«Covid, Covid, Covid“ klagte Donald Trump in den letzten Wochen vor dem Wahltag, so berichtete Zeit-online. Die Corona-Pandemie sei viel zu stark in den Medien vertreten, in der Absicht, ihm zu schaden – niemand werde nach der Wahl noch über das Virus reden, sagte der US-Präsident voraus. Absehbar ist leider das Gegenteil: Covid19 und wohl auch der Trumpismus als besonders skurrile Variante von Populismus werden noch lange unser Leben beeinflussen. Die Präsidentschaft Trump wird dagegen in unserer auf die Jetzt-Zeit bezogenen Medienwelt wohl bald der Vergessenheit anheimfallen.
Wenn indes der Trumpismus bleibt, dann hat das viel mit der Aufmerksamkeitsökonomie zu tun, in welche Nachrichtenmedien eingebettet sind. Ich behaupte weiterhin: Sie prägt auch die Berichterstattung über Covid19. Die Medien, leider auch die «seriösen» Leitmedien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der eigentlich als Gegengewicht zu den kommerziellen Medien gedacht ist – sie alle leben von Hypes, von Übertreibung, von Angstmache und leider auch zunehmend von einseitiger Berichterstattung. Und wir haben uns so sehr ans mediale Panikorchester gewöhnt, dass viele von uns den Overkill an Trump- und Coronaberichterstattung inzwischen offenbar bereits für «normal» halten.
Die beiden Statements von Lorenz Lorenz-Meyer – seinen eigenen Blogpost sowie seinen Kommentar (erster Eintrag im Anschluss an meinen Text „Die zweite Welle“) ebenso wie die Podcast-Diskussion von Horand Knaup und Wolfgang Storz verbuche ich als konstruktive Rückmeldungen. Sie beleben den Diskurs, weshalb ich hier meinerseits noch einmal in die Diskussion einsteige. Diesmal ziehe ich aber bewusst Verbindungslinien zwischen der Trump- und der Coronaberichterstattung, auch wenn sie auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun haben.
Zur Verwunderung über den medialen Trump-Hype siehe auf Bruchstücke auch
„Das politische Publikum ist im falschen Film„
Aufmerksamkeitsökonomie, das heisst zunächst, dass Nachrichtenmedien im Wettbewerb um Aufmerksamleit mehr denn je von Hypes, von Übertreibung, Angstmache und eben leider auch zunehmend von einseitiger Berichterstattung leben. Auch Trumps «alternative Fakten», sprich: Lügen, waren das perfekte Futter für Medien, die um hohe Clickzahlen konkurrieren. Ähnlich hochwirksam im Blick auf Clicks ist die Corona-Pandemie, so lange jedenfalls, wie von den Medien über Wochen und Monate hinweg geschürte Ansteckungsangst die Mediennutzung antreibt und steigert.
Blickwinkelverengung = Italienisierung
Man kann diese coronamonomane Berichterstattung auch als Italienisierung des Journalismus deuten: Die Mitte der 70er Jahre gegründete Zeitung La Repubblica und deren legendärer Chefredakteur Eugenio Scalfari haben das dubiose «Erfolgsrezept» jahrelang vorgemacht, und sie haben Nachahmer gefunden: Täglich – und bei entsprechender «Konjunktur» eben auch mal eine Woche oder einen Monat lang – wird ein Thema vorgegeben. Anderes – und somit der Rest des Weltgeschehens wird zurückgefahren, ja tendenziell ausgeblendet. Als Marlene Dietrich verstarb, gab es in La Repubblica nach meiner Erinnerung rund ein Dutzend Seiten Nachruf-Berichterstattung.
Es genügt, eine beliebige deutsche Tageszeitung in Zeiten der Corona-Virus-Schockstarre, also im März und April 2020, durchzublättern: Genauso toxisch wie das Virus selbst war im Blick auf Angsterzeugung die exzessive Berichterstattung darüber. Natürlich galt es – da haben Horand Knaup und Wolfgang Storz recht – den Informationshunger des Publikums zu stillen. Aber weniger Bombardement mit Zahlen und mehr Einordnung und Perspektivenvielfalt hätten die Angstmache reduziert. Und weil das Weltgeschehen ja doch sehr viel facettenreicher und komplexer ist als Covid19, ist ein monothematischer Information-Overload zugleich auch als Desinformation vonseiten der «Qualitätsmedien» zu werten, wie sie eben durch das Weglassen relevanter Nachrichten entsteht.
Letztlich ist die Selbstgleichrichtung der Medien auf Corona auch ein Freibrief für alle, die möglicherweise Kritik und Kontrolle der Vierten Gewalt zu befürchten hätten: Die Wahrscheinlichkeit ist seit März gewiss deutlich grösser geworden, dass sie korrupte und krumme «Dinge» drehen können, ohne dabei ertappt zu werden. Und auch bei Trump, der sogar über Jahre hinweg medialer Dauerbrenner wurde, kann man argumentieren, dass weniger Berichterstattung mehr gewesen wäre. Barack Obama schreibt in seinen soeben publizierten Memoiren, es sei ihm schwergefallen, Trump allzu ernst zu nehmen. Was er indes nicht vorausgesehen habe, sei, dass die Medien ihn ernst nahmen – was natürlich mit seinen Dauer-Attacken auf die Journalisten zu tun hatte.
Nicht minder relevant war, wie zuverlässig Trump mit seinen Tweets und seinen Lügengeschichten Clicks generierte. Übrigens ein Punkt, der genauso wie die Coronaberichterstattung die Frage aufwirft, ob das, was Journalisten allzu exzessiv über bestimmte Themen oder Personen berichten, noch durch «öffentliches Interesse» gedeckt ist, oder ob sie dabei vor allem das Eigeninteresse ihrer Medienorganisationen bedienen und dabei wissentlich oder – noch schlimmer – unwissentlich Kollateralschäden für die Allgemeinheit in Kauf nehmen.
Auch Aufmerksamkeitsökonomie ist Ökonomie
In der Aufmerksamkeitsökonomie geht es eben – sei es bei Trump, sei es bei Corona – nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um Ökonomie. Wer zahlt, schafft bekanntlich an: Zahlende Nutzer sind fürs Überleben von Nachrichtenmedien wichtiger geworden, seit die Werbeerlöse rapide bröckeln, weil Suchmaschinen und soziale Netzwerke zielgruppengenauer und damit effektiver werben können als klassische Massenmedien. Diese immer noch raren und deshalb hart umkämpften zahlungsbereiten Nutzer erwarten indes von Journalisten wohl nur zum kleineren Teil die komplizierte, grauschattierte «Wahrheit», die ja oftmals sogar aus «Wahrheiten» besteht. Der Grossteil von ihnen möchte stattdessen gut unterhalten werden – und ansonsten wohl lieber im Schwarz-weiss-Kontrast seine Vorurteile bestätigt bekommen. Das dürfte erklären helfen, weshalb in einer sich spaltenden Gesellschaft auch die Medien zusehends sich in Lager spalten, statt zwischen diesen Lagern Brücken zu bauen.
Das war in Zeiten anders, als Anzeigenerlöse die Haupteinnahmequelle von Medienunternehmen bildeten. In der alten Medienwelt finanzierten in Deutschland Werbetreibende Zeitungen bis zu zwei Dritteln, in den USA oft sogar zu mehr als 80 Prozent. Den Zeitschriften spülte die Werbung mehr als die Hälfte ihrer Erlöse in die Kasse. Und beim Free TV, also bei RTL, sat1 und weiteren privaten Fernsehanbietern waren es nahezu 100 Prozent. Die Werbetreibenden wollten mit ihren Botschaften möglichst viele Nutzer lagerübergreifend erreichen – also war «catch all»-Berichterstattung statt Parteinahme angesagt. Emil Dovifat, einer der Gründungsväter der deutschen Zeitungswissenschaft, hat dies übrigens schon 1927 in seinem legendären und weiterhin lesenswerten Buch «Der amerikanische Journalismus» festgehalten.
