Das Büchlein “New Deal heißt Mut zum Konflikt” kommt mit einem gewaltigen Thema daher. Ein Thema, das in unsere Zeit passt, obwohl es aus den 1930er Jahren stammt. Spätestens seit etwa fünf Jahren haben wir mit der Migrationsfrage, der Klimakrise und jetzt der Corona-Pandemie ein Trio existenzieller Problemberge, welche die bisher eingeübte Politik der Trippelschritte als unangemessen erscheinen lassen. Und plötzlich das, wegen Corona: In radikaler Abkehr einer dogmatisch-rigiden Sparpolitik werden hohe Schulden und Investitionen des Staates geadelt. Was so lange als nicht machbar galt, geht eben doch. Das eigentliche Thema dieser Flugschrift.
New Deal. Die Grünen reden seit Jahren von einem New Green Deal, auch die Linke, inzwischen sogar Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission. Kolumnisten wie Thomas Fricke fragen sich, ob nicht der neue US-Präsident Joe Biden wenigstens Ähnliches hinbekomme. Die linke US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez stellte bereits Anfang 2019 einen Plan für einen „Green New Deal“ in den USA vor. Bloß zur Vergewisserung: Mit den zahllosen Deals von Donald Trump hat das nichts zu tun.
Das Label wird im politischen Geschäft also kräftig gehandelt. Oft ohne genaues Wissen über den echten, historischen New Deal, den des Präsidenten Franklin Delano Roosevelt. Steffen Lehndorff hat darüber enorm viel Wissen in einem gehaltvollen, spannend zu lesenden und sehr anregenden Büchlein von nur 90 pocketformatigen Seiten zusammengetragen.
Wie ein politisches Märchen
Es geht um ein Projekt, das einem den Atem raubt, das von heute aus gesehen wie ein politisches Märchen daherkommt — wirklich kann das doch nicht sein: Die USA steckten als Folge der Weltwirtschaftskrise, Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre, in einer tiefen Krise („Große Depression“ 1929). Zig Millionen Arme, die Zahl der Arbeitslosen verachtfachte, das Bruttoinlandsprodukt halbierte sich, die Gesellschaft verharrte in Apathie, hilf- und hoffnungslos.
Präsident Franklin Delano Roosevelt (Amtszeit: 1933 bis 1945) schlug einen Kurs von kaum zu überbietender Radikalität ein. Der Staat finanzierte enorme Programme zur Arbeitsbeschaffung, um Schulen, Kindergärten, Straßen zu bauen und Wälder aufzuforsten. Für große Regionen wurde (oft erstmals) die Strom- und Wasserversorgung aufgebaut. Mindestlöhne und Höchstarbeitszeiten wurden festgelegt, die Rechte der Beschäftigten und Gewerkschaften ausgebaut, Banken reguliert, Sozialversicherungen eingeführt, die Börse unter Aufsicht des Staates gestellt. Viele politische Projekte, die bis heute vielerorts Träume bleiben, waren damals Bestandteil eines Regierungsprogramms.
Vor allem mit seiner Radikalität und Entschiedenheit habe Roosevelt, so Lehndorff, „eine ungeheure gesellschaftliche Aufbruchsstimmung ausgelöst und wurde dann von dieser Stimmung weitergetrieben.“ Die vielen Grasswurzel-Bewegungen hätten die Regierung „teilweise über das hinausgetrieben, was diese ursprünglich vorhatte“. Ein Wechselspiel zwischen Regierungshandeln und gesellschaftlicher Dynamik, das nach Lehndorff das entscheidende Momentum, die entscheidende Triebkraft gewesen war. Und: Roosevelt habe den Mut gehabt, sich „auf unbekanntes Terrain“ zu begeben, sich mit mächtigen Interessengruppen anzulegen, auch deshalb sei „der Funke“ auf Gesellschaft, Beschäftigte und Gewerkschaften übergesprungen. Letztere waren ihm erst gar keine Hilfe, organisierten sie doch lediglich sechs Prozent der Beschäftigten. Erst als die Arbeitgeber versuchten, Entscheidungen zugunsten der Beschäftigten zu blockieren, habe es große Streiks, Demonstrationen und einen „rasanten Aufschwung“ einer neuen Gewerkschaftsbewegung gegeben.
