Wie von Geisterhand

„Electricity may be the driver“: Der Traum vom selbstfahrenden, stromgetriebenen Automobil. Illustration einer Annonce der America’s Independet Electric Light and Power Companies aus den 1950er Jahren.

Als ich ein Kind war, blätterte ich immer wieder fasziniert in einem hübsch illustrierten Buch über die Zukunft. Die war farbenfroh, die Menschen waren entspannt, alles schien so heiter und so leicht zu werden. Als ich ein Kind war, vor mehr als 40 Jahren, erschien mir die Zukunft als ganz großes Versprechen. Vieles, was ich als Junge blöd oder störend erlebt hatte, würde schon in wenigen Jahrzehnten besser gelöst sein. Zum Beispiel quälend lange Autofahrten. Am Beginn der 2020er-Jahre bleibt mir ein Unbehagen über das Kommende. Und die Frage: Wird mein nächstes Auto wissen, wohin ich wollen soll?

Drei oder vier Mal im Jahr bestiegen meine Eltern mit meinen beiden großen Brüdern und mir ein Auto, das sich vom Zeitalter des SUV aus betrachtet recht bescheiden ausnahm. Das Ziel war eine drei Fahrstunden entfernte Stadt, in der beide Großeltern lebten. Mein Platz war als mit Abstand Jüngster in der Mitte der Rückbank, damals wie heute ein Ort, der eigentlich gar nicht existiert, außer in den alles versprechenden Reklamen der Autoindustrie.

Mit jeder der 180 Minuten, die verstrich, wuchs der Aggressionspegel unter uns Hinterbänklern. Erst erschienen die Knuffe und Puffe meiner Brüder wie ohne Absicht geschehen, mit der Zeit wurden sie deutlicher, dann begann auch ich auszuteilen. Es folgte Geschrei, erst unter uns Kindern, worauf die Eltern eingriffen, um in unserem Verteilungskampf zu schlichten – selten mit Erfolg. Irgendwann schliefen wir Jungs meist erschöpft ein, um völlig zerknickt anzukommen.

Träume Wirklichkeit werden lassen

Als ich ein Kind war, versprach dieses verheißungsvolle Buch von der Zukunft, dass Fahrten mit dem Automobil künftig eher der Fortbewegung in einem Wohnzimmer auf vier Rädern gleichen würden. Nicht mehr lange und die Autos würden von Sensoren geleitet, stromgetrieben über die Autobahnen dahinschweben. Das Bild sollte ich nie vergessen. Es zeigt ein Vehikel von den Ausmaßen jener monströsen Automobile, die wir anerkennend Ami- Schlitten nannten und mit denen GIs nach Feierabend sehr entspannt umher kurvten. Aber außer der Größe war alles anders. Die Autos der Zukunft würden die Mitfahrenden unter einer Glaskuppel mit 360 Grad-Ausblick vereinen, Vater, Mutter und zwei Kinder saßen um einen großen Tisch und spielten etwas, was dem Mensch-ärgere- Dich-Spiel ähnlich zu sein schien. Alle waren entspannt, Reisen würde nicht mehr Stress sein, sondern die Fortsetzung des Alltags unter einer leise wie von Geisterhand gesteuerten Kuppel.

Als ich ein Kind war, wollte ich daran mittun, dass dieser Traum Wirklichkeit werden würde. Vielleicht als Ingenieur. Ich erinnere das nicht mehr so genau.  „Electricity may be the driver“: Der Traum vom selbstfahrenden, stromgetriebenen Automobil.

Bhopal, Basel, Tschernobyl

Warren Anderson war der Vorsitzende des Chemieunternehmens Union Carbide in der Zeit der Katastrophe in Bhopal.
Foto: Obi from ROMA ,LONDON- BHOPAL, CC BY 2.0
wikimedia commons

Als ich kein Kind mehr war, starben im Elendsviertel der indischen Stadt Bhopal je nach Schätzung zwischen 3.800 und 25.000 Menschen, weil eine Pestizid-Fabrik havarierte und hochgiftiges Methylisocyanat freigesetzt wurde. Das Gift tötete nicht nur Tausende. Geschätzt eine halbe Million Menschen wurden verletzt und haben zum Teil bis heute an den Spätfolgen zu leiden. Das ereignete sich 1984. Davor hatte es schon den schrecklichen Unfall in Seveso gegeben. Aber da war ich ja noch ein Kind. Zwei Jahre später kollabierte nicht nur das Atomkraftwerk in Tschernobyl. Beim Versuch, in einer Chemiefabrik bei Basel ein Feuer zu löschen, schwemmte es giftverseuchtes Löschwasser in den Rhein. Die rotfarbene Brühe tötete auf Hunderte Kilometer alles in dem ohnehin von giftigen Einleitungen geschundenen Strom noch befindliche Leben.

Als der Reaktor in Tschernobyl brannte, war ich auf einer mehrtägigen Fahrradtour, übernachtete im Wald, trank aus Quellen und wusch mich in Seen. Es gab weder Internet noch Handy und es war ein langes Wochenende. Als die Giftwelle aus Basel den Rhein auf der Höhe meiner Heimatstadt passierte, stand ich mit vielen anderen verbunden in einer den Flusslauf begleitenden Menschenkette auf der Brücke und sah, wie Vater Rhein sich rötlich färbte, dieser viel besungene Fluss, aus dem mein Freund Michael mit seiner Angel immer wieder Fische mit heftigen Geschwüren gezogen hatte. Jetzt war da unten alles ganz tot.

Das war die Zeit, als das Nachdenken über die Zukunft gar keinen Anlass zu Freude gab. Die Wälder verreckten im sauren Regen, über den Polkappen taten sich gewaltige Ozonlöcher auf und die Welt war zwischen Ost und West geteilt, in zwei waffenstarrende Blöcke, die mit ihren Atomsprengköpfen beide in der Lage, das Leben auf dem Globus auszulöschen. Da kämpfte man schon mal um jeden Wald und jede Wiese. Ob vor den Toren von Frankfurt oder in der Oberpfalz bei Wackersdorf. Hier gegen eine Startbahn eines ohnehin schon gewaltigen Flughafens, dort gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage und an nächster Stelle antworteten wir Häuserspekulanten mit der Besetzung ihrer Bruchbuden. Weil das eine mit dem anderen ja zusammen hing. Das Versprechen, das in den Jahren, als ich ein Kind war, vom technologischen Fortschritt ausgegangen war, war zu einer Bedrohung geworden. Am besten würde ich gar kein Auto fahren.

Vom Fortschritt

Die 70er-Jahre, als die Zukunft noch ein helles Versprechen zu sein schien, waren ein sozialdemokratisches Jahrzehnt. Eines der Leitmotive dieser Ära formulierte der seine Partei überragende Vorsitzende Willy Brandt zehn Jahre zuvor. Er hatte versprochen, dass „der Himmel über der Ruhr“ wieder blau werden würde. Das war nicht denkbar ohne „das Atom“, wie man so sagte. Damit werden die Absätze über die „Hoffnungen dieser Zeit“ im Godesberger Programm der SPD von 1959 mit einer Eloge auf die friedliche Nutzung der Atomspaltung eingeleitet. Es sei nämlich „die „Hoffnung dieser Zeit“, dass der Mensch „im atomaren Zeitalter“ sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen könne.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.
By © Axel Kirch / CC BY-SA 4.0, wikimedia commons

Keine Frage: Die Autos aus dem Buch der Zukunft meiner Kindheit würden genau mit diesem Atomstrom betrieben sein. Als ich ein Kind war, fand ich daran nichts Verwerfliches. Als mit Tschernobyl, eigentlich schon der Havarie in Harrisburg, klar wurde, dass auch die „friedliche Nutzung“ des Atoms eine unerträgliche Gefahr für die Menschheit darstellt, wollte ich kein Ingenieur mehr werden. Der Fortschritt wurde sorgsam in eine Akte geheftet und in einer Ecke des Archivs unserer Zeit deponiert, in der diese so langsam zu verstauben begann. Die Vertreter der Industrie in Bonn und später Berlin fingen an, um „Akzeptanz“ für die Geschäftsmodelle ihrer Arbeitgeber zu winseln. Der Fortschritt hatte keine Anhänger mehr.

Wackersdorf-Shenyang

Natürlich hat das mit dem Fortschritt nicht aufgehört. Was nur wenig bekannt ist, sei hier zu Protokoll gegeben: Wackersdorf ist inzwischen eine Wohlstandsinsel in der Oberpfalz. Im Wald, wo einmal Bergleute Braunkohle abbauten und zum Ersatz ausgezehrte Kernbrennstäbe aufpoliert werden sollten, schlägt mittlerweile eines der vielen Herzen der Globalisierung. Wackersdorf oder besser: Sein Industriepark, der auf jener vom Protest der 80er-Jahre freigehaltenen Wiese im Taxöldener Forst errichtet wurde, beherbergt inzwischen ein BMW-Werk, das unmittelbar an die chinesische Seidenstraße angebunden ist.

