Nicht zynisch laufen lassen, sondern humanitäre Lösungen suchen

August 2018: Demonstration der Seebrücke München für die Entkriminalisierung der Seenotrettung, sichere und legale Fluchtwege, sowie eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern (Foto: Rufus/ wikimedia commons)

Warum ist es nicht möglich, zehntausend Migranten aus dem Lager Moria in der EU zu verteilen und unter menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen? Warum gibt es keine systematische Rettung von Ertrinkenden im Mittelmeer? Warum können im Falle neuer Kampfhandlungen in der syrischen Provinz Idlib nicht einige Hunderttausend besonders gefährdete Menschen direkt und sicher in der EU untergebracht werden?
Praktisch wäre das machbar für eine so reiche und starke EU – und sogar für Deutschland allein. Das Problem ist kein sachliches, also fehlender technisch-ökonomischer Möglichkeiten, sondern es ist ein politisches. Es fehlt der politische Konsens für solche Maßnahmen.
Meine These: Ein solcher Konsens wäre möglich. Die Bedingung: Eine grundsätzliche, ehrliche Einigung in der Migrationsfrage! Also nach dem Prinzip eines historischen Kompromisses, der lange hält und der die zentralen Anliegen der Konfliktseiten berücksichtigt. Statt zynischem Laufen-Lassen offensives Suchen nach humanitären Lösungen, darauf kommt es an.

Im Juli habe ich unter dem Titel „Humanitäre Kompromisse statt Polarisierung der Empörten“ die These formuliert, dass ein pauschal beschimpfender Umgang mit der AfD diese nicht schwächt, sondern im Gegenteil stärkt. Wenn sehr viele WählerInnen, die mit der Migrationspolitik Probleme haben, sich in dieser Frage von der etablierten Politik ungehört und ausgegrenzt fühlen, drohen Proteste und auf die Dauer sogar die Umorientierung nach rechts. Um das zu verhindern, sei so etwas wie ein Historischer Kompromiss in der Migrations-Frage nötig, so mein Vorschlag, den ich hier ausführen will.

Foto: Rufus/ wikimedia commons

Humanitäre Lösungen sind die Alternative zur Blockade und zum Versuch, unter Vorwänden vollendete Tatsachen zu schaffen. Letzteres findet aber zur Zeit statt: es wird auf beiden Seiten unehrliche Politik betrieben. So werden unter dem Vorwand technischer Sicherheitsüberprüfungen, Rettungsschiffe möglichst lange von italienischen, maltesischen und deutschen Behörden an Land gehalten. Mit dem treuherzig vorgetragenen Argument: Wer kann denn etwas gegen die korrekte Ausrüstung von Schiffen haben? Auf der anderen Seite wird gefragt: Wer kann denn etwas gegen die Rettung von Menschen vor dem Ertrinken haben? Wollen wir nicht alle aus Seenot gerettet werden?
Wenn es nur um einige Tausend Schiffbrüchige im Jahr ginge oder um einige Zehntausend Migranten auf griechischen Inseln, dann hätte es längst Lösungen gegeben. Das eigentliche Problem aber wird im „politisch akzeptablen“ Spektrum (also links von der AfD) nicht thematisiert, nicht von den „See-RetterInnen“, nicht von den sie unterstützenden politischen Gruppen, auch nicht von der CDU.

Das eigentliche Problem

In den an Europa angrenzenden Kontinenten lebt etwa eine Milliarde Menschen unter unbefriedigenden bis katastrophalen Lebensbedingungen – und zwar auch ohne Krieg oder politische Verfolgung. Wenn auch nur 5% dieser Menschen innerhalb der nächsten zehn Jahre in die EU kämen, wären das 50 Millionen.
Eine völlig übertriebene, nur auf Panikmache ausgerichtete Größenordnung?

Flüchtlingslager in Eritrea (Foto: Pixabay)

In Indien leben 1,3 Milliarden Menschen und von denen mindestens die Hälfte in Armut. In Pakistan 215 Millionen. In Schwarzafrika 1,4 Milliarden. Aus Sicht mindestens der Hälfte dieser Bevölkerungen stellt das bei uns zu Recht als zu niedrig kritisierte „HartzIV“ eine hoch attraktive Versorgung dar. In vielen afrikanischen Ländern wird in Großfamilien Geld gesammelt, um die hohen Kosten für die Migration eines jungen männlichen Familienmitglieds zu übernehmen. Als Investition in zukünftige Renditen in Form von Überweisungen oder Nachzugsmöglichkeiten für weitere Familienangehörige.

Niemand, auch keine Politikerin, kann vorhersagen, wie viele Menschen bei einem liberalen Grenzregime (also sicheren Wegen in die EU für alle) kämen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es sich dabei um Größenordnungen handelt, die selbst aus Sicht migrations-freundlicher Parteien unbewältigbar sind. Die Wahrscheinlichkeit ist so hoch, dass verantwortliche Politik dieses Problem ehrlich diskutieren muss, statt schön-redend zu verdrängen.

Warum in ganz Europa die Migrationskritik stark zunimmt

In den letzten Jahren haben sich immer mehr WählerInnen umorientiert. Leute, die bisher Menschen mit anderer Hautfarbe bei entsprechendem Verhalten als willkommene MitbürgerInnen akzeptiert haben, die bisher Kriegsflüchtlingen helfen wollten und für die Nazi-Nähe völlig unakzeptabel ist, beginnen sich zu verändern. Sie haben zunehmend den Eindruck eines Umkippens großer Teile unserer Gesellschaften.

Früher dominierte das Grundgefühl: Wir sind zwar unterschiedlich, aber wir akzeptieren einen gemeinsamen Rahmen, schätzen öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Parks, Feuerwehr, Lokalbehörden und mit Einschränkungen auch die Polizei. Wir haben das (west)europäische Grundverständnis, dass wir als Individuen eine Verantwortung für unser Leben und Handeln haben. Weder das Gegenüber noch ich selbst haben ein Sonderrecht als Angehöriger einer bestimmten Gruppe. Und meine Freiheit zur persönlichen (und damit auch der religiösen) Lebensgestaltung beruht darauf, dass ich das allen anderen auch so zubillige. Damit diese Freiheit gelingt, müssen wir alle zumindest bestimmte Regeln einhalten und mit dafür sorgen, dass Gemeinschaftseinrichtungen funktionieren. – Nie wurde das überall von allen so anerkannt und asoziales Verhalten einzelner gab es immer. Aber in größeren Gruppen, Religionsgemeinschaften, politischen und wirtschaftlichen Organisationen war das der Grundkonsens.

Blick in eine Gasse des Olive Grove, dem »wilden« Lager neben dem Hot Spot Moria. Eine Aufnahme aus dem August 2020/ wikimedia commons

Überall, wo es heutzutage in Westeuropa massive Probleme gibt, fehlt genau dieser Grundkonsens. Am extremsten ist das in den „Banlieus“ der französischen Großstädte festzustellen, aber auch sonst in den meisten Stadtvierteln mit einem hohen Migrationsanteil. Nicht Buntheit im Sinne von Vielfalt und gegenseitiger Toleranz dominieren in den Problemvierteln, sondern abgeschottete und in sich homogene Parallelgesellschaften. Das Gemeinsame der Gesamtgesellschaft interessiert nicht oder wird sogar abgelehnt. Nicht das Bewusstsein für die individuelle Verantwortung ist stark, sondern der Einzelne bezieht seinen Wert oder Unwert aus der Zugehörigkeit zu einer Familie. Diversität gegenüber der Herkunftsgruppe wird wesentlich weniger als in der Normalgesellschaft toleriert, insbesondere wenn es um sexuelle Selbstbestimmung oder religiöse Abweichungen geht. Dass diese Verhältnisse nicht an der Ethnie oder gar der „Rasse an sich“ liegen, zeigt die Tatsache, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund genau diese Verhältnisse nicht wollen und aus ihnen herausstreben. Allerdings je höher die Zahl der Immigranten desto stärker die ethnische Konzentration und desto schwieriger die Integration.

Wer diese Wahrnehmungen verweigert, garantiert Rechtspopulisten den Aufstieg.

Solche Wahrnehmungen provozieren drängende Fragen – gerade auch bei Menschen, die sich eben nicht als rechts, konservativ oder elitär verstehen. Fragen, die lange Zeit von vielen linken PolitikerInnen und Medien verdrängt oder sogar diffamiert wurden. Und in dem Maße, indem sich Menschen auf Dauer in ihren konkreten Bedenken von der etablierten Politik überhört fühlen, wächst die Gefahr, dass sie sich schleichend für Rechtsextreme und Rassisten öffnen. In Deutschland wird das oft mit der Wiederbelebung von Denkelementen der Nazi-Zeit erklärt.

Dem widerspricht die Entwicklung in lange Zeit als vorbildlich liberal geltenden Nachbarländern wie Dänemark und den Niederlanden. Dort haben schon vor Jahrzehnten Politiker wie Geert Wilders große Wahlerfolge mit scharfer Migrationskritik eingefahren. Sogar immer mehr Menschen mit ursprünglich linken Haltungen fühlen sich von der Linken alleingelassen und laufen ins sogenannte rechtspopulistische Lager über. Darüber hat der französische Soziologe Eribon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ geschrieben, indem er die Veränderung in seiner proletarisch-kommunistischen Herkunfts-Familie dargestellt hat. Kommunisten, die in den 60er Jahren noch radikal die französische Kolonialpolitik in Algerien ablehnten und nun den Front National wählen. Festzustellen ist: Die Verweigerung einer ehrlichen Debatte führt in vielen EU-Ländern zum Sog für „Front National“, „Lega Nord“, „Flaamse Belang“, FPÖ, AfD, Schwedendemokraten…

In Deutschland dürften die meisten politischen Verantwortlichen davon ausgehen, dass eine Wiederholung von 2015, also einer neuen Flüchtlingswelle, zu einer relativen bis absoluten Mehrheit für die AfD bzw. einer Koalition aus AfD und einer Rechts-CDU-Hälfte führen könnte.

Verstöße, von der EU billigend ignoriert

Das ist der Hintergrund für die EU-Politik im Mittelmeer, für Moria und für die erwiesenen Rechtsverstöße der griechischen Polizei bei der illegalen Rückführung von Flüchtlingen. Verstöße, die die EU billigend ignorierte. Das geschah, als Erdogan Anfang 2020 versuchte, die EU unter Druck zu setzen. Zu diesem Zweck karrte er Tausende von Flüchtlingen an die griechische Landgrenze bei Kastanes, um diese stürmen lassen. Das Wegsehen der EU, als griechische Grenzer Migranten sogar im Inland kidnappten und wieder in die Türkei zwangen, ist eigentlich ein Skandal. Aber man muss auch erkennen, dass ein solches Verhalten typisch ist für ausweglose Situationen; in denen humanitärer Anspruch und Wirklichkeit allein schon der quantitativen Dimensionen wegen nicht mehr zusammenzubringen sind.

Das Laufenlassen der Entwicklung ist schlecht – für die besonders Bedrängten genauso wie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften

Nur bei einem Teil der Migranten handelt es sich um Geflüchtete, also um Menschen, die ohne Krieg oder andere lebensbedrohliche Umstände ihre Heimat nicht verlassen hätten. Viele dieser Geflüchteten, die um Leib und Leben bangen, haben oft nicht das Geld, um Schlepper zu bezahlen. Im Gegensatz zu vielen jungen Männern. die von sich aus ein besseres ökonomisches Leben suchen oder zu diesem Zweck von ihren Großfamilien geschickt werden. Die wiederum oft von Schleuserbanden dazu überredet werden – was in Schwarzafrika, Afghanistan und Pakistan häufig geschieht.

Die heutige Realität ist: Wer einmal die EU erreicht hat, schafft es mit 98 prozentiger Wahrscheinlichkeit, auf Dauer in der EU zu bleiben. Das ist der Grund, warum Migranten sich fast immer bewusst auf hochriskante Mittelmeerüberquerungen einlassen, ja sogar mit völlig untauglichen Schlauchbooten in See stechen. Weil sie darauf setzen, gerettet zu werden und so in die EU zu kommen. Darunter sind auch sehr viele Menschen aus Ländern (wie Pakistan oder vielen afrikanischen Ländern), in denen es keinen Krieg und insgesamt keine direkte Gefahr für Leib und Leben gibt. So sympathisch zupackend Carola Rackete, – die bekannte Kapitänin eines Seerettungs-Schiffs – wirkt, sie rettet nicht nur Menschen, sondern sie kämpft indirekt auch für offene Grenzen der EU.

Diese Praxis so laufen zu lassen, hat mindestens drei schlimme Folgen: Erstens ertrinken viele Menschen bzw. noch mehr sterben wahrscheinlich auf dem hochgefährlichen Weg durch die Sahara. Zweitens kommen neben tatsächlich Bedrohten viele andere. Zumeist junge Männer, die in der Regel keine Chance auf dem europäischen Arbeitsmarkt haben, die als Subproletariat mit zunehmender Zahl besonders schwer zu integrieren sind und die dadurch ein Bild von Menschen mit dunkler Hautfarbe vermitteln, das Rassismus zu bestätigen scheint. Worunter dann ganz besonders die dunkelhäutigen Europäer zu leiden haben, die hier geboren und Teil unserer Gesellschaften sind. Drittens nehmen Migranten ohne Not wirklich Bedrohten den Platz und die Akzeptanz.

Ein historischer „humanitärer Kompromiss in der Migrationsfrage“…

… kann der Weg sein, die Blockade aufzulösen und die Hauptanliegen „beider“ Seite miteinander zu vereinbaren. Das Hauptanliegen der „linken“ Seite ist, Menschen in Not zu helfen. Das Hauptanliegen einer – nicht nur rechten – anderen Seite (von mindestens 2/3 der Bevölkerung) ist es, den westeuropäisch laizistischen Charakter unserer Gesellschaft in allen Teilen zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Was mir Mut macht, sind die 80% der Wahlbevölkerung, die prinzipiell für beides sind. Also sowohl für Nothilfe als auch für die Verteidigung der europäischen Zivilisation.

Nur jeweils um die 10% am rechts- und am linksradikalen Rand haben Positionen, die mit der gesellschaftlichen Mehrheit unvereinbar sind. Interessanterweise ähneln sich beide Radikalpositionen in zwei Aspekten: Sie interessieren sich nicht für Notlagen und auch nicht für das konkrete Verhalten von Migranten. Am rechtsradikalen Rand wird jede Hilfe auch für erwiesenermaßen hochgradig Bedrohte abgelehnt – genauso wie radikale „No-Border-Aktivisten“ Jeden und Jede aufnehmen wollen, egal warum sie kommen. Und ähnlich wie Rechtsradikale, die Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe und auch bei bester Bildung und bestem Verhalten ablehnen, so registrieren No-Border-Aktivisten nicht einmal extrem frauenfeindliches oder kriminelles Verhalten von bestimmten Migranten. Je mehr kommen, desto besser, egal welche Einstellung sie zu dieser Gesellschaft haben, nichts sei schlimmer als der normale weiße Einheimische. Im Ergebnis heißt das: Mit diesen beiden Rändern dürfte ein Konsens unmöglich sein.

Aber es gibt – wie gesagt – die Chance, eine große 80% Mehrheit zusammenzubringen. Noch! Denn je länger damit gewartet wird, die MigrationskritikerInnen, die zu Diskussionen bereit sind, mit einem historischen Kompromiss zu gewinnen, desto mehr von ihnen drohen auf Dauer ins rechtsradikale Lager abzudriften. Dringend ist der historische Kompromiss auch angesichts des bevorstehenden Wahljahres mit einer Bundestags- und mehreren Landtagswahlen. Denn wird dieses Thema nicht konstruktiv befriedet, bekommt auch ein mögliches rot-rot-grünes Regierungsbündnis 2021 keinen Fuß auf den Boden dieser Gesellschaft; so sehr mann und frau sich aus ökologischen und ökonomischen Gründen das auch wünschen mag. Denn über die Migrations-Frage ist nicht nur die Gesellschaft insgesamt, sondern sogar die Wählerbasis zumindest von SPD und Linken gespalten.

Entschlossene Nothilfe ohne Kontrollverlust – in sieben Punkten

Ich denke, diese Spaltung wäre zu überwinden, wenn in einem ersten Schritt beide Seiten jeweils lernen und ernsthaft anerkennen, worin das Hauptproblem der Menschen auf der jeweils anderen Seite besteht. Für die einen ist das eine mitleidslose Kälte gegenüber Menschen in Not. Für die anderen ein schleichender negativer Kulturwechsel auf Grund von Masseneinwanderung.

1Beide Seiten sollten die Tatsache anerkennen: Mindestens eine Milliarde Menschen lebt in ärmlichen bis elenden Bedingungen in den angrenzenden Kontinenten Afrika und Asien. Ein Kompromiss könnte darin liegen, dass wir eine Mitverantwortung für diese Verhältnisse anerkennen — also weder diese abwehren, wie es die AfD nahelegt, noch aber Europa und Deutschland die Hauptschuld an diesem Massenelend zuweisen.

2Wir konfrontieren uns bewusst mit den wahrscheinlichen Dimensionen: Selbst wenn beispielsweise nur 5% der Armen in den nächsten zehn Jahren in die EU einwanderten, was in absoluten Zahlen 50 Millionen bedeutete, würde sich in den Herkunftsländern fast nichts am Ausmaß der Armut ändern. Aber eine Einwanderung dieses Ausmaßes würde Europa überfordern und gleichzeitig keinen Spielraum mehr lassen, um der viel, viel größeren Menge an Leidenden in den Herkunftsländern weiter zu helfen. Darum muss der Kern des Kompromisses lauten:
Es wird alles getan, um Armutsursachen zu überwinden. Das verlangt zum einen eine grundsätzliche Veränderung der EU-Exportpolitik und damit den Stopp aller problematischen Ausfuhren in diese Länder. Zum anderen dürfen keine sinnvollen Hilfsmaßnahmen aus Geldmangel unterbleiben. Ganz im Gegensatz zur Kürzung der Flüchtslingsunterstützungen im Jahre 2014, die entscheidend zur Emigrationswelle des folgenden Jahres beigetragen hat. Darum müssen die europäischen Länder (allerdings nur bei wirklicher sinnvoller Verwendung) zu einem Quantensprung an finanzieller Hilfe bereit sein. Und im Gegenzug bedeutet der humanitäre Kompromiss: Es wird keine Armutsmigration mehr zugelassen!

3Wenn Menschen im Fall von künftigen Bürgerkriegen kurzfristig nur durch eine Aufnahme in die EU gerettet werden können, dann nimmt die EU diese Menschen zeitweise auf. Der humanitäre Kompromiss besteht aber darin: Die Notaufnahme findet nur unter zwei Bedingungen statt: Sie ist zeitlich befristet und die Menschen müssen nach Ende der Kriegshandlungen zurückkehren. Deshalb werden die Geflüchteten in den jeweiligen Wohnheimen und Einrichtungen — möglichst in Selbstorganisation — auf ihre Rückkehr und die dortige Arbeit am Wiederaufbau vorbereitet.

4Das Asylrecht des deutschen Grundgesetzes gilt — das ist auch sein Wesensgehalt gemäß seiner historischen Wurzeln —hauptsächlich für politische Aktivisten, die wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Menschlichkeit persönlich verfolgt werden; wie beispielsweise die türkischen Beamten, Politiker oder Journalisten, die vom Erdogan-Regime verfolgt werden. Es gibt den Konsens: Der Artikel 16 wird in der Praxis so gehandhabt, dass er für nichtverfolgte Menschen keine attraktive Einwanderungschance darstellt. Insbesondere muss es Teil des humanitären Konsenses sein, dass Migranten, die mit den Entscheidungsgremien nicht kooperieren, bewusst falsche Angaben machen oder Informationen zurückhalten, jegliche Form von dauerhafter Aufnahme verwirkt haben.

5Es ist Teil der Verständigung, dass bei einem Einwanderungsgesetz völlig andere Kriterien als beim klassischen Asyl zu gelten haben. Hier geht es vorrangig um das Interesse der deutschen Gesellschaft an der Zuwanderung von Menschen, die wichtig für die hiesige Wirtschaft sind und die eine positive Einstellung zur europäischen (laizistisch-demokratischen) Zivilisation haben.
Was aber gar nicht geht, ist die Abwerbung von knappen Fachkräften. Darin liegt auch eine neokolonialistische Ausbeutung. Darum verpflichten sich Deutschland und die EU keine Arbeitskräfte zu beschäftigen , die in den Heimatländern knapp sind und dringend benötigt werden. Alles andere wäre nicht nur hochgradig unmoralisch, sondern auch kontraproduktiv im Sinne einer Bekämpfung der Fluchtursachen. Denn ohne einheimische Fachkräfte in technischen und Gesundheitsberufen gibt es für die große Masse der Geringqualifizierten keine ökonomische Entwicklungsperspektive.

6Wenn die obigen Punkte im Konsens geklärt sind, dann erst gibt es breite Akzeptanz für humanitäre Ausnahmereglungen. Also für diejenigen Zehntausenden von abgelehnten AsylbewerberInnen, die seit Jahren in Deutschland sind und sich sehr gut integriert haben. Überall in Deutschland gibt es Initiativen für solche Menschen. Eine Voraussetzung für die Akzeptanz eines Spurwechsels ist seine Einmaligkeit.
Eine andere Voraussetzung für eine Daueraufnahme ist, dass sich diese Menschen glaubwürdig um Integration bemühen. Dazu gehört neben dem ausreichenden Spracherwerb und der Berufsintegration auch, sich glaubwürdig zur laizistischen europäischen Zivilisation zu bekennen. Sehr konkret heißt das: „Ich akzeptiere es, wenn insbesondere meine Tochter sich ihren Mann auswählt, egal welche Religion er hat.“ „ Ich erlaube jedem Angehörigen, die Religion zu wechseln.“ Einen deutlichen Verstoß gegen dieses Zivilisationsverständnis demonstriert dagegen ein Mann, der es aus Prinzip ablehnt, mit einer Frau zu sprechen. Das ist kein exotisches Beispiel, sondern tägliche Erfahrung von Lehrerinnen an Brennpunktschulen. Und auch wer Vollverschleierung trägt oder tragen lässt, erfüllt die Kriterien nicht.

7Auch die immer geforderte großangelegte staatliche Seenotrettung wäre im Rahmen einer ehrlichen langfristigen Einigung leicht möglich. Nämlich wenn klar ist, dass diese Rettung vor dem Ertrinken nicht eine faktische Dauereinwanderung in die EU bedeutet. Sondern wenn entweder die geretteten Migranten in Verweileinrichtungen auf dem Boden eines nordafrikanischen Landes gebracht werden (das dafür großzügige Unterstützung erhält). Oder noch konsequenter: Wenn das EU-Recht so geändert wird, dass Migranten ohne Einreiserecht in Verweileinrichtungen bleiben müssen. Dort wird ihr Antrag auf politisches Asyl geprüft. Auch wenn es hart ist: Wer kein politisches Asyl oder eine zeitweise Notaufnahme bekommt, wird diese Einrichtungen nicht in Richtung EU verlassen dürfen. Das ist der klare Preis für den politischen Konsens zur Seenotrettung!

Nur mit Brücken lässt sich Spaltung überwinden

Diese Skizze kommt vielen humanitären Forderungen nach, die von linken Parteien, den großen Kirchen und Hilfsorganisationen wie „Pro Asyl“ gestellt werden wie Notaufnahme, Spurwechsel, großangelegte staatliche Seenotrettung. Eine Zustimmung dazu ist aber nur möglich, wenn auch die Hauptanliegen der MigrationskritikerInnen berücksichtigt werden. Also keine Massen- Einwanderung (dazu zählt ja nicht die zeitweise Notaufnahme), kein Tolerieren von Verschleierung der Identität, keine Einwanderung der aus Seenot Geretteten in die EU, wenn keine legalen Gründe vorliegen.

Diese Skizze ist zunächst ein argumentatives Angebot. Denn nur mit Brücken und Kompromissen lässt sich Spaltung überwinden, nicht mit Aufforderungen an die andere Seite, zu Kreuze zu kriechen! Dies muss insbesondere das linke Spektrum zur Kenntnis nehmen, denn ohne einen solchen Kompromiss droht auf die Dauer ein radikales Verschieben des politischen Spektrums nach rechts.

Wie kann zum Beispiel aus dieser Gedankenskizze gesellschaftliches Handeln werden? Zum Beispiel, indem Organisationen wie die Kirchen die Initiative zum Dialog übernehmen. Die evangelische Kirche hat 1965 mit großem Mut für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geworben und damit eine realistische und humanitäre Entwicklung im Verhältnis zu Polen eingeleitet. Als Pionier lange vor den politischen Parteien. Natürlich könnten diesmal auch Parteien als Brückenbauer wirken oder andere Organisationen der Zivilgesellschaft.

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Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

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