So ganz ohne Faschismus und Stalinismus
Was alle Beteiligten vor allem stark beflügelte: Die Maßnahmen griffen schnell und kräftig. Innerhalb von drei, vier Jahren wuchs die Zahl der Beschäftigten um gut acht Millionen, das Bruttoinlandsprodukt von 1937 lag 40 Prozent über dem von 1932. Die öffentliche Versorgung wurde sicht- und spürbar besser. Verglichen mit dem, was eben noch an Krise war, musste das schnell Geschaffene als Paradies erscheinen. Alles in allem das Werk eines halben Jahrzehnts. Und alles pur demokratisch, so ganz ohne Faschismus und Stalinismus; Systeme, die damals in Europa und anderswo an Macht gewannen oder sie – mit katastrophalen Folgen – ganz übernahmen.
Bemerkenswert, dass es unter Roosevelt beides gab: Einerseits ein großes ehrgeiziges Ziel und den enormen Willen, dieser tiefen Krise etwas Gewaltiges entgegenzusetzen, andererseits „keinen Masterplan“. Und: „Alles war neu und fast alles war umstritten — auch innerhalb der Regierung.“ Dem ehrgeizigen Ziel wurde im Alltag also sehr pragmatisch und gemäß des Konzepts der Stückwerk-Technologie nachgegangen; nach einem Rezept des britisch-österreichischen Philosophen Karl Popper lohnt es sich, in überschaubaren Schritten voranzugehen, weil dann sofort und im Lauf, falls nötig, korrigiert werden kann. Ein Zitat von Roosevelt: „Konzentrieren wir uns auf eine Sache — das Volk und die Nation zu retten; und wenn wir zweimal täglich unsere Meinung ändern müssen, um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir das tun.“ Und ein Beispiel: So habe sich die hohe Besteuerung der Reichen sozusagen auf dem Weg ergeben. Der Grund: Weil die enormen Investitionen ebenso enorme Schulden verursachten, kamen der Präsident und seine Beraterkreise auf die Idee, diese Löcher im Staatshaushalt mit Höchststeuern auf hohe Einkommen und Erbschaften zu stopfen.
Gegenmacht von unten
Spätestens damit hatte Roosevelt nicht nur die Unternehmen, die Banken, die Wall Street und die Reichen gegen sich, sondern auch einflussreiche Medien, wie die von William Randolph Hearst. Roosevelt wich der Konfrontation nicht aus, er suchte sie geradezu. Er selbst stammte aus einer reichen Ostküsten-Familie, kannte als Millionär also Mentalität und Denken seiner Gegner, wurde von denen als „Stalin Delano Roosevelt“ (Hearst) beschimpft. Pure Aggressionen muss er auch wegen seiner öffentlichen Erklärung ausgelöst haben: „Sie hassen mich, und ich begrüße ihren Hass.“ In weiteren öffentlichen Reden erklärte Roosevelt dieser „Wirtschafts-Monarchie“ wortwörtlich den Krieg. Eine Polarisierung, die zur Formierung einer Gegenmacht, zur „Roosevelt Koalition“ von unten führte. Ein Ergebnis dieses Kampfes: 1936 wurde Roosevelt mit mehr als 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
Trotz aller politischen Erfolge: 1938 sei es zu einer Wende gekommen, so Lehndorff. Die beiden Faktoren: Mit härterem Sparen habe Roosevelt versucht, zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zurückzukehren; das sei für ihn wichtig gewesen, ein ausgeglichener öffentlicher Haushalt, in den Augen des Autors ein verhängnisvoller strategischer Fehler. Damit löste Roosevelt eine Rezession und erneut Arbeitslosigkeit aus. Eine politische Wende, die er vielleicht auch vollzog, weil sich in der Zwischenzeit die Machtverhältnisse verschoben hatten: Südstaaten-Demokraten hatten sich offen mit den Republikanern gegen Roosevelt verbündet.