Der Konzern lässt in der Oberpfalz nicht nur Cockpits fertigen, er steuert von diesem abgelegenen Flecken Deutschlands die Teileversorgung ausländischer Standorte. Zum Beispiel die des Werkes in Shenyang. Seit 2010 fährt pro Woche ein Zug von Wackersdorf in die Industriemetropole im Norden Chinas.

Seit den 70er-Jahren hat sich eine machtvolle Umweltbewegung entwickelt, welche so viel gesellschaftlichen Druck aufzubauen in der Lage war, dass Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige Produktionspfade verließen, sich nach alternativen Rohstoffen umsahen und – wie im Fall der Automobilindustrie – ihre Produktpalette in nur einer Dekade komplett erneuert haben werden. Energiewende, Mobilitätswende, autonomes Fahren, Elektroantrieb im Fahrzeug-, Wasserstoffantrieb im Flugzeugbau aber auch Künstliche Intelligenz und Quantencomputing setzen Heerscharen von Wissenschaftlern und Ingenieuren in Bewegung, Patente und Lizenzen aus dem Ölzeitalter von Milliardenwert werden wertlos, neue werden ertüftelt und entwickelt. Die Energiewende braucht ja nicht nur Windräder und Solarkollektoren, Erdwärme- und Gezeitenkraftwerke. Zur Voraussetzung ihres Gelingens zählen ebenso ein neues Stromnetz, gewaltige Batteriespeicher, Groß-Elektrolyseure, um enorme Mengen Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zu zerlegen. Wobei der Wasserstoff, um Turbinen, Lastkraftwagen oder Hochöfen zu betreiben, irgendwo gespeichert, irgendwie transportiert werden muss.

Auch eine Befreiung der Industrie von fossilen Kohlenstoffquellen wie Erdöl oder Erdgas ist denkbar, seit Kohlendioxid in immer mehr Verfahren vom Abfall zum Rohstoff wird. Zwei renommierten Unternehmen aus Deutschland ist es etwa gelungen, großtechnisch mithilfe von Algen die Fotosynthese nachzubauen und den Kohlenstoff aus dem Kohlendioxid wieder dem Produktionskreislauf zuzuführen.

Weil Milliarden winken, lösen sich Blockaden

Auch wenn unsere Welt gerade vom Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus wie tiefgefroren wirkt, erleben wir in Wahrheit eine enorme Beschleunigung der Umsetzung von theoretisch vorhandenem Wissen in Technologie. Die Brennstoffzelle etwa feierte 2020 ihren hundertsten Geburtstag und steht kurz vor der Serienreife. Gegner strombetriebener Autos führten über Jahre die Bedingungen ins Feld, unter denen Menschen die für die Batterien notwendigen Rohstoffe wie etwa Lithium und seltene Erden fördern müssten. Unlängst hat ein Forscherteam aus Karlsruhe darauf hingewiesen, dass die Sole, welche am Oberrhein für die Gewinnung von Energie aus Erdwärme angezapft wird, enorm reich an Lithium ist und dieses nahezu ohne Energieeinsatz gefördert werden könne.

Inmitten der Krise entsteht ein neues Wirtschaftsmodell. Die Europäische Union und einzelne Staaten wie Frankreich und Deutschland kämpfen mit Milliarden nicht nur gegen die wirtschaftlichen Schäden der Corona-Krise. Sie treiben mit dreistelligen Milliardenbeträgen die Bewegung von Forschenden, Ingenieurinnen und Ingenieuren an, damit sie unseren Alltag und unser Wirtschaften möglichst bald auf eine neue, ökologisch verantwortungsvolle Basis zu stellen. Weil nun Milliarden winken, lösen sich die Blockaden in den Entscheidungsebenen vieler Konzerne.

Mercedes-Benz weihte Mitte der 90er-Jahre die erste sichere Wasserstofftankstelle ein. Was hat das Unternehmen seither eigentlich daran gehindert, die Flotte von Diesel auf Wasserstoff umzustellen? Nun, da die Bundesregierung Geld auf den Tisch zu legen bereit ist, geht es mit einem Mal. Wir haben Jahrzehnte verloren, weil in vielen Unternehmen Unterlasser regierten. Andererseits: Der Fortschritt der Digitalisierung, der mit Quantencomputern und Künstlicher Intelligenz in den 20-er Jahren eine völlig neue Stufe ihrer Entwicklung erreichen wird, macht jene hochkomplexen Steuerungsprozesse erst möglich, die nötig sind, um ein von hauptsächlich von Sonne und Wind betriebenes Stromnetz zu betreiben. Früher war die Steuerung des Stromnetzes eine übersichtliche Angelegenheit. Es gab hundert relevante Kraftwerke, die elektrische Energie ins Netz speisten, die unterschiedlich schnell hoch- und runterzufahren waren. Um die Lücken zu überbrücken, verfügte man über die großen Speicherkraftwerke, deren Turbinen per Knopfdruck mit voller Last Energie liefern konnten. Heute steigt die Sonne über eine Bergkette und trifft die solarbewehrten Dächer der Bauernhöfe auf der gegenüberliegenden Talseite. Von einem Augenblick auf den anderen verbrauchen diese keinen Strom mehr, sondern pumpen Megawatt ins Netz.

Foto: Anders Hellberg CC BY-SA 4.0
wikimedia commons

Der Bewegung, die nun in den Laboren und Entwicklungszentren der vielen Zweige der Industrie herrscht, steht eine erstarrte Umweltbewegung gegenüber, deren aktivistischsten Teile wie vor vierzig Jahren Wehrdörfer gegen Abholzungen errichten. Viele Umweltbewegte wollen nicht oder können nicht erkennen, dass Forschung und Entwicklung eine völlig andere Richtung genommen haben. Es geht jetzt in den Laboren und Entwicklungsabteilungen um das Klima und die großen Seuchen der Menschheit wie den Kampf gegen Krebs, Alzheimer, Multiple Sklerose oder gerade auch gegen das Corona-Virus. Manche sind weiter zornig wie die Schwedin Greta Thunberg und schleudern ihren Zorn der UNO-Vollversammlung entgegen. Der grauer werdende Teil der Umweltbewegung ist institutionell geronnen, befeuert die politische Diskussion mit immer neuen Forderungen nach noch schnellerer Transformation, als sie ohnehin im Werden ist. Politisch erzeugt der Retro-Protest auf allen Seiten Frust, Ratlosigkeit und Larmoyanz. Und hemmt den Fortschritt.

Von Zauneidechsen und Rechtsextremen

Als ich noch ein Kind war, sahen Nazis wie ihre eigenen Karikaturen aus. Die Männer trugen Seitenscheitel und Uniform, die Frauen Zöpfe und Röcke, ihre Lieblingsfarbe war Braun. Oder schwarz. Sie lasen Landser-Heftchen, freuten sich auf Sonnwendfeiern, kurzum: Sie waren für die Anschlussfähigkeit an die 70er-Jahre und deren Bewohnerin ein und Bewohner denkbar schlecht gerüstet. Es mangelte ihnen an jungen Intellektuellen, es herrschten über NPD und FAP und DVU die Ewiggestrigen. Wer sich dort einfand, war einfach ein Nazi.

Die neuen Nazis erscheinen smart. Während die Wehrsportgruppe Hoffmann ihre Geländespielchen mutmaßlich noch mit zu kurbelnden Feldtelefonen organisierte, nutzen ihre Enkel die neuesten Errungenschaften der Digitalisierung, um ihre nach wie vor rückständigen, digital jedoch aufpolierten Gedanken über Volk, Heimat und Identität zu verbreiten. Weil die Einstiegschwellen in den Markt digitaler Publikation so niedrig liegen, bespielen sie, finanziert von Gönnerinnen und Gönnern, vielstimmig die digitale Klaviatur. Zeitschriften, Rundfunkkanäle, Plattformen ergänzen das Verlagsangebot. Es hat sich eine Corona von Intellektuellen um die neue Rechte gebildet, die den jungen Nazis hilft, ein bürgerliches Mäntelchen überzuwerfen und nicht sogleich erkannt zu werden.

Bisweilen bedingen sich moderne Umweltschützer und Bewegung von Rechtsaußen geradezu gegenseitig. Als die Bewegung „Ende Gelände“ 2016 nachgerade überperfekt vorbereitet mit Tausenden von Anhängerinnen und Anhängern aus Berlin und aller Welt in das Lausitzer Revier südöstlich von Berlin zog, um gegen den Abbau und die Verstromung von Braunkohle zu demonstrieren, politisierten sie die einen Teil der dortigen Bewohnerinnen und Bewohner gleich mit. Der Spreewald 2016 war aber nicht Wackersdorf 1986. Eine andere Stimmung vor Ort, eine andere Zeit, andere Bedingungen. Das Ergebnis des Retro-Protests: Bei den Landtagswahlen 2019 färbte sich die politische Landkarte im Osten Brandenburgs überwiegend braun. Die AfD hatte sich als Partei, die den Klimawandel leugnet, den Menschen angedient, die um ihre Arbeitsplätze im Revier fürchteten.

Weil der Klimawandel nicht menschengemacht sei, ja möglicherweise sogar eine Lüge, erfunden, um die Menschen aus ihrer Heimat, der Lausitz zu vertreiben, könne das Land mit riesigen Baggern ruhig weiter ausgekohlt und die Braunkohle zu Strom verfeuert werden. Ebenfalls im Osten von Berlin mischt sich die AfD unter die Protestierer gegen den Bau der Teslafabrik, dem eine Nadelholzmono- und eine Eidechsenkultur zum Opfer fallen wird.

Die neue Rechte protestiert gegen Windparks, gegen die Rückkehr der Wölfe und stärkt den Bauern den Rücken, die nicht von der industriellen Landwirtschaft und vom täglichen Beschiss der Verbraucherinnen und Verbraucher lassen wollen. Die neue Rechte konstruiert entlang immer neuer Konfliktlinien zwischen gestern und morgen deutsche Identitäten und bestreitet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, es immer schon war, sie fordert direkte Demokratie „wie in der Schweiz“ nicht, um die Demokratie zu stärken, sondern um ihre Institutionen zu unterlaufen.

Die AfD und das mit ihr eng verbundene weitverzweigte politischmediale Netzwerk hat ein Paralleluniversum geschaffen, in dem sich all jene zu Hause fühlen, die sich der Modernisierung verweigern wollen. Die Anti-Modernen verfügen über eine begeisterte, teilweise euphorisierte und auf jeden Fall schnell und multithematisch mobilisierbare Anhängerschar, die im Fortschritt – ganz gleich ob in Industrie, Gesellschaft oder Politik – immer eine neue diktatorische Bedrohung ausmacht. Die Ironie: Die neue antimoderne Rechte würde es ohne die neue Moderne und ihre Herausforderungen nicht geben. Ohne den Zug der Flüchtlinge über den Balkan hätte die AfD 2005 ihre Themen nicht gefunden.

2021 oder kurz vor dem Ziel

Die Begeisterung über die neue Technik ist auf eine bemerkenswerte Weise eine individuelle Angelegenheit. Und zwar deshalb, weil Millionen Menschen die gleiche Erfahrung mit jeder neuen Generation ihrer smarten Lieblinge machen. Mit der Erfahrung bleibt aber jede und jeder für sich allein. Allenfalls über Plattformen sind wir Userinnen und User verbunden, wenn wir uns gegenseitige Hilfe bei Problemen anbieten, weil mal wieder ein Update nicht gelingt.

Als das iPhone noch neu und Alternativen nicht zu haben waren, bildeten sich an Erstverkaufstagen rund um den Globus Schlangen vor den Geschäften der Firma mit dem Apfel-Logo. Manche standen schon am Abend vorher an und verbrachten die Nacht vor den Geschäften, um sich die nächste Generation von Geräten zu beschaffen. Apple war es gelungen, so viele verschiedene im Alltag nützliche Anwendungen wie Uhr, Telefon, Mail, Bildtelefonie, Internetzugang, Spielekonsole, Adressverzeichnis, Kalender, Kino, Kompass und vieles mehr in ein nicht einmal hosentaschengroßes Gerät zu packen. Die Anwendungen zusammen mit dem nicht mehr überschaubaren Angebot an Apps für Schule, Universität, Freizeit und Beruf verbanden sich zu einer Erzählung, die sich ähnlich der neuen Fernsehserien mit immer neuen Staffeln und Folgen weiterentwickeln lässt.

Der Mann, der als kleiner Junge vom selbstfahrenden Auto träumte, in dem man mit den Eltern spielen kann statt ihnen beim Starren auf die Straße zuzusehen, hat nun selbst Kinder. Ohne dass sie es wissen, hat sich für sie ein Teil meines Traumes, wenn auch ganz anders erfüllt. Sie besteigen ihren Sitz, zücken ihr Handy und beginnen zu öddeln. Jedenfalls haben sie eine Ablenkung. Ihr Mensch-ärgere- Dich-nicht heißt ohnehin Fortnite, Minecraft oder Angry Birds. Und findet ohne mich oder meine Mitfahrerin statt. Denn jeder öddelt für sich alleine.

Foto: CC BY-SA 3.0

Gut, unser Auto fährt ja auch noch nicht autonom. Und ist auch nur teilweise auf Strom. Aber schon ist das Handy meine Stereoanlage, mein Navigationssystem, mein Telefon, dem ich befehlen kann, dieser oder jenem eine Nachricht zu senden. So gesehen bin ich vielleicht nicht am Ziel meiner Kindheitsträume aber kurz davor, dass sie wahr werden. Seltsamerweise führte der Weg zum selbstfahrenden Auto über das Telefon, das in der Zeit, als ich noch ein Kind war, im Flur an der Wand festgeschraubt war. Meine Begeisterung? Ja, manchmal bin ich begeistert. Aber eigentlich hält der keineswegs leichter gewordene Alltag mich von solchen Gedanken ab.

Sisyphos oder das politische Vakuum unserer Zeit

Aus der Begeisterung von Millionen für Technik, die unseren Alltag revolutioniert, ist keine kollektive Praxis erwachsen. Das Ende der Leibeigenschaft, die Eisenbahn und die Industrie dagegen hatten das ohnehin mürbe gewordene System des Feudalismus sterben lassen. Die Revolutionen in den USA und Frankreich waren nicht mehr umkehrbar. In nur wenigen Jahrzehnten entstand aus ganz verschiedenen, sich aber wechselseitig bedingenden Neuerungen eine kollektive Praxis einer völlig neuen Klasse. Das war die erste Tiefe Transformation unserer Zeit. Ohne kollektive Praxis, ohne die Herstellung von Lebens- und Sinnzusammenhängen, ohne die gemeinsame Formulierung von Erwartungen dringen Themen nicht in den Bereich des Politischen vor.

Natürlich haben wir heute Gesetze zum Datenschutz, die es ohne Digitalisierung nicht gegeben hätte. Oder zur Besteuerung von Umsätzen, die im Internet gemacht werden. Auch können Parteien mithilfe der Digitalisierung Parteitage, Konferenzen und Beratungen simulieren. Wer jemals die Eigendynamik einer stundenlangen Debatte auf einer Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen erlebt hat oder wie ein SPDParteitag aus Sicht seines Präsidiums zum Kippen gebracht werden kann, ahnt, dass dies niemals gelingen wird, wenn Menschen von ihren Küchen-, WG- oder Couch-Tischen aus an virtuellen Parteitagen teilnehmen.

Die zentrale neue Technologie, die Digitalisierung und ihre Ableitungen, sind Instrumente zur Vereinzelung. Wenn ich hier vom Politischen schreibe, meine ich also weder Regulierungs- noch Anwendungsfragen. Es geht auch nicht allein um die Digitalisierung als Wirtschaftsfaktor. Ich meine die historisch seltene Gleichzeitigkeit von Transformationen in Industrie, Dienstleistungen, Energieerzeugung und Energieverbrauch, unserer Art und Weisen, wie wir leben, wie wir Liebe und Alltag organisieren. Alles ist ins Fließen geraten. Mit hohem Tempo. Durch kollektive Praxis oder gar durch Politik hat dieses Fließen keine Richtung bekommen.

Kein Parteiprogramm unserer Zeit denkt in vergleichbarer Weise von der schöpferischen Kraft der neuen Technologie wie das von Godesberg von der Atomtechnologie. Dabei ist die transformative Kraft des Quantencomputers der des Atoms ohne Zweifel mindestens ebenbürtig. Ins Jahr 2020 übersetzt würde der Satz von 1959 lauten: „Aber das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch im digitalen Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er die täglich wachsende Verfügbarkeit von Daten nur im Sinne des Gemeinwohls einsetzt.“

By ArchaiOptix – Own work, CC BY-SA 4.0, wikimedia commons

Man kann sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Man muss das nicht. Man kann es auch bleiben lassen. Schließlich waren die Autorinnen und Autoren des Godesberger Programms keineswegs technikgläubig, wie man Ihnen unterstellt. Denn vor den Absatz über die „Hoffnungen der Zeit“ setzten sie eine Passage über die „Widersprüche unserer Zeit“. Der Mensch habe die „Urkraft des Atoms“ entfesselt und fürchte sich nun vor den Folgen.

Während wir uns also inmitten einer tiefen Transformation befinden, bleibt der Ausgangspunkt des Politischen im Grunde dem 20. Jahrhundert verhaftet – der wegen ihrer Risiken gut begründeten Distanz gegenüber dem Neuen. Das Internet soll dienen, das, was war, einfach besser machen. Wir wollen ihm nicht die Kraft zugestehen, die es hat: Selbst Ausgangspunkt einer möglichen positiven Weiterentwicklung von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zu sein – wenn man nur klug Gebrauch davon machte.