Doch zurück zu den heutigen Mediennutzern. Ihre Zahlungsbereitschaft hält sich weiterhin in Grenzen. Zum einen ist es einfach ein zäher Prozess[1], vor allem jüngere Menschen, die sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt haben, dass Nachrichten «online» gratis zu haben sind, davon zu überzeugen, dass nicht nur Klingeltöne, sondern auch guter Journalismus Geld kosten. Zum anderen schöpft der öffentlich-rechtliche Rundfunk ja auch bei all denen einen beträchtlichen Anteil ihres Medienbudgets ab, die sich bei freier Wahl für ganz andere Medienofferten entscheiden würden. Dies wiederum ist eine Wettbewerbsverzerrung, die angesichts bestehender Machtverhältnisse so gut wie nicht thematisierbar ist, wenn man nicht in die AfD-Ecke abgedrängt werden möchte. Das sagt indes eine Menge über Beschränkungen im Meinungswettstreit, über das sich verengende Meinungsklima aus, wie sie jüngst auch im Appell für freie Debattenräume von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser mit derzeit über 18 000 Unterzeichnern skizziert wurden – und über Bestrebungen mächtiger Gruppen, in Deutschland kulturelle Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis zu erzielen.
Sollten jedenfalls Medienmacher der Hoffnung gewesen sein, coronabedingt steigende Nutzerzahlen würden sich zumindest partiell in kommerziellen Geschäftserfolg ummünzen lassen, so dürften sie weitgehend enttäuscht worden sein, wie das Reuters Institute der Universität Oxford in einer internationalen Umfrage unter Medienmanagern soeben ermittelte. Journalisten müssen mit dem neuen Instrument, online in Echtzeit ihren eigenen «Erfolg» messen zu können, erst umzugehen lernen. Wenn kurzfristig hohe Clickzahlen dazu verleiten, über ein Thema – sei das Corona, sei das Trump – im Exzess zu berichten, wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit mittel- bis langfristig umschlagen und mehr Glaubwürdigkeitsverluste und Newsabstinenz produzieren, als Journalisten und Medienunternehmen lieb sein kann.
Schweden-Bashing
Es irritiert auch und ist für mich ein weiteres Indiz für journalistischen Herdentrieb, dass es ausgesprochen schwierig ist, von den Leitmedien solide Informationen über das interessanteste Konzept der Corona-Bekämpfung zu erhalten, das von der rigiden Bevormundungspolitik der meisten europäischen Länder abweicht: zu Schweden. Das fordern ja auch Horand Knaup und Wolfgang Storz in ihrem Podcast ein. Man kann dagegen durchaus den Eindruck gewinnen, dass in einigen Leitmedien mit einer gewissen Häme registriert wird, dass die Infektionszahlen in Schweden derzeit noch schneller in die Höhe schiessen als bei uns. Das ist freilich in Spanien, wo der Lockdown rigider gehandhabt wurde, ebenso der Fall.
Eigentlich legt all dies nur einen Schluss nahe: dass das Virus trotz aller Eindämmungsbemühungen unberechenbar ist und bleibt. Sind deshalb staatliche Reglementierungen, die über AHAL-Vorgaben hinausgehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit unverhältnismässig? Stiften sie möglicherweise mehr Schaden als Nutzen? Von welchem Punkt an wird Machbarkeitswahn im Kampf mit der Pandemie – und «throwing money at problems» bei der Schadenseindämmung politikverursachter Coronaschäden (Lufthansa, TUI, Hotel- und Gaststättengewerbe, Kulturbetrieb) kontraproduktiv? Und nähren Journalisten, wenn sie ständig Unvergleichbares international vergleichen und die Corona-Berichterstattung als Pferderennen inszenieren, bei dem abwechselnd mal die eine, mal die andere Regierung die Nase vorn hat, nicht Illusionen in Bezug auf die Steuerbarkeit der Pandemie mithilfe von Lockdowns, während doch – angesichts unzähliger intervenierender Variablen zwischen Regierungsentscheidungen, deren Umsetzung und der Ausbreitung des Virus – eher der Zufall regiert? Solche Fragen verdienten weit mehr Aufmerksamkeit und journalistische Rechercheanstrengungen, als sie in den letzten Monaten erhalten haben.
Man scheint jedenfalls auf so unterschiedliche Medien wie Economist und heise.de zurückgreifen zu müssen, um die «andere Seite» der schwedischen Geschichte genauer in Erfahrung zu bringen. Woran liegt das? Verschwörungstheoretiker würden vermuten, die meisten Leitmedien steckten eben doch mit der Bundesregierung unter einer Decke. Das ist natürlich grober Unfug. Meine Annahme geht indes dahin, dass vor Ort in Schweden kaum noch ein Auslandskorrespondent akkreditiert ist und somit letztendlich eine Handvoll Journalisten, die obendrein untereinander gut vernetzt sind, bestimmen, was Agenturen und Leitmedien über das kleine Land im deutschsprachigen Raum berichten.
Wie das funktioniert, beschreiben übrigens aktuell Petra Reski und Susanne Knaul am Beispiel Italiens und Israels in Kapiteln zur Auslandsberichterstattung in unserem neuen Reader «Streitlust und Streitkunst». Aus eigener Erfahrung kann ich beisteuern, dass auch über die kleine benachbarte Schweiz die Redaktionen beim «next door giant» Deutschland nur sehr selektiv berichten – fast schon nach Lust und Laune der wenigen, dort ansässigen Korrespondenten. Wobei diese sich wiederum mit ihren Berichterstattungsvorschlägen oftmals in den Zentralredaktionen nicht durchsetzen können, weil das kleine Nachbarland doch «eher unwichtig» im Vergleich zu Trumps Tweets und Lügengespinsten oder zu den Fieberkurven der Corona-Infizierten im eigenen Land ist. Dabei sind es oft die kleinen Länder, die mit kreativen Lösungen politischer und gesellschaftlicher Probleme aufwarten und somit mehr Aufmerksamkeit verdienten.
Zwischenbilanz
Die skizzierten Fehl-Entwicklungen bei der Corona-Berichterstattung seien nochmals in Stichworten zusammengefasst: Der Overkill an Covid19-Nachrichten über Monate hinweg war – zumindest partiell – Angst- und Panikmache. Er hat zur Verengung von Sichtweisen, ja zum Tunnelblick auf die Welt geführt. Fehlende Wissenschafts- und Medienjournalisten hatten in den Redaktionen einen eklatanten Mangel an Einordnung des Geschehens zur Folge. Insbesondere wurden und werden wir mit Infizierten-Statistiken und anderen Daten bombardiert, ohne dass diese angemessen interpretiert worden wären. Es wurden lange Zeit immer dieselben Experten vorgeführt – und leider sind es oftmals leider nicht die 20 oder 30 besonders Qualifizierten, von denen Knaup und Storz reden, sondern eher drei bis fünf vor allem medienkompetente, Talkshow-erprobte Forscher, die herumgereicht werden und sich dann oftmals noch über ihre Fachgrenzen hinaus «wissenschaftlich» äussern. Die PR-Abhängigkeit des Journalismus nicht zuletzt von regierungsnahen Forschungsinstituten wie dem Robert Koch Institut wurde nicht thematisiert – ebenso wenig die Fernsteuerung der Covid19-Berichterstattung aus China, insbesondere aus Wuhan, durch chinesische Staatspropaganda, die ihrerseits Handlungsdruck auf unsere Politiker aufgebaut haben dürfte. Die einseitige Fokussierung auf Corona führte auch dazu, dass bei vielen anderen Themen die Berichterstattung vernachlässigt und damit die Kontroll- und Kritikfunktion der Medien ausgehebelt wurde.
