Die Techno-DJane mit der verspiegelten Panoramanachtsichtbrille

Foto: Loryn auf Pixabay

Der tanzende Organismus war nicht größer geworden. Zu viele Gäste hingen an den Rändern der Tanzfläche ab oder hatten den Saal verlassen. Die DJane war besorgt, dass die Tanzfläche sich weiter leeren könnte. Dieser Abend sollte zu einem Fest werden, wie alle anderen auch. Die Leute sollten sich bewegen und trinken. Natürlich war das auch wichtig fürs Geschäft.

Die in Europa lebende DJane hatte ein ausgeprägtes Gespür dafür, ihre Acts an das Publikum und die Umgebungen anzupassen. Sie variierte ihre Musik je nach Temperament und Regionen der Gäste. Die jungen Leute in Neapel erwarteten energiegeladene und rhythmische Musik, während „London“ für eine elegante Gemeinde im fortgeschrittenen Raver*innenalter mit der Vorliebe für Melodien stand. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit ganz den Tanzenden. „Auflegen“ bedeutete für sie ihren persönlichen Geschmack zurückzustellen. Ihr Grundsatz war: „El DJ no es la estrella“, was bedeutete, dass nicht sie, sondern das Publikum der Star war.

Die Raver*innen waren eine besondere Welt. Es gab kein offizielles Raveroutfit, viele junge Männer trugen einfach T-Shirts und Jeans, für die Frauen gab es wiederkehrende Elemente wie Bodysuits, Tanzshorts oder Push up BHs. Besonders schrille Typen traten beim „burning man“-Festival in der Black Rock Desert in Nevada auf. Unter dem wolkenfreien Himmel schien immer ein leichter Wind zu wehen und die weite Ebene war nur in der Ferne von einer Felsenkette begrenzt. In dieser Umgebung wirkten die Tänzer*innen wie eine etwas verlorene Schar.

Foto: TECHNOKRATIA, CC BY-SA 4.0/ wikimedia commons

Eine Frau mit Hochzeitsschleier in Bikini und Strapsen, ein Mann mit bloßem Oberkörper, purpurrotem Umhang und goldener Krone, Frauen in durchscheinenden lässig fallenden Seidengewändern oder in metallisch glänzenden Minifaltenröcken, ein Mann in phantastischer Uniform und weißem Offiziershut, der an diejenigen der russischen Armee erinnerte, eine Frau in grauweißen Pants, engem Top und Weltraumkampfstiefeln, ein Mann in rot-weiß gemusterten slim fits, eine Frau, die in ihrer weißen Plüschjacke wie ein Glühwürmchen leuchtete usw. usf. Die Raver*innen mussten Tage und Wochen damit zugebracht haben, sich an Originalität zu überbieten. Und manche kamen an jedem Tag des neuntägigen Festivals in einem anderen Kostüm!

In der Wüste und mit der Gelassenheit eines Publikums, die an Woodstock erinnerte, wählte die DJane verspielte Melodien und langgezogene, statische und knarzige Basslines. Die Harmonie übereinandergelegter mehrschichtiger Melodien versetzte die Raver*innen ins Träumen. Der Techno mit seinen Moll-Akkorden war langsamer, seine Drops waren unscheinbar und die Breaks melancholisch. Manche Leute tanzten stundenlang mit geschlossenen Augen.

Die Atmosphäre war in diesem offenen weiten Gelände entspannter als in den stockdunkeln engen Clubs, den Werkshallen, den Stadtfestivals wie dem Sónar Barcelona oder dem SonneMondSterne-Festival an einer Talsperre mit Beach. Wenn sie in den Old-School-Modus wechselte, brachte sie die Tanzenden so in Fahrt, dass die begeistert ihre Hände in die Luft warfen. Mit ihren Kicks und Hihats beschleunigte sie Dynamik und Schnelligkeit. Allerdings konnten nur echte Freaks die hohen Beatfrequenzen verarbeiten und ihre Beine bei diesem Tempo noch koordinieren. Nach kurzen Phasen von größter Intensität erlöste sie das Publikum mit entspanntem Tech.

Foto: JoeJoeJoe93, CC BY-SA 3.0/ wikimedia commons

Sie war immer wieder erstaunt, wie viele addicted people aus der Szene durch ganz Europa reisten. Manche sparten ihr ganzes Geld für die wichtigen Festivals. Ein Raverleben war teuer. Die Taxis, die Clubeintritte, die Biere und der ein oder andere hochprozentigere Drink fürs Wohlbefinden gingen ins Geld. Raver*innen litten an den tanzfreien Zeiten wie dem “Suicide Tuesday”. Der harte Kern ging für seine Leidenschaft irgendeiner Arbeit nach und lebte für die Wochenenden, an denen die Grenzen zwischen Freitag, Samstag und Sonntag sich in Fluss und Dauer auflösten. Viele Raver*innen verloren ihr Zeitgefühl, niemand wusste mehr, wann der Handyakku leer war, ob es zwei, drei oder acht Uhr war. Manche muss die DJane mit den Hits der neunziger Jahre hinauswerfen.

Sie war mit ihrem ersten Act an diesem Abend nicht zufrieden gewesen. Draußen war es kalt und selbst innerhalb der Werkshalle unangenehm kühl. Außerdem hatte sie den Nerv des Publikums nicht voll getroffen. Sie wollte für ihren zweiten Auftritt am Abend ein spezielles Hilfsmittel aus ihrem Hotelzimmer mitnehmen. Dabei handelte es sich um eine „Panoramabrille“ mit einer besonderen Eigenschaft. Es war ein Nachtsichtgerät im Design einer verspiegelten Panoramanachtsichtbrille. Also eine technische Vorrichtung, die die visuelle Wahrnehmung in der Dunkelheit verbesserte. Normalerweise verwendeten Naturforscher, das Militär oder Jäger Nachtsichtgeräte, die das Umgebungslicht vervielfachten. Sie wollte aber keine Tiere auf einer Lichtung beobachten, sondern die Stimmung der Tänzer*innen in der dunklen Halle besser erkennen, um ihre Musik an ihnen besser auszurichten. Wie eine Nachtjägerin war sie auf der Suche nach den Emotionen ihrer Fans. Außerdem sah die Brille mit ihrer Verspiegelung cool aus.

So konnte die DJane die Emotionen und Bewegungen der Gäste noch weit hinten in einer Halle wahrnehmen. In ähnlicher Art und Weise hatte Al Pacino alias Polizei-Lieutenant Vincent Hanna in Michael Manns Kriminalfilm „Heat“ (1995) alles darangesetzt, die Bande von Robert De Niro in flagranti bei einem nächtlichen Einbruch zu überführen. Er hatte die grauen Gestalten mit seinen Leuten vom Dach eines Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet. Aber das Geräusch eines Polizistenhandys hatte die nächtliche Festnahme zunichte gemacht. So schien es zumindest, denn der Gangsterboss hatte den Kopf gehoben und direkt in Pacinos Fernglas geblickt. Tatsächlich schien McCauley-de Niro den Einbruch wegen seines jenseits des normalen Wachbewusstseins liegenden psychischen Fähigkeit abgebrochen zu haben. Gangster und Polizist besaßen ein außerordentliches Gespür für die Anwesenheit des anderen auch in sehr großer Entfernung.

Je aktiver die Bewegungen der Raver*innen waren, desto besser waren ihre grauen Schemen zu erkennen. Das Nachtsichtgerät, ein Restlichtverstärker mit schwarz-weiß-Röhre, erlaubte ihr, ihre Fans um so besser zu erkennen, je mehr sie mit der Musik gingen. Sie leuchteten umso heller, je mehr die Musik sie berührte.

Foto: VideoArchaeologist, CC BY-SA 4.0/ wikimedia commons

Als sie am Abend wieder auf dem Weg zur Halle war, war ihr erstmals das gewaltige Umspannwerk am Rand der Straße aufgefallen. Dort hatte es Blitze und Entladungen gegeben und als das Taxi den Ort passierte, war eine starke elektromagnetische Welle ausgelöst worden. In dieser Nacht hatte es einen zeitweiligen Stromausfall im nördlichen Umland von Barcelona gegeben. Sie war sehr erschrocken, aber sie konnten einfach weiter fahren. ¡Suerte, no pasó nada!, hatte sie zum Fahrer gesagt, Glück gehabt, nichts passiert. Der hatte nur genickt.

Als die DJane später bei einem Track ihre Brille aufsetzte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die gewohnten Umrisse der Raver*innen waren verändert. Sie sah jetzt vereinzelte leuchtende Gestalten am rechten Rand der Halle. Sie sahen aus wie „Frogs“. Die „Frogs“ aus der Kultserie „Raumpatrouille Orion“ aus den sechziger Jahren waren Außerirdische von großer, sehr leptosomer und glitzernder Gestalt. Sie wollten mit ihren Laserwaffen und ihren schnellen, pfeilspitzenförmigen Raumschiffen sich die Erde untertan machen. 

Die Brille hatte die Raver*innen in Glitzerwesen verwandelt. Allerdings nur eine kleine Gruppe am rechten Rand der Tanzpiste, die anderen waren ein dunkles, graues wogendes Meer. Den Lichtgestalten entwichen zerrissene Glitzerschwaden, die nach und nach kleine Wolken bildeten und sich in Bewegung setzten. Sie zogen zu den benachbarten Tänzer*innen, hüllten sie ein und machten aus ihnen rasch ebenfalls glitzernde Gestalten, die zuerst nur schwach, dann immer heller leuchteten. Nach einer halben Stunde war diese Gruppe schon um das Doppelte angewachsen. Und je schneller die Musik wurde und sich der magischen Grenze von 130 bpm (Beats per Minute) näherte, desto schneller verwandelten sich die grauen in weiße funkelnde Gestalten. Neue Gäste, die die Halle oberhalb dieser Gruppe betraten, waren zunächst nur matte graue Gestalten. Aber schnell wurden auch sie zu Technofrogs.

Die DJane überkam eine schlimme Ahnung. Die Technofrogs mussten von einem Virus infizierte Tänzer*innen sein. Ihre vom Magnetfeld des Umspannwerks umprogrammierte Brille zeigte an, wie die Dämpfe der Aerosole in die Organismen der anderen Tänzer*innen eindrangen. An den stetig sich vermehrenden Frogs ließ sich ablesen, wie rasch sich der Virus ausbreitete.

So fand diese Nacht Eingang in die Geschichte der Technopartys. Die Musik war immer weiter gelaufen, aber irgendwann fragten sich die Veranstalter, wo die DJane geblieben war. Dies war knapp eine Stunde, bevor die Polizei mit einigen Mannschaftswagen auf dem Gelände erschien und die wegen der Pandemie verbotene Großveranstaltung auflöste.

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke