Ein Kaffeehausspieler führt die Revolution an

In seiner „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ schreibt der französische Philosoph Michel Serres (1930-2019):

„Ohne dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum. […] Mit einem anderen Kopf ausgestattet, erkennen sie anders, als ihre Eltern es noch taten. Sie schreiben anders. Nachdem ich voller Bewunderung gesehen habe, wie sie, schneller als ich mit meinen steifen Fingern es je vermöchte, mit ihren beiden Daumen SMS verschicken, habe ich sie mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann, auf die Namen Däumelinchen und Kleiner Däumling getauft.“

M. Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Suhrkamp 2013, S. 15

Zunächst an den Beispielen des Schachcomputers, der Übersetzungsmaschine und der Bibliothek – weitere werden folgen –  frage ich in einer Serie von Beiträgen: Wie fordern Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) unsere personale Autonomie und unsere Lebenswelt heraus? Eine bruchstücke-Serie mit „Nachrichten aus dem artifiziellen Leben“.

Der weltweit bekannteste Wiener Kaffeehausschachspieler war zweifellos Leib Bronstein alias Leo Trotzki. Seine Partien bestritt er bevorzugt in einem prunkvollen Café in der Herrengasse. Auf Gerüchte über den bevorstehenden Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 soll ein hochrangiger österreichischer Staatsbeamter amüsiert erklärt haben: „Wer soll denn diese Revolution anführen? Etwa der Herr Bronstein, der immer im Café Central Schach spielt?“

Ich war nie in einem der Wiener Caféhäuser, in denen Schach gespielt wurde, und auch das Szechenyi Thermalbad in Budapest, wo die Männer in Badehosen im dampfenden Wasser an Schachbrettern stehen, kenne ich nur von Fotos. Mir sind auch der Mythos der „Wunderkinder“ und die Schachobsession fremd geblieben, die einen Spieler in den Wahnsinn treibt. Selbst die Aufregung darüber, dass vor 25 Jahren ein Schachcomputer den Weltmeister schlug, hat mich nicht besonders interessiert.

Aber ich kenne das Schachspiel von meiner frühen Jugend an. Die ersten zwei Jahre im Schachklub waren eine harte Zeit, in der ich das Verlieren gelernt habe. Es war die Zeit des Vereinslebens, der Jugendmeisterschaften und exotischer Reisen nach Wien und zu den Olympischen Spielen in München. Später hat mir dieses Spiel geholfen, die Abende in einigen Hauptstädten während einer Südamerikareise unterhaltsam zu verbringen. Ein gutes Jahrzehnt später machte ich mich mit dem Kauf eines Schachcomputers, der noch Figuren und sensorische Felder hatte, vom Schachleben unabhängig. Daraus hat sich aber keine so innige Beziehung zu dem neuen Computer entwickelt wie Diderots zu seinem alten Schlafrock.

Bild: Tabor auf Pixabay

Zauberer, Biest, Würgeschlange

Die Öffentlichkeit nimmt den Schachsport allerdings anders wahr. Im Vordergrund steht oft die psychologische Kriegsführung zwischen den weltmeisterlichen Akteuren:

  • Fischer, der mit einer Liste von 179 Forderungen einen Wettkampf mit Karpow vereitelte;
  • der große Lärm im Turniersaal während des Viertelfinales des Kandidatenturnier, der Robert Hübner sich nicht konzentrieren ließ, während der schwerhörige Tigran Petrosjan sein Hörgerät abstellen konnte;
  • die Auseinandersetzung über Strahlen, Sonnenbrillen, Sessel und den Abstand des Publikums zwischen Karpov und Korschnoi.

Im Vordergrund stehen außerdem die Charaktere der Weltmeister:

Biest von Baku

die Schachmaschine (José Raúl Capablanca),
der Zauberer aus Riga (Michail Tal),
das Biest von Baku (Garri Kasparov),
die Würgeschlange (Anatoli Karpov),
Viktor der Schreckliche (Viktor Korschnoi).