Hegel schrieb in seiner 1807 erschienen Schrift Phänomenologie des Geistes: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ Im Hin- und Herreden komme „solches Wissen“ nicht von der Stelle. Das „Auffassen und Prüfen“ bestehe darin zu sehen, ob jeder das „von ihnen Gesagte auch in seiner Vorstellung findet“. Das sind die Blasen, in denen wir uns solange noch bewegen, bis wir aufhören, die Technologien unserer Zeit zu beschreiben, sie individuell zu nutzen, sondern zum Ausgangspunkt des Politischen machen (und damit zunehmend allmächtigen Konzernen entziehen). Nur dann werden wir sie auch beherrschen.

Herr und Knecht 2.0

Diese kleinen klugen Spielzeuge, die neuerdings auch bei Nacht taghell zu fotografieren wissen und die in der Dunkelheit als Taschenlampe dienen können, bergen eine Fähigkeit zur Transformation in sich, die hinsichtlich ihres Potenzials derjenigen, die vom „Atom“ bis heute ausgeht, in nichts nachsteht. Es geht um die Fähigkeit totalitärer Regierungen oder Dienstanbieter, auf der Grundlage unserer allseits bereitgestellten Datenvolumen jene künstlichen Zwillinge von uns zu erschaffen, mit deren Hilfe wir im Alltag und bei unseren Entscheidungen steuerbar werden.

Das ist kein unrealistisches Szenario. Denn indem wir nicht nur immer mehr Daten, sondern auch alltägliche Verrichtungen (wie die Kalenderführung, die Fahrkarten- oder Pizzabestellung und Bankgeschäfte) unserer digitalen Prothese überantworten, verlieren wir die Fähigkeit, diese Prozesse autonom zu bestimmen. Wie war das mit dem Herrn und dem Knecht? Der Herr überträgt immer mehr Aufgaben seinem Knecht. Das erleichtert ihm sein Leben ungemein. Um immer mehr Leistungen zu bekommen, zollt er seinem Knecht Anerkennung bis dieser Stolz auf getane Werke, im Grund zum Herrn seines nunmehr von ihm abhängigen Herrn wurde.

Genauso können wir die große Errungenschaft der Aufklärung, dem Wunsch nach und der Fähigkeit zu Selbstregierung an Automaten verlieren. Je mehr wir bejubeln, welche neuen Applikationen unser Leben verfeinern, um so mehr übernehmen diejenigen die Macht, dieunsere Daten so klug zu unseren digitalen Zwillingen zusammensetzten, dass sie uns mithilfe unserer smarten Helfer im Alltag zu steuern wissen. Dann wären wir Knechte und fühlten uns wahrscheinlich immer noch als Herrn.

Schicksalsjahr 2021

Das immer noch recht junge Jahr 2021 enthält alles, um die Weichen zu stellen, ob wir am Ende Gefangene unter selbstfahrenden, stromgesteuerten Käseglocken werden, in denen uns zur Abtötung der Langeweile das Spielen nahegelegt wird. Oder ob wir aus der Phase der Tiefen Transformation so herauskommen, dass wir besser über unser Leben selbst bestimmen können. In diesen zwölf Monaten werden in sechs Bundesländern die Landtage und im Herbst auch der Bundestag neu gewählt. 2021 ist ein hochpolitisches Jahr. Denn in diesem Jahr werden nicht nur einige Parlamente für vier oder fünf Jahre gelegt. Jetzt hat die Transformation begonnen, was nun geregelt oder nicht geregelt wird, was nun investiert oder nicht investiert, was nun an unseren Schulen, Kliniken, Altenheimen verbessert oder belassen wird, wie es ist, entscheidet über den Ausgang des vor uns liegenden Jahrzehnts und die Jahrzehnte danach. Insofern ist 2021 mehr als ein Wahljahr, mehr als ein hochpolitisches Jahr. 2021 ist ein Schicksalsjahr. An dessen Beginn wir jedoch immer noch Gefangene der Corona- Pandemie, ihrer Abwehr und Folgen davon fest stecken. Wir wissen alles über 7-Tages-Inzidienzien in unserer Stadt, unserem Landkreis, unserem Land und der Welt, über Intensivbetten und ihre Auslastung. Wir werden mindestens noch einige Monate Gefangene dieser Pest bleiben.

Es fehlt uns darüber die Zeit für wichtige Diskussionen. Etwa über die Frage, ob und wie wir Quantencomputer mit ihren um den Faktor tausend oder mehr schnelleren Rechengeschwindigkeiten in Verbindung mit Algorithmen der Künstlichen Intelligenz in unseren Dienst stellen können, um für die Menschheit ein Stück mehr Freiheit, soziale Sicherheit und Wohlstand für wirklich alle zu erobern?

Das Jahr 2021 wird ein Jahr der Entscheidung sein. Die nun anbrechende Dekade wird eine Phase der Tiefen Transformation unseres Lebens sein. Es wird eine Zeit der Beschleunigung, in der die Ereignisse scheinen, sich selbst zu überholen. Am Ende werden auch die Bilder von der Zukunft, in denen ich als Kind stöberte, Vergangenheit geworden sein. Wie es das Telefon, das im Hausflur meiner Eltern an einer Wand kurz vor der Küche hing, längst ist. Werde ich an dieser Zukunft nach der Tiefen Transformation, die ich im Vertrauen auf die Sterbetafeln gewisse Chance haben werde zu erleben, auch Gefallen finden?

Ich durfte den Fortschritt in drei verschiedenen Zuständen kennenlernen. Als ich ein Kind war, war ich voller Begeisterung. Als ich selbstständig zu Leben lernte, war der Fortschritt eine Gefahr geworden, die man fürchten musste. Heute ist der Fortschritt irgendwie. Er kommt so in die Welt, wir nehmen ihn gerne und reden ebenso gerne schlecht über ihn. Es ist jetzt viel Bewegung. Die einen machen den Fortschritt. Die anderen sind deutschtümelnd oder ökologisch verbraust sehr dagegen. Es ist so wenig von Widersprüchen und Hoffnungen unserer Zeit die Rede. Wer zeichnet den Kindern von heute Bücher von der Zukunft? Wer traut sich?

Mir bleibt, wie gesagt, am Beginn der 2020er-Jahre ein Unbehagen über das Kommende. Und die Frage: Wird mein nächstes Auto wissen, wohin ich wollen soll? Oder werde ich das noch selbst bestimmen können? Ein Unbehagen, weil das jetzt entschieden werden wird. So oder anders.

Hilmar Höhn
Hilmar Höhn ist ausgebildeter Verlagskaufmann und Zeitungsredakteur. Nach seiner journalistischen Tätigkeit zuletzt für die Frankfurter Rundschau wechselte er zu den Gewerkschaften, u. a. als Leiter der Abteilung Politik beim Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IG BCE) und als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des DGB-Bundesvorstandes. Seit 2019 arbeitet er als freiberuflicher Autor.

1 Kommentar

  1. Lobenswert an diesem Text der Blick auf jüngere Geschichte. Was sich seit den 70ern getan hat, ist bemerkenswert, wird aber nicht bemerkt, weil die jeweils gegenwärtige Protestgeneration nicht geschichtsvergessen, sondern eher geschichtsblind ist. Vor lauter Hier und Jetzt dominiert die Betroffenheits-Scheuklappe bei Denken, das mehr Fühlen ist.

    Noch deutlicher muss gesagt werden: Es hat sich seit den 70ern eine „machtvolle Umweltbewegung“ entwickelt. Und es ist zugleich richtig: Wir haben es heute mit einer zwar permanent bewegten, ideologisch aber „erstarrten Umweltbewegung“ zu tun. Und die gesellschaftliche Verbindung?

    Diese Gesellschaft braucht eine starke Umweltbewegung. Als permanenten kritischen Störfall, als beunruhigende Irritation. Sie hat warnende Wirkung, Und daher ist sie „systemrelevant“. Nur auf ihre Rezepte sollte nicht gehört werden. Die radikale Ächtung des Wachstums mag der Natur kurzfristig helfen, das Projekt einer sich weiter entwickelnden Globalgesellschaft würde aber in eine ganz andere Katastrophe schlingern: der des Zusammenbruchs von Wirtschaft, Handel, Verkehr, Logistik, Lebensmittelproduktion und Medizinversorgung. Die unmittelbare Folge wäre auch ein Niedergang der Sozialsysteme. Nebenbei gäbe es dann zwar keine spritschluckenden SUVs mehr, aber auch keine hochtechnisierten Rettungswagen, die Corona-Kranke über funktionierende Straßensysteme in ebenso hochtechnisierte Krankenhäuser bringen. Und die Dritte Welt würde wieder definitiv auf den Status von Subsistenzwirtschaft zurückfallen. Immerhin gäbe es dann dort auch keine Arbeitslosigkeit mehr, denn die entsteht als Faktor erst bei einer entwickelten Arbeitsgesellschaft.

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