«Anwälte des Teufels» als Gegengewicht und Diskursstimulanz
Aus Verzweiflung über die zunehmende Einseitigkeit und die Regierungsnähe der Corona- Berichterstattung in den deutschsprachigen Leitmedien haben sich soeben einer der prominentesten Ökonomen der Schweiz, Reiner Eichenberger, zusammen mit seinem Bayreuther Kollegen David Stadelmann aus der Deckung gewagt. Weil die Qualitätsmedien «mehr auf Panik als auf Analyse» gesetzt hätten, schlagen sie die Institutionalisierung von «Anwälten des Teufels» vor, die als unabhängige Instanzen und Kritiker, Pflichtverteidigern oder Rechnungshöfen nicht unähnlich, den Regierungen Contra geben – was auszuweiten wäre auf die Medien, wenn diese dem Herdentrieb verfallen oder allzu gläubig PR oder Propaganda nachbeten. Das ist ein Konzept, das ergänzend zu Ombudsleuten und zu mehr Medienjournalismus Wirkung zeitigen könnte – nur wird es absehbar weder in der Branche noch in der Politik Mutige geben, die sich für solche Selbstkontrollinstanzen einsetzen.
Was ich abschliessend noch gerne zu meinem Bruchstücke-Eintrag «Die zweite Welle» zurechtrücken und ergänzen möchte: Die Rückmeldungen aus dem Journalismus zu meinem SZ-Gastkommentar über Herdentrieb und das mediale Panikorchester bestanden nicht nur aus Abwehrreflexen. Es gab auch viele Angeboten zur Anschluss-Kommunikation – von der Wochenzeitung über grosse Regionalblätter, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis hin zu Branchendiensten. Das lässt sich als Diskursbereitschaft, ja teilweise auch als wohlwollendes Interesse an meinen Thesen werten. Zu erwarten, dass das an der journalistischen Praxis etwas ändern würde, wäre allerdings vermessen: Journalisten sind Gewohnheitstäter, ihre Alltagsarbeit, so ein alter Branchenkalauer, wird von drei Verhaltensmustern bestimmt: «Das haben wir schon immer so gemacht», «Das haben wir noch nie so gemacht» und «Wo kämen wir denn da hin.»
Schweigsame Wissenschaft
Am allerwenigsten Echo auf meinen Denkanstoss in der SZ gab es übrigens aus der Scientific Community. Da haben vermutlich der Semesterbeginn und die Herausforderung, weitere Monate Vorlesungen und Seminare digitalisiert gestalten zu müssen, Schreibhemmung ausgelöst.
Unter den raren Ausnahmen ist immerhin die prononcierte Rückmeldung des Germanisten und Medienwissenschaftlers Erhard Schütz in einer Email an mich; sie bestätigt im Grunde, was auch mein Versuch intendiert, Medienhypes in ihre zyklisch wiederkehrenden Einzelphasen zu zerlegen. Mit ihr möchte ich schliessen:
Von meinen eigenen Lektüren/Sichtungen und Beobachtungen her bin ich ganz einverstanden. Allerdings sehe ich das schon länger als strukturelles Problem eines mainstreamigen Gutetaten- und Aufklärungsanspruchsjournalismus: Aufmerksamkeitsüberbietungsprofis mit internalisiertem Erwünschtheiten-konsensualismus und allfälliger Akzeptanzgratifikationsversicherung treiben jedwedes Aufregerthema in immer höher schlagenden Wellen vor sich her, bis es umschlägt – und dann rudern sie genauso vehement überzeugt auf der Gegenwelle. Bei Corona kann man schon sehen, wie jetzt die ‚kritischen‘ Stimmen sich mehren, die vorher noch Apokalypse gedröhnt hatten. Oder um in Anlehnung an Ijoma Mangolds Formulierung vom selbstgerechten Gewissheitston zu sprechen: Eine reflexhafte, völlig unselbstreflexive Rechtschaffenheitsgewissheit.
Email an den Verfasser vom 5.11.2020
[1] Dan Ariely (2008), The Cost of Zero Cost. Why we often Pay Too Much When We Pay Nothing, in: ders., Predictibly iirrational, New York: Harper Collins, 49ff.
Volle Zustimmung. Das ist genauer als Ihr Text in der SZ und entspricht leider auch meiner nicht medien-wissenschaftlichen, aber journalistischen Wahrnehmung. Corona zeigt in der Medienwelt, wie in anderen Bereichen, schlaglichtartig Strukturprobleme einer verzerrenden, verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit auf, die es schon länger gibt. Und die sich unter den Zwängen der Click-Ökonomie weiter verschärfen. Ich kann mir die Verzweiflung in nicht wenigen Redaktionen sehr lebhaft vorstellen, dass Trump demnächst als Dauer-Takt- und Empörungs-Geber verschwinden wird. Was passiert erst, wenn die jetzige Pandemie irgendwann vorüber ist? Dann warnen diese Medien vor der nächsten, dem nächsten Populisten, Trumpisten… The games must go on
Ich bin es ehrlich gesagt müde, dass wir an dieser Stelle noch ein weiteres Mal die immergleichen, völlig unbelehrten Kritikmuster vom „Panikorchester“ (schon mal in die USA oder die Schweiz geschaut?) oder dem „Schweden-Bashing“ der Medien (schon mal nach Schweden geschaut?) diskutieren sollen… Statt einer weiteren, mit großer Wahrscheinlichkeit fruchtlosen argumentativen Erwiderung nehme ich mir die Freiheit, auf einen Artikel zu verlinken, der Medienkritik in einem ganz anderen, aus meiner Sicht wesentlich fundierteren Sinn betreibt. In einer ersten Kooperation der exzellenten Medienkritiker von „Übermedien“ und des ebenfalls hervorragenden wissenschaftsjournalistischen Netzwerks „RiffReporter“ entstand der folgende Kommentar:
Peter Spork: Die eigentlichen Corona-Opfer kommen in den Medien viel zu kurz
Und gleich noch ein weiterer einschlägiger, aktueller Artikel, diesmal von den Krautreportern:
Indi Samarajiwa: Der blinde Fleck der CoronaBerichterstattung
Da Sie, lieber Lorenz Lorenz-Meyer, als Kollege und Mit-Betreiber dieser Website ja erkennbar den Diskurs nicht fortsetzen möchten („fruchtlos“, „immergleiches, völlig unbelehrbares Argumentationsmuster“), habe ich mich erstmal zurückgezogen von „Bruchstücke“. Das ist leider genau die Form von Diskurs, die wir nicht brauchen und der ich auch mit unserem neuen Büchlein zu Streitlust und Streitkunst entgegenwirken möchte….
https://www.halem-verlag.de/streitlust-und-streitkunst/
An einem Punkt würde ich mir allerdings doch Rückmeldungen von der „Bruchstücke“-Leserschaft erhoffen. Wie interpretieren Sie die Statistik zu den nachgewiesenen Corona-Todesfällen pro Million Einwohner – im Blick auf die Wirksamkeit staatlicher Steuerung und natürlich auch auf das fortdauernde mediale Panikorchester, das ja weiterhin so tut, als könnten Lauterbach, Merkel und Söder mit Erfolgsaussichten das Pandemiegeschehen eindämmen, indem sie über weitere Monate hinweg das Kulturleben und gewichtige Teile der Wirtschaft lahmlegen, obschon wir immer noch sehr, sehr wenig über die Ausbreitungsdynamik des Virus wissen?
Eine Grafik dazu stellt die University of Oxford tagesaktuell bereit:
https://ourworldindata.org/coronavirus
Sie können sich selbst aussuchen, welche Länder Sie angucken möchten. In meiner heutigen Länderauswahl rangieren Italien, Schweiz und Belgien bei den Todesfällen ganz oben, das Vereinigte Königreich, Schweden, Spanien, die USA und Frankreich im Mittelfeld. Deutschland, die Niederlande und Dänemark rangieren am Ende der Tabelle. Zwei Wochen zuvor war Belgien einsamer Spitzenreiter. Die USA und Deutschland rangierten noch vor Schweden (!).
Wer getraut sich, hier einen „nachweisbaren“ Zusammenhang zwischen Eindämmungsmassnahmen und Sterbestatistik zu belegen? Und wer tendiert dazu, dass viele intervenierende Variablen – und damit auch Glück und Zufall – das Pandemiegeschehen bestimmen? Könnte es sein, dass die Regierungen insgesamt eher willkürlich und ohne nachweisbare Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie agieren, und sich die Politik um die von ihren mit Lockdowns verursachten Kollateralschäden zu wenig schert?
Sie sehen schon, ich bin – jedenfalls von Lorenz Lorenz-Meyer – nicht belehrbar…
Ja, in der Tat: Nicht nur „unbelehrt“, wie ich oben geschrieben hatte, sondern offenkundig unbelehrbar. Wieder der völlig unangebrachte Begriff des „medialen Panikorchesters“, der es Ihnen sehr angetan haben muss. Wieder die Fixierung auf die ‚Kollateralschäden‘ des Lockdowns, statt auch einmal auf die direkten Schäden durch die Pandemie, die Situationen in den Krankenhäusern, in den Intensivstationen, bei den Langzeitpatienten zu schauen. Ich tendiere mehr und mehr dazu, diese Art von Betriebsblindheit als eine Verdrängung der Möglichkeit von eigenem Leid und Tod zu interpretieren.
Vor allem aber wieder eine vollkommen einseitige Beispieldiät westlicher Länder, statt auf die – beispielsweise asiatischen und ozeanischen – Länder zu schauen, die mit einer klareren Einschätzung der realen Bedrohung und damit deutlich rigideren Maßnahmen weit bessere Effekte in der Eindämmung der Pandemie erzielt haben.
Stattdessen ein weiteres schreiendes Non Sequitur über die aktuellen „Lockdown Light“-Maßnahmen der deutschen Landesregierungen. Denn wenn eins nun wirklich nicht in Frage steht, dann dieses: Auch die rabiateren zweiten Wellen haben sich mit Lockdown-Maßnahmen eindämmen lassen. Problem war nicht, dass die Regierungen sich zu wenig um die Kollateralschäden des Lockdowns gekümmert haben, sondern dass dieser Lockdown nicht radikal genug ist und sich GENAU AUS DIESEM GRUND viel zu lange hinziehen wird.
Also auch hier: Mehr „Panikorchester“ der Medien hätte uns vielleicht das verlogene und selbstmitleidige „Wir haben dieses Virus unterschätzt, alle miteinander“ (Sachsens MP Kretschmer) auf der einen Seite und die fortgesetzte Lobby-Hörigkeit der Politik auf der anderen Seite erspart, und wir hätten mit einer entschlosseneren Politik statt Durchwurschtelei Dauer und Leid des aktuellen Lockdowns verkürzen können.
Noch ein letzter Punkt: Auch wenn es natürlich die von Ihnen zitierten intervenierenden Variablen gibt und die Verläufe in unterschiedlichen europäischen Ländern aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen unterschiedlich verlaufen – was wären dann bitte Ihre Konsequenzen? Fatalismus? Lassen wir doch dem Zufall seinen Lauf…? Unternehmen wir lieber nix und riskieren, dass die Intensivstationen überlaufen, damit die armen Skiurlauber endlich wieder nach Tirol fahren können und der Kulturbetrieb und das Adventsgeschäft des Einzelhandels und der Weihnachtsmärkte nicht beeinträchtigt werden? Mit Verlaub, Ihre hier implizit verfochtene Position ist moralisch höchst fragwürdig.
Lieber Herr Ruß-Mohl, ich sehe, ich werde Sie nicht dazu bringen, sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen oder auch nur die von mir verlinkten Texte zu lesen. Wie ich schon dem Kollegen Klaus Meier nahegelegt habe, der ähnlich schräge Melodien singt wie Sie: Let’s agree to disagree.