Schach als Training für Problemlösungen

Gewiss haben Weltmeister wie Tal und Kasparov sich durch ihren dynamischen, aggressiven und zum Teil. risikoreichen Spielstil einen Namen gemacht. Capablanca hingegen war für seine hervorragende Technik und seine petites combinaisons bekannt: kurzzügige, nicht besonders komplizierte Kombinationen, die aber weit im Voraus gesehen werden mussten. Karpov konnte so lange jegliches Gegenspiel unterbinden, bis seine Gegner nur noch zwischen verschiedenen Verlustzügen auswählen konnten. Das Spiel des aktuellen Weltmeisters Magnus Carlsen wird mit diesen beiden verglichen. Er vermeidet oft weit ausanalysierte Theorievarianten und strebt Stellungen an, in denen er seine Gegner langfristig unter Druck setzen kann. Oft gelingt es ihm, in scheinbar ausgeglichenen Endspielen kleinste Vorteile zu verwerten.

Sie sind Angriffsspieler oder positionelle Spieler, die meisterhaft das komplexe System von Regeln beherrschen. Dafür ist die Modellierung zentraler Themen wie die „Beherrschung des Zentrums“ ausschlaggebend. Mit den „modernen Eröffnungen“ suchen die Spieler das Gleichgewicht der Kräfte nicht mehr durch direkte Entgegensetzungen im Zentrum zu erreichen (für Schachfreunde: 1. e2-e4 e7-e5 oder 1. d2-d4 d7-d5), sondern das Geschehen in der Mitte des Brettes indirekt zu kontrollieren. Als Weißer waren dies die Eröffnungszüge Bengt Larsens (1. b2-b3) und Königsindisch im Anzug (1. Sg1-Sf3). Schwarz überlässt mit den Verteidigungen „Sizilianisch“ (1. e2-e4 c7-c5), „Königsindisch“ (1. d2-d4 Sg8-Sf6 2. c2-c4 g7-g6) oder „Pirc-Ufimzew“ (1. e2-e4 d7-d6). zunächst das Zentrum.

Heureka! riefen die alten Griechen

Die Bedeutung kreativen Lösungsverhaltens geht weit über das Schachspiel hinaus.  Lebensweltliches Handeln orientiert sich generell an kreativen Formen der Problemlösung. Heureka! riefen die alten Griechen, wenn sie eine Lösung gefunden hatten. Heuristik nennt sich bis heute die Kunst, zu neuen Erkenntnissen und praktikablen Lösungen zu kommen. Ob eine Lösung die einzig mögliche, die beste aller möglichen oder nur eine unter anderen ist, darüber kann man sich im Alltagsgeschehen nicht immer den Kopf zerbrechen. Manchmal muss es genügen, das Gefühl zu haben, dass die Lösung irgendwie zielführend ist, also im Fall des Schachs: gewinnbringend ist; oder in einer schwierigen Situation wenigstens ausreicht, dass es irgendwie weiter geht. Kreatives Handeln ist der Inbegriff der Fähigkeit, begrifflich und technisch etwas Neues zu realisieren. Ohne Kreativität kommt keine Ingenieurstechnik aus, misslingt die Planung von Bildungsprozessen oder auch von Grillpartys.

Dabei kommt der Intuition – im Alltag wie beim Schach – eine wichtige Rolle zu. Ein Magnus Carlsen versucht nicht, in jeder Stellung den besten Zug zu finden, denn dies kostet viel Zeit und Energie. Stattdessen spielt er Züge, die „gut genug“ sind. Ihm steht nicht die Rechenfähigkeit eines Schachcomputers zur Verfügung, aber ein vollendetes Stellungsgefühl. Aus seinem hervorragenden Gedächtnis resultiert eine exzellente Mustererkennung. Seine Intuition (Hineinsehen, Ausrichtung) hat er qua Experimentieren (er-fahren, etwas wagen) eingeübt und geformt.

Dynamisierung, Leistungssport

Unsere Lebenswelt ist kulturell geformt, sie bietet je nach Situation eine Fülle von Informationen, die entweder problemlösend wirken oder zur Problemlösung eingesetzt werden können. Aber die Lebenswelt ist nicht statisch. Schach auch nicht. Irgendwann widerfuhr dem Schach, was im Tennis geschehen war. Als Boris Becker 1985 zum ersten Mal Wimbledonsieger wurde, übernahmen Kraft und Athletik endgültig das Regime und verdrängten die Kunst und Eleganz des „weißen Sports“. Auf Rasen verwandelte sich das Spitzentennis in Duelle von Aufschlagspezialisten („Kanonieren“), die nur große Virtuosen stoppen konnten.

Auch das Schachspiel hat die Wendung zum Leistungssport genommen. Das (akkumulierte) Wissen, das „in den Menschen“ schon vorhanden war, bestand in meiner Zeit als Teenager in einem großen theoretischen Eröffnungsrepertoire und praktischen Erfahrungen mit dem Mittel- und Endspiel. Dazu gehörten auch die Analysen, warum ich eine Partie verloren hatte. Eröffnungsvarianten lernte ich Anfang der 1970er Jahre mit den Bänden der „Modernen Theorie der Schacheröffnung“ von Paul Keres, Mark Taimanovs und Isaak Boleslavski aus dem Sportverlag Berlin. Und ab und zu kaufte ich mir den „Schachinformator“ mit aktuellen Partiesammlungen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sein Erscheinen Mitte der 1960er Jahre „kündigte eine Revolution in der Art an, wie sich Schachspieler auf ihre Gegner vorbereiten. Er entwickelte die erste professionelle Klassifikation der Eröffnungen, und war so der Vorläufer der heutigen computergestützten Schachdatenbanken.“ (Garri Kasparow)

Der Mephisto Exclusive (1987) von Hegener + Glaser. Bei dem linken Modul (Eröffnungsbibliothek HG440) handelt es sich um eine Erweiterung des Schachcomputers.
(Foto: Rabax 63/ wikimedia commons)

Mit den Computern und den Schachprogrammen erhielt die Dynamisierung des Schachs einen wichtigen Schub. Mit dem Internet kamen riesige Datenbänke hinzu. Wer sich heute als Profi oder ambitionierter Laie mit Schach beschäftigt, greift auf diese Wissensspeicher zurück. Dieses Wissen verführt. Im November 2020 wurde eine junge weibliche Schachmeisterin für zwei Jahre gesperrt. Sie war während eines Schachfestivals bei der Nutzung eines Handys auf der Toilette ertappt worden. Schon das einfache Mitführen eines Telefons auf die Toilette hätte  für eine Sperre ausgereicht; zudem hatte eine andere Spielerin gesehen, wie die Ertappte ein Schachprogramm benutzte, um ihre Partie zu analysieren.

Es gab auch früher schon die Unterscheidung zwischen regulären Partien, die fünf Stunden und mehr dauern konnten und Blitzpartien, die nach maximal 10 Minuten beendet waren. Aber heute haben die Blitzvarianten des Bullitt Chess (5+1, 3+1, 1+1) auf Schachservern die Geschwindigkeit auf die Spitze getrieben: Jeder Spieler hat insgesamt 5, 3 oder auch nur 1 Minute(n) Bedenkzeit mit zusätzlich einer Sekunde pro Zug.

Die Mensch-Maschine-Interaktion

Schachcomputer sind kein autonomes Artefakt wie Roboter. Im Spiel mit ihnen treffen zwei Formen von Autonomie aufeinander: auf der Basis von Regeln kämpft ein autonomer Mensch mit einer autonomen Maschine um den Sieg. Beider Autonomie ist umfassend gewahrt, aber die Unterschiede sind markant: Während Menschen längerfristige Pläne entwerfen können, dabei gelegentlich aber kurzfristige Drohungen übersehen, nutzen Computer jeden kleinsten taktischen Fehler aus.

Die Programmierer bringen ihren Programmen immer besseres strategisches Denken bei. Dies betrifft die Frage: wie ist eine Position zu bewerten? Ein Schachprogramm probiert rechnend jeden möglichen Zug aus und bewertet die entstehenden Stellungen nach Merkmalen wie Bauernstruktur, offene Linien etc., es berechnet für beide Seiten Vor- und Nachteile. Menschen, denen diese Rechenkraft fehlt, nutzen ihre Intuition, die sie sich im Laufe der Zeit erworben haben; dieses Gefühl dafür, welcher Zug in welcher Stellung einen Vorteil ergeben könnte, und  betrachten diesen Zug  dann genauer.

KI ersetzt nicht nur einen Partner, sondern aktiviert auch einen komplexen inneren Zustand, der mit dem hohen Anspruch dieses Spiels zu tun hat. Es fällt schwer, nur einen Verlust darin zu sehen: den der Gesellschaft anderer Menschen. Immerhin ermöglicht KI permanentes Üben ohne Absprachen mit anderen.

Der Computer fordert meine personale Autonomie heraus. Ich messe mich mit dem kohärenten Denken der Maschine. Abweichungen von stellungsgemäßen Zügen bestraft sie sofort. Sie zwingt mich, ihre „Einwände“ und „Argumente“ anzuerkennen. Die autonomen Maschinen sind den autonomen Menschen bei taktischen Manövern überlegen, die innerhalb ihrer Rechentiefe abgeschlossen werden können. Besonders gefährlich ist dabei die Dame, sodass menschliche Spieler oft versuchen, den Computer zu einem Damentausch zu bewegen. Es liegt in der Natur der Sache, dass derartige „Tricks“ von den Programmierern in Nachfolgeversionen bei der Programmierung berücksichtigt werden.

Die Maschine lernt dazu

Personale Autonomie muss gegen eine technische Autonomie strategisch mit langfristig angelegten Manövern operieren, deren Ansatz für den Computer nicht erkennbar ist. Sie kann auch zu Beginn einen unüblichen Zug spielen, um ihn rasch aus seinem Eröffnungsrepertoire hinauszudrängen. So kann er die günstigen Spielzüge nicht in einer Tabelle nachschlagen.

Die Autonomie der Schachprogramme ist absolut. Sie funktionieren strikt nach Regeln, die ich zu akzeptieren habe. Diese Autonomie ist mit der Fähigkeit verbunden, mich zu überraschen. Diese Maschine kann dazulernen. Sie wiederholt nicht die Züge in bestimmten Situationen. Es ist nicht vorhersagbar, was sie machen wird.
Ich besitze nur „begrenzte Autonomie“, die äußere und innere Determinanten hat: Es gab nicht nur talentiertere und bessere Spieler als ich es war (dies wird schmerzhaft deutlich, wenn man Erwachsene gegen einen dreizehnjähriges großes Talent verlieren sieht); es gab auch die Erfahrung, dass ich viel mehr für eine besseres Spiel hätte arbeiten müssen, was zu Lasten meiner beruflichen Ausbildung gegangen wäre. Für mich war immer abschreckend zu sehen, dass bessere Spieler Jahre später die größten Schwierigkeiten hatten, mit dem Schach ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Selbst ein Spieler, dem ich dies zugetraut hätte, hat es zugunsten seines Berufes aufgegeben. Andere hingegen hatten einen Beruf gewählt, der ihnen ambitioniertes Schach ermöglichte.

Beim Spiel mit dem Schachcomputer habe ich über mich in Erfahrung gebracht, wie stark („gnadenlos“) die taktischen und logischen Konsequenzen der Programme sind. Dies war mir bei den menschlichen Gegnern nur in Ausnahmefällen, bei den richtig starken Spielern, bewusst. Diese Ausnahme war beim Computer jedoch die Regel. Er hat mir geholfen, meine Grenzen in diesem Spiel zu erkennen und deshalb habe ich dem Schach jenen Hobbystatus gegeben, der zu meinem Leben passt. Das ist für ein KI-Spiel recht viel.

Der nächste Beitrag der Serie „Nachrichten aus dem artifiziellen Leben“ erscheint auf bruchstücke am Mittwoch, 13. Januar 2021, zum Thema Übersetzungsmaschinen.


Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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