Die Wirtschaft belebte sich in den Jahren 1938/39 wieder — die Ausgabenkürzungen waren zurückgenommen worden —, aber erst mit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941, so Lehndorff, sei es im Rahmen der Mobilisierung und der Aufrüstung dann auch zu Vollbeschäftigung gekommen.
Siehe/ höre auch den Podcast N° 4: “Roosevelt und der New Deal – ein Musterbeispiel für heute?”
Wolfgang Storz und Horand Knaup haben Steffen Lehndorff interviewt.
Steffen Lehndorff, Autor dieser faktenreichen kompakten „Flugschrift“, ging nach vielen Jahren politischer Arbeit (auch an der Spitze der einst einflussreichen Studentenorganisation der DKP) 1990 als Arbeitszeitforscher an das Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Ab 2007 war er Abteilungsleiter „Arbeitszeit und Arbeitsorganisation“ in dem neu gegründeten Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Er forschte auch über industrielle Beziehungen und die Krise in der EU. Lehndorff ist heute Research Fellow an seinem früheren Institut.
Was in den Analysen etwas vage bleibt: Offensichtlich hat es bereits vor der Amtszeit von Roosevelt einen bedeutenden politischen Umschwung gegeben, erhielt er doch bereits 1932 bei seiner Erstwahl 28 Millionen Stimmen (57 Prozent). Vier Jahre zuvor, also bei den Wahlen 1928, hatte seine demokratische Partei noch zwölf Millionen Wähler weniger erhalten. Reichte für diese Wende allein sein Charisma? Denn mehr als Vorschusslorbeeren konnten das nicht sein, konnte er doch in seinem ersten Wahlkampf noch keine Taten vorweisen.
Reichensteuer als nationale Pflicht?
Es gibt immer wieder Hinweise von Lehndorff, noch mehr als um Argumente und Fakten sei es bei diesen harten Auseinandersetzungen um Gefühle und Stimmungen gegangen. Wichtig: das Charisma des Präsidenten, seine neuen Kommunikationsformen; so hielt er beispielsweise wöchentlich Radioansprachen an die Bevölkerung. Auch bei dem Streit um die Neuverteilung des privaten Reichtums war die Frage: Was überzeugt die Mehrheiten mehr — Fakten oder eine gefühlige Erzählung? Martin Schürz macht in seinem Buch „Überreichtum“ (2019) auf eine Rooseveltsche Handlungsvariante aufmerksam, die bei Lehndorff nur am Rande erwähnt wird. Schürz erzählt die Geschichte so: Roosevelt brauchte für seine Politik der Reichenbesteuerung und Umverteilung eine Erzählung, ein emotionales Fundament. Denn der Widerstand der mächtigen Reichen sollte möglichst schwach gehalten werden. Der Ausweg: Die Regierung Roosevelt sprach kaum über das Ausmaß der Ungerechtigkeit, über Arm und Reich. Im Mittelpunkt der Regierungspropaganda stand: der Stolz auf die Nation, das zu rettende Amerika, das Leid jedes Einzelnen, der Niedergang und Börsencrash als Katastrophe, die das ganze Land traf. So wurden die Reichen aus Gründen des Patriotismus und der Barmherzigkeit mit hohen Steuern etwas ärmer gemacht. Dass sie Geld abgeben (müssen), war so nach dieser Lesart Folge einer nationalen Pflicht, nicht des Klassenkampfes.
