rolle der Medien und der öffentlichen Meinung – zumindest in solchen Katastrophensituationen – beruht.

    Medien spielen natürlich auch in einer solchen Lage eine wichtige Rolle, aber eher in einem Sinn, der Ihrer spezifischen Kausalitätsthese widerspricht: In der letzten Pressekonferenz zum November-Lockdown machte Angela Merkel deutlich, dass die Politik schon zwei Wochen früher zu einschneidenden Maßnahmen bereit gewesen wären, wie sie aus der Wissenschaft gefordert worden wären. Es habe aber noch an der öffentlichen Akzeptanz gefehlt. Wäre, wie Sie suggerieren, der mediale Druck in Richtung einschneidender Maßnahmen tatsächlich so groß gewesen, wäre eine solche Latenz mit Sicherheit nicht nötig gewesen.

    (2) Nun zu dem eigentlichen Punkt, den Sie zur Verteidigung Ihrer "zugespitzt formulierten" These anbringen: Sie hätten damit keine Aussage über die aktuelle Lage machen wollen.

    Von dem hervorragenden Philosophiehistoriker Quentin Skinner habe ich gelernt, dass man Veröffentlichungen – auch diejenigen von Gelehrten – immer auch als Sprechakte interpretieren muss. Das gehört, neben dem Verständnis des buchstäblichen Sinns und darüber hinaus, zu einer verantwortungsvollen Interpretation. Wie jede mündliche Äußerung hat auch jede Veröffentlichung Adressaten, ihren Zeitpunkt, ihre kommunikative Absicht. Erst wenn wir dies mit berücksichtigen, werden wir der Veröffentlichung wirklich gerecht.

    Und ich frage mich natürlich, auch wenn Sie in Ihrer Einleitung jetzt anderes suggerieren: Wie soll man Ihre Veröffentlichung eines solchen Artikels, in der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Thema, mit dieser "zugespitzten" These, am 26. Oktober 2020, zwei Tage vor dem Bund-Länder-Gipfel zur zweiten COVID-19-Welle, anders interpetieren – als ein Statement zur aktuellen Lage?

    Zusammenfassend gesagt: Wenn ich, wie Sie vollkommen zu Recht einfordern, Ihren Artikel und dessen zentrale These kontextualisiere, finde ich (1) in dem von Ihnen angeführten sachlichen Kontext (empirische Befunde über Umfang der COVID-Berichterstattung) keine Widerlegung meiner These, und (2) im kommunikativen Kontext Ihres ursprünglichen Beitrags starke Indizien dafür, dass es Ihnen sehr wohl um ein Statement ging, das Relevanz für die aktuelle Lage hat.

    Politisches Handeln alternativlos ?

    Sie unterstellen mir dann, ich würde den Regierenden das Geschäft abnehmen wollen, indem ich ihre Entscheidungen als "alternativlos" darstelle. Nein, das tue ich mitnichten. Ich spreche sehr bewusst von "Rahmenbedingungen", die politisches Handeln beeinflussen, von "Handlungsspielräumen", die je nach Situation weiter oder enger sein können.

    Mir ging es darum, dass diese Rahmenbedingungen politischen Handelns in einer Naturkatastrophe wesentlich mehr als sonst durch hochdynamische natürliche Faktoren bestimmt werden, und dass es Situationen gibt, in denen diese Faktoren eindeutig Vorrang vor etwaiger medialer Einflussnahme einfordern.

    Welches politische Handeln oder welche Maßnahmen jetzt oder in vergleichbaren Situationen adäquat sind, würde ich mir nicht zu beurteilen anmaßen. Aber in der Tat, in einer Naturkatastrophe, in der die natürlichen Faktoren die Oberhand haben, werde ich deutlich lieber von einer Naturwissenschaftlerin regiert als von jemandem, die oder der aus der Medienwissenschaft kommt. Das würde ich auch sagen, wenn ich selbst Medienwissenschaftler wäre, lieber Herr Ruß-Mohl. Tatsächlich unterrichte ich zwar Journalismus, bin aber ausgebildeter Philosoph und Kognitionswissenschaftler. Und ich bin mir sicher, auch ein platonisches Philosophenkönigtum wäre der gegenwärtigen Bundesregierung im Moment nicht vorzuziehen.

    Gesichertes Wissen ?

    Schließlich nehmen Sie mir die folgenden Sätze übel: "Anders als beim Beginn der Pandemie sind die Eckdaten mittlerweile klar. Wir wissen genug darüber, wie die Infektionszahlen sich entwickeln, wie kennen die Anteile schwerer Krankheitsverläufe und den daraus resultierenden Behandlungsbedarf." Dies sei "für einen Journalistik-Professor" eine "ziemlich kühne Behauptung". Touché.

    Allerdings bin ich auch Journalist gewesen und kenne die Prinzipien guter Recherche. Ich folge seit Monaten einer Vielzahl von internationalen Expertinnen und Experten verschiedener Fachgebiete (Virologie, Epidemiologie, Medizinstatistik, etc.) auf Twitter, lese deren verlinkte Artikel und nehme ihre Einschätzungen wahr und ernst.

    Ich würde nie behaupten, nunmehr sei alles über COVID-19 bekannt. Ich würde mir auch nicht zutrauen, die Befunde der Expert:innen detailliert und profund bewerten oder gar kritisieren zu können. Aber es hat sich mir der, glaube ich, belastbare Eindruck aufgedrängt, dass es – im Gegensatz zum Frühjahr – mittlerweile einen Kernbestand von Einsichten über das Virus und seine Auswirkungen gibt, über den unter den ernstzunehmenden Expert:innen Konsens besteht. Als Evidenz hatte ich auf die doch erstaunlich genauen Prognosen von Personen wie Lauterbach und Drosten für diesen Herbst/Winter hingewiesen.

    Natürlich bleiben viele Fragen offen, natürlich verbleiben die Entscheidungen auch weiterhin unter Bedingungen der Unsicherheit, worauf ich auch eingangs meines Artikels hingewiesen hatte. Aber wollten Sie bestreiten, lieber Herr Ruß-Mohl, dass wir uns auf Erkenntnisse über das Ansteckungsrisiko in asymptomatischen Infektionsphasen, die Bedeutung von Aerosolen bei der Übertragung, über den Zusammenhang von Verlaufsschwere, Alter und Vorerkrankungen, über die Bedeutung von Masken u.v.m. stützen können? Sind die "Eckdaten" von denen ich bewusst gesprochen habe, wirklich noch alle unklar? Wissen wir Ihrer Meinung nach wirklich noch nicht "genug", um bei einer Entwicklungskurve wie der momentan beobachtbaren einen drastischen Handlungsbedarf ableiten zu können?

    Lieber Herr Ruß-Mohl, Sie nehmen stolz für sich in Anspruch, mit Ihrem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung "einen Nerv getroffen" zu haben, und zitieren dazu als Beleg fairerweise ebenso zustimmende wie ablehnende Kommentare. Auch wenn Sie mich weiter eher für die ablehnende Seite verbuchen müssen, hoffe ich, dass Sie mich nicht zu den reinen Polemikern zählen. Ich jedenfalls empfinde es als Gewinn, mit Ihnen über diese Fragen diskutieren zu können.

  2. Mein (subjektiver, nicht durch Untersuchungen irgendeiner Art untermauerter) Eindruck der „medialen Realtiät“ ist ein ganz anderer als der, den Sie, lieber Herr Russ-Mohl, wiedergeben: In den Medien wird, so wie ich es wahrnehme, vor allem thematisiert, welche Folgen die Maßnahmen gegen das Virus für bestimmte Gruppen von „Betroffenen“ haben – verkörpert durch Hotelbesitzerinnen oder Besitzer in einer öden Rezeption, Wirtinnen und Wirte, die an einer leeren Theke Gläser waschen, oder überlastete Erzieherinnen und Erzieher. Diese laufend wiederholten Geschichten lassen nicht nur das Virus, sondern auch die – gerne vor allem als zerstritten bezeichneten – Verantwortlichen für Maßnahmen in Politik und Medizin als Gegner erscheinen. Die Realität in den Kliniken, das Sterben von Covid-19-Patientinnen und Patienten und die Einsamkeit und Angst der Älteren, für die Kontakte mit Jüngeren gefährlich sind, werden dem Publikum vergleichsweise selten zugemutet. Man findet auch nicht viel über die Maßnahmen, durch die in ostasiatischen Ländern die „community infections“ tatsächlich unterbunden wurden. Die Medien haben so etwas wie eine Wutbürger-Stimmung genährt, die sich, wenn ich es richtig sehe, auch in den positiven Reaktionen auf Ihren Artikel in der Süddeutschen äußert. Durch diese Stimmung wurden wirkungsvolle Maßnahmen gegen das Virus erschwert.

    Von Journalistinnen und Journalisten vor allem in öffentlich-rechtlichen Medien erwarte ich, dass sie die Validität von Quellen bewerten und nicht einfach Meinungen nebeneinander stellen. Dazu würde es gehören, explizit über die wissenschaftliche Reputation eines Christian Drosten und über die seiner Kritiker zu berichten. Nur ausgehend von dieser wissenschaftlichen Reputation innerhalb des relevanten Fachgebiets und den wissenschaftlichen Validierungsprozessen – etwa in peer-reviewten Journal-Veröffentlichungen – können nicht selbst Forschende berichten, was über das Corona-Virus und die Pandemie bekannt ist.

    Da Sie sich selbst als Wissenschaftler äußern, würde mich interessieren, wie Sie die Bedeutung dieser Validierungsprozesse für den Journalismus und besonders den Wissenschaftsjournalismus einschätzen. Woran soll man sich journalistisch orientieren, wenn man nicht nur „he said/she said-journalism“ betreiben will? Wann kann man sicher sein, nicht in einem „Panik-Orchester“ mitzuspielen? Ich befürchte, dass Sie durch den Vorwurf der Panikmache zu Wissenschaftsskepsis beitragen und damit das „group thinking“, das Sie zu Recht angreifen, gegen Ihre Intention unterstützen.

  3. Ja, lieber Heinz, das habe ich persönlich auch als ein beklagenswertes Defizit in der professionellen Medienberichterstattung empfunden: Die Leidensperspektiven der Risikogruppen, der Erkrankten mit mittleren und schweren Verläufen, das Erleben des medizinischen Personals – darüber habe ich zwar immer wieder Bedrückendes gelesen, aber überwiegend nicht auf journalistischen Plattformen, sondern in unmittelbaren Berichten auf sozialen Medien. Wie du muss auch ich einräumen, dass diese Beobachtung rein subjektiver Natur ist und auf persönlicher Wahrnehmung beruht. Aber wir sind mit dieser Wahrnehmung nicht alleine, vgl. dazu beispielsweise auch den aufrechten Herrn Püttmann.

    Jedenfalls würde ich mir mehr anschauliche Berichte über die medizinischen Folgen der Pandemie wünschen. Wenn man leibhaftig sehen würde, wie sich mittlere und schwere Verläufe der Infektion anfühlen, würde das vielen "Ist-ja-nur-ne-Grippe"-Skeptikern den Wind aus den Segeln nehmen. Die tatsächlichen Verhältnisse und gelebten Erfahrungen in den Kliniken, bei Patienten und Personal, vor allem, aber nicht nur, auf den Intensivstationen, sind in meinen Augen medial zu kurz gekommen.

    Als Ausnahme erinnere mich intensiv an eine sehr eindrückliche Fernsehreportage des funk-Formats "STRG-F", in dem u.a. italienische Ärztinnen und Pflegekräfte vom Höhepunkt der Krise in Italien berichteten. Aber mehr solche Berichte würden dann wohl eher auf den von vielen ja beklagten ‘Alarmismus’ einzahlen.

    Man könnte oder sollte auch mehr über die potentiellen Langzeitfolgen von COVID-Infektionen berichten, die ja nicht nur bei schweren Verläufen zu beklagen sind. Ich nenne als indirektes Beispiel hier nur den erschreckenden Bericht der irischen Publizistin Maria Farrell, die nach einer anderen Virusinfektion (mit dem Epstein-Barr-Virus) viele Jahre lang an dem ‘chronique fatigue’-Syndrom litt, das offensichtlich auch nach COVID auftritt. Aber auch das: eher ein Beitrag zum Alarmismus…

    Und natürlich sollte man auch über die psychosozialen Folgen der Pandemie und ihrer Bekämpfung berichten sollte. Nach meiner Erfahrung findet dies in dedizierten Online- und Jugendmedien eher statt als in den traditionellen Medien. Auch hier wieder eine Folge von “STRG-F” als Beispiel. (Triggerwarnung: In dem Video wird eine Angstattacke gezeigt.)

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