Wenn das Unmögliche unvermeidlich wird …
Die erste Konsequenz, die Lehndorff aus seiner Forschungsarbeit zieht: Es gehe heute in Sachen einer wirtschafts-ökologischen Umwälzung darum, erst einmal „eine machtvolle gesellschaftliche Reformdynamik … in Gang zu bringen.“ Eben das zu tun, was Roosevelt in den ersten drei Monaten seiner Regierungszeit gelungen ist. Eine solche Dynamik setze jedoch „identitätsstiftende Institutionen und Reformprojekte mit Symbolkraft“ voraus. Aber wie sollen solche anziehenden Großprojekte aussehen? Vermutlich kann an dieser Stelle, die von Lehndorff gewünschte Debatte beginnen.
Milton Friedman, ein ideologisch sehr wirkmächtiger Wirtschaftswissenschaftler, der dem Staat am liebsten gar keine und dem Markt alle Macht zubilligen wollte, der also das Gegenteil dessen vertrat, was Roosevelt praktizierte, werden diese Zitate zugeschrieben: „Nur eine Krise — eine tatsächliche oder empfundene — führt zu echtem Wandel. Wenn es zu so einer Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind.“ Deshalb gehe es darum, „Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird.“ Roosevelt scheint letzteres gut gelungen zu sein.
Steffen Lehndorff, 2020: New Deal heißt Mut zum Konflikt. Was wir von Roosevelts Reformpolitik der 1930er Jahre heute lernen können. Eine Flugschrift. Hamburg, VSA-Verlag, 94 Seiten, 10 Euro.
Wer an einer fundierten Auseinandersetzung mit diesem zur Bearbeitung der Pandemie-Folgen hoch relevanten Thema interessiert ist, der greife zu der 2005 bei Hanser und 2008 als Fischer-Taschenbuch erschienenen Studie von Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933 – 1939.
Sie ist vor dem Banken-Crash erschienen, von Andreas Platthaus in der FAZ und von Andreas Böhm im Schweizer Monat sehr ausführlich und kompetent besprochen worden, hat aber in den damaligen Hochzeiten der marktradikalen Ideologie und der wenig hinterfragten transatlantischen Verzückung in Deutschland, übrigens bis heute, keine angemessene intellektuelle und politische Resonanz gefunden.
Das ist einerseits merkwürdig, angesichts der von Schivelbusch betriebenen transatlantischen Aufklärung par excellence. Andererseits ist sie bezeichnend für spezifisch deutsche Denkhemmungen mit Blick auf den “New Deal”. Die sollten wir jetzt endlich, für einen möglichst offenen und fruchtbaren Umgang mit den gewaltigen ökonomischen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie abräumen und hinter uns lassen.
Vielleicht hätten Schivelbusch und seine Rezensenten mehr Brecht lesen sollen, lieber Herr Riegger, um klarer herausarbeiten zu können, dass die Entfernung weit größer ist als die Verwandtschaft.
“Als der Anstreicher den Ausspruch tat ‘Gemeinnutz geht vor Eigennutz’, schien vielen ein neues Zeitalter angebrochen. Man könnte auch sagen, gerade den Vielen schien ein neues Zeitalter angebrochen, denn der Satz wurde von ihnen so ausgelegt, als ob das Gemeinwohl das Wohl der Vielen sei und nunmehr vor dem Wohl der Wenigen gehen solle. So gewann der Satz ein prächtiges Aussehen. Man erwartete allgemein, daß es dem Anstreichen nicht ganz leicht fallen würde, ihm Geltung zu verschaffen. Es fiel ihm aber, wie es sich bald zeigte, nicht so schwer. Er forderte nämlich nicht von den wenigen Wohlhabenden alleine oder besonders, sie sollten den Nutzen der Vielen über ihren eigenen setzen, sondern er forderte es gerade von den Vielen, sie sollten, jeder einzelne von ihnen sollte den Gemeinnutz vor seinen Eigennutz setzen. Der Arbeiter sollte auf ausreichenden Lohn verzichten und Straßen für die Allgemeinheit bauen. Der kleine Bauer sollte auf ausgiebige Viehpreise verzichten und der Allgemeinheit billiges Vieh liefern usw. So sah also der Satz schon weniger prächtig aus. (Bertold Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen)