Volker Riegger, erfahrener Wahlstratege, Wahlforscher und Wissenschaftler, hat einen Albtraum: Bundeskanzlerin Merkel. Im bruchstücke-Interview erläutert er, worin er reelle Chancen für einen Machtwechsel sieht, wie die „Schlaftabletten“ Söder und Laschet politisch zu schlagen sind. Mit dem Wissen des Insiders analysiert er in einem klaren Blick zurück (die rot unterlegten Passagen des Interviews), woran Schröder und Lafontaine gescheitert sind und was die SPD von heute aus diesem Scheitern lernen kann.
Die ersten beiden Landtagswahlen dieses Jahres liegen hinter uns. Geben die Ergebnisse Hinweise auf größere Tendenzen, insbesondere auf den Verlauf von Bundestagswahlkampf und Bundestagswahl?
Riegger: In seiner qualitativ herausragenden, weil in die Tiefe gehenden und mit langen Zeitreihen arbeitenden Analyse zu diesen beiden Wahlen zeigt Horst Kahrs, warum die Orientierung an Personen statt an Parteien noch einmal deutlich zugenommen hat. Obwohl bei Landtagswahlen auch früher schon oft die Figur des „Landesvaters“ und auch die der „Landesmutter“ entscheidend war.
Bei Bundestagswahlen ist das bislang anders. Trotz des ganzen Theaters, das in den Medien und von den Parteien wegen der Kanzler-Kandidaten jeweils veranstaltet wird. Funktion der Kandidaten war bisher stets, das eigene Lager auf die Beine und zum Wählen zu bringen, mit ihrer Strahlkraft die potentiellen Wähler der Konkurrenz zu entmutigen und vielleicht noch ein paar von ihnen abzustauben. Die unbestrittene Koryphäe in dieser Disziplin und deshalb nicht nur Herrn Lindner’s Albtraum, sondern auch der jedes SPD-Strategen, war und ist Angela Merkel.
Geht es um den Kanzler, geht es ans Eingemachte
Sie wird – hoffentlich – bald weg sein und deshalb wird es diesmal spannend: Bleibt es wie bisher dabei, dass die Entscheidung der WählerInnen am Ende mehr davon abhängt, welcher Partei oder welchem politischen Lager diese habituell zuneigen. Oder hängt deren Entscheidung mehr von der Person ab, die einem als Kanzler angeboten wird?
Bei den meisten geht es ans Eingemachte, wenn es um den Kanzler geht. Man fühlt sich davon persönlich betroffen. Deshalb spielt der Rückgriff auf die eigene politische Grundorientierung bei Bundestagswahlen eine so starke Rolle. Deshalb gibt es bei dieser Wahl auch in der Regel eine hohe Beteiligung. Das wird auch dieses Mal so sein, vermute ich, bin mir aber nicht mehr ganz so sicher.
Was könnte heute schon gegen eine hohe Beteiligung sprechen?
Riegger: Gibt es nicht den großen mobilisierenden Konflikt, dann könnte die Grüne Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin die konkurrierenden Männer so sehr in den Schatten stellen, dass diesmal tatsächlich die Person den Ausschlag gibt. Vor allem bei den Frauen könnte sie dann überall abräumen – wie es Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz gelang.
Volker Riegger machte politische Planung und Kampagnenmanagement für Willy Brandt und Helmut Schmidt (1972-1986), war Mitglied der Geschäftsleitung Infratest-Forschung (1986-89) und im Vorstand der logos AG in München. An der Universität der Künste Berlin ist er Honorarprofessor für strategische Unternehmens- und Kommunikationsplanung.
Wahlen mitten in einer Pandemie: Es geht um Leben, Tod, Impftermine und Insolvenzen. Wie beeinflusst das die Wahl? Gibt es dazu Erkenntnisse der Wahlforschung?
Riegger: Was letzteres anbelangt: Ich empfehle, auch hierzu die Spezial-Studie von Horst Kahrs dazu in Bruchstücke zu verlinken. Das ist das beste, was ich dazu bislang gelesen habe.
Wählerinnen und Wähler entscheiden bei einer wichtigen Wahl mit dem Blick nach vorn. Wer ist besser für mich auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft? Wem traue ich dabei mehr zu? Bis zum Wahltag wird es hoffentlich nicht mehr um Leben und Tod gehen. Wahrscheinlich werden bis dahin die meisten geimpft sein, und das wird von den jetzt Regierenden als toller Erfolg verkauft werden.
Wer bezahlt die Pandemie?
Das wird ihnen aber nicht viel bringen. Denn die Frage, wie’s weitergeht und wer dafür zahlen muss, wird dann der Elefant im Raum sein. Und der lässt sich dann mit keinem Propaganda-Trick der Welt mehr hinausbugsieren. Wer auf diese Fragen besser vorbereitet ist und die überzeugendere Perspektive bieten kann, wird die besseren Chancen haben, eine Mehrheit für sich zu gewinnen.
Wenn ein Virus das Leben der WählerInnen weitgehend beherrscht — haben da Diskussionen über eine andere Politik, etwa in Sachen Klimakatastrophe, überhaupt eine Chance? Oder gerade eine besonders große?
Riegger: „Du musst Dein Leben ändern“ ist der Titel eines Buches von Peter Sloterdijk, der ein feines Näschen hat für die Winde, die den Zeitgeist und die Zeitgeistigen zum Flattern bringen. Die Grünen haben in Wahlkämpfen die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass sie mit solchen Aufforderungen, vor allem wenn es konkret wird, auch bei den eigenen Leuten nicht landen können. Denken Sie nur an die Themen Fleischkonsum und Benzinpreise. Man lässt sich halt nicht gern von jemand anderem sagen, man müsse sich ändern. Auch wenn und gerade weil man weiß, dass daran kein Weg vorbeiführt. Deshalb werden auch die Grünen wie alle anderen beim Klima-Thema im Allgemeinen bleiben und eher nicht so ganz konkret werden. Genau daraus ergibt sich eine Chance für die neue Öko-Partei, die Klimaliste, die sich als die rechtgläubige Spielverderberin der zu laschen Grünen erweisen könnte.
Trotz der doch enttäuschenden Ergebnisse, die sie bei diesen beiden Landtagswahlen eingefahren haben: 0,9 Prozent in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz noch etwas weniger?
Riegger: Weil dieses Mal Bruchteile von Prozenten für mögliche Kanzler-Mehrheiten eine Rolle spielen könnten, sind Die Grünen wegen der neuen Konkurrenz zurecht besorgt.
Eine Koalition jenseits der Union
Die Amtsinhaberin tritt nicht mehr an. Das gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. Wie wirkt sich das aus?
Riegger: In Deutschland werden von den politischen Ämtern nur das des lokalen Bürgermeisters und das des Bundeskanzlers als wirklich wichtig auch für das eigene Leben angesehen. Deshalb ist der seit langem feststehende Abgang von Frau Merkel und die Frage, wer nach ihr kommt, Dreh- und Angelpunkt dieser Wahl. Das ist eine gute Vorlage für Parteien jenseits von CDU/CSU eine Wähler-Koalition zustande zu bringen, die eine alternative Kanzler-Mehrheit im Bundestag möglich macht.
Politischer Streit drehte sich früher meist um materielle Fragen, ob Steuerpolitik, Sozialleistungen. Seit einigen Jahren geht es — auch wegen der Migrationskrise — mehr denn je um Heimat, Herkunft, Nation, Identität, Anerkennung, also um Emotionen und kulturelle Spaltungen. Ist diese Beschreibung richtig?
Riegger: Zu dieser Beschreibung des politischen Streits kann man aufgrund aktueller Analysen der politischen Arena kommen. Dort werden die materiellen Ursachen und Hintergründe der Kämpfe um Anerkennung, Herkunft und Identität oft ganz ausgeblendet oder sie kommen zu kurz. In der Wirklichkeit aber wird der politische Streit, der immer auch ein Kampf um Macht in der Gesellschaft ist, von dem Zusammen- und Aufeinandertreffen der materiellen Interessen, der individuellen und kollektiven Gefühle sowie der unterschiedlichen kulturellen Prägungen von Menschen und Gruppen von Menschen bestimmt. Das ist eine Einheit, das lässt sich nicht voneinander trennen. Auch wenn das dann – wie etwa beim Streit von Liebenden – im Einzelnen oft schwer zu durchschauen und nachzuverfolgen, aber der eigentliche Witz der Sache ist.
Wer profitiert von dieser Themenverschiebung?
Riegger: In der politischen Arena profitieren davon direkt die Parteien, bei denen das Eintreten für materielle Interessen nicht im Vordergrund steht oder camoufliert wird. Die Grünen können sich das, weil ihre Kernkompetenz Ökologie ist, so lange leisten, wie ihre Wählerklientel materiell noch derartig weich gebettet ist wie heute. Beim Auftritt der AfD geht es um Angst vor Immigration, um Sehnsucht nach Heimat und dem starken Mann. Ihr marktradikaler Hintergrund wie ihre partielle Affinität zu Akteuren des Finanzmarkt-Kapitalismus bleibt eher unbeleuchtet.
Das Klientel der Grünen — weich gebettet
Überlagern kulturelle Konflikte die sozialen, dann profitieren davon indirekt auch CDU/CSU und FDP als die politischen Repräsentanten der wohlhabenden Schichten. Denn SPD und Die Linke als ihre sozialen Antagonisten in der politischen Arena werden von dieser Themenverschiebung in interne Auseinandersetzungen gestürzt. Darüber verlieren sie – wie jüngst bei der SPD, wie seit längerem bei der Linkspartei zu beobachten ist – an Schlagkraft und Attraktivität.
Es heißt seit vielen Jahren, politische Stimmungen wechseln schnell, die Zahl der WechselwählerInnen steigt, immer mehr Menschen entscheiden sich erst kurz vor der Wahl. Trotzdem: Die meisten glauben heute schon zu wissen, es werde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer schwarzgrünen Regierung kommen, Rotrotgrün habe gar keine Chance, eventuell sei eine Ampelkoalition möglich. Sind die alle auf dem Holzweg?
Riegger: Eine vielfach gesicherte Erkenntnis der empirischen Sozialforschung ist, dass Antworten auf die Frage, wie andere eine bestimmte Entwicklung einschätzen, eine höhere prognostische Eintritts-Wahrscheinlichkeit haben als die Antworten derjenigen, die direkt zu dieser Entwicklung befragt werden. Sollte sich also bei einer solchen indirekten Befragung ergeben, dass eine Mehrheit dieser indirekt Befragten glaubt, die Mehrheit der Wählerinnen erwarte eine schwarz-grüne Regierung, dann würde ich das sehr ernst nehmen. Umso ernster je näher der Wahltag bereits herangerückt ist.
Kein todsicherer Trend, kein Selbstläufer
Aber ich würde nie aufgeben. Denn richtig ist auch, dass politische Stimmungen heute schneller wechseln, oft wegen Ereignissen, die nicht voraussehbar oder planbar sind. Insofern sind alle auf dem Holzweg, die heute von einem „todsicheren Trend“ oder von „struktureller Zwangsläufigkeit“ reden.
Allerdings: Situativ bedingte Stimmungsveränderungen können politisch nur dann effektiv genutzt werden, wenn die Partei auch ein strategisches Zentrum dafür eingerichtet hat. Und das muss darauf trainiert sein, mit solchen Veränderungen umzugehen, sich strategisch neu auszurichten, und es muss diese Neuausrichtung dann auch operativ umsetzen können. Ein Selbstläufer wie die Fukushima-Katastrophe, die vor zehn Jahren Die Grünen und Herrn Kretschmann wie selbstverständlich die Macht in Baden-Württemberg beschert hatte, ist die absolute Ausnahme.
Welche Wählergruppen müssen SPD und Linke gewinnen, damit Rotrotgrün überhaupt noch eine Chance hat?
Riegger: Die Göttinger Politologen-Schule macht den Zerfall ihres „sozialmoralischen Milieus“ für den Niedergang der SPD verantwortlich. Das liegt auf einer Linie mit den von Horst Kahrs diagnostizierten Veränderungen in der politischen Grundorientierung von Menschen, die früher regelmäßig die SPD gewählt haben. Wenn ich das richtig verstanden habe, will man, will unter anderem Kanzlerkandidat Olaf Scholz ihnen jetzt mit „Respekt“ begegnen und ihnen „Respekt“ erweisen, auch wenn sie keine Bildungs- oder anderweitigen Aufsteiger sind. Aber wie erweist man diesen Respekt, eenn niemand von der SPD mehr dort wohnt, wo diese Menschen wohnen?
Die Blockierer abservieren — wie geht das?
Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es geht eher darum, dass die SPD den Respekt ihrer ehemaligen Wähler und Wählerinnen zurückgewinnt. Das gelingt nicht mit Respektbekundungen, die immer auch Distanz signalisieren. Besser wäre es, Geschichten zu erzählen. Etwa die von Olaf Scholz. Wie der schon vor Jahren zwölf Euro Mindestlohn gefordert hat, wer das dann wie blockiert hat und wie man die Blockierer von damals heute im politischen Kampf und bei Wahlen abservieren kann.
Vor mehr als zwei Jahrzehnten, 1998, hat die SPD mit „Innovation und Gerechtigkeit“ als Leitlinie ihrer Politik eine mehrheitsfähige Wählerkoalition zustande gebracht. Und damit zum letzten Wahl eine Bundestagswahl richtig gewonnen. An dieser Leitlinie würde ich mich auch heute wieder orientieren. Der Umgang mit der Pandemie in Deutschland und deren Folgen hat offengelegt, dass wir einerseits auf vielen Feldern für Erfinder- und Unternehmergeist neu Raum schaffen müssen und in vielen Bereichen Innovationen brauchen. Sie hat andererseits aber auch die schändliche soziale Spaltung offengelegt, wegen der schon heute die sozial Schwächeren die Hauptlast der Pandemie tragen.
Die schändliche soziale Spaltung
Welche Wählergruppen dabei, durchaus auch kleinteilig, mit Aussicht auf Erfolg angesprochen und wie sie erreicht werden können, das wissen politische Frontkämpfer vor Ort am besten. Empirische Sozialforscher und Kommunikationsarbeiter können ihnen mit ihrer Expertise dann helfen, wenn sie kompetent, intelligent, kreativ, loyal und engagiert sind – übrigens in genau dieser Reihenfolge.
Konzentrieren wir uns auf die SPD. In aktuellen Umfragen liegt die Bundes-SPD zwischen 15 und 17 Prozent. Bei der BT-Wahl 2017 erzielte sie 20,5 Prozent der Stimmen. 1998 waren es noch 40,9. Was waren damals die Erfolgsfaktoren?
Riegger: Ich sehe vor allem die folgenden fünf, im Stakkato:
Zeit: Der frühe Start der Wahlkampfplanungen im Jahr 1995 und der lange Atem bis zur Wahl 1998.
Organisation und politisches Management: Es gab ein starkes strategisches Zentrum (‚Kampa‘) mit starken Kandidaten und einer starken Wahlkampfleitung (Lafontaine, Müntefering, Schröder, Machnig), ein solides Budget der Schatzmeisterin der Partei (Wettig-Danielmeier), erstklassige externe Expertise in Forschung und Kommunikation, und es gab eine motivierte Partei
Positionierung und politische Botschaft: Unter der Leitlinie „Innovation und Gerechtigkeit“ wurde eine mehrheitsfähige Wähler-Koalition aus Werktätigen, Frauen und aufgeklärten Mittelschichtlern aufgebaut und diese zur „Neuen politischen Mitte“ erklärt.
Der tödliche Fehler der Union: Helmut Kohl
Umgang mit der politischen Konkurrenz: Der zentrale Fehler der Union, Kohl nicht durch einen Jüngeren zu ersetzen, wurde mit Raffinesse („Respekt vor Kohl“) und einem attraktiven jüngeren Kandidaten (Schröder) konsequent ausgenutzt.
Strategische Kunst und situative Kompetenz: Aus der internen Rivalität zwischen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder um die Kanzlerkandidatur wurde bewusst Aufmerksamkeit generiert und damit das erreichbare Wählerpotential verbreitert.
Sind das Erfolgsfaktoren aus einer untergegangenen Welt? Oder könnten die auch heute noch, wenigstens in Teilen, die SPD zu Erfolgen führen?
Riegger: Jeder Wahlkampf ist ein Unikat und muss entsprechend den aktuellen Bedingungen neu erfunden werden. Die rot-grüne Regierung hätte es wahrscheinlich 1998 nicht gegeben, wenn Kohl rechtzeitig einen Jüngeren ans Ruder gelassen hätte. Die SPD war aber damals entlang der erwähnten Erfolgsfaktoren so gut aufgestellt, dass sie diesen tödlichen Fehler perfekt nutzen konnte.
Kein attraktiver Nachfolger, kein Zukunftsprojekt
Der Abgang von Frau Merkel ist seit langem bekannt. CDU und CSU verfügen weder über einen attraktiven Nachfolger noch über ein Zukunftsprojekt. Wenn die SPD heute die Erfolgsfaktoren von 1998 in ähnlicher Weise bedienen kann, dann besteht eine reelle Chance für den Machtwechsel.
Im Zahlenvergleich: Die Union erzielte 1998 35,2 Prozent und 2017 32,9 Prozent. Sie gilt deshalb zurecht unverändert als Volkspartei. Was ist die SPD?
Riegger: Das gängige Verständnis einer Volkspartei ist, dass sie für eine Mehrheit der Wählerschaft wählbar ist und eine realistische Aussicht hat, bei Wahlen eigene Mehrheiten oder Koalitions-Mehrheiten zu erreichen. Das trifft für die SPD in manchen Regionen zu, in anderen eher nicht oder nicht mehr. Ihre Wählerschaft entspricht aber im Vergleich der Parteien noch am ehesten einem repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung. Daraus lässt sich was machen. Deshalb sollte sich die SPD solange nicht von dem Anspruch verabschieden, eine Volkspartei zu sein, solange es diesen Parteitypus noch gibt und solange noch nicht klar ist, wer und was Volksparteien in ihrer stabilisierenden und integrierenden Funktion in der parlamentarischen Demokratie ersetzt.
Nach schrecklicher Zeit: die Leichtigkeit des Seins
Wie andere sozialdemokratische Parteien auch, die ja im Industriezeitalter entstanden sind, ist die SPD zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Der von ihr ermöglichte und angetriebene soziale Aufstieg durch Bildung hat viele Kinder ihrer früheren Wähler von ihrem Ursprungsmilieu und damit auch von deren Parteien entfremdet. In der Schweiz ist die Sozialdemokratische Partei inzwischen eine Akademiker-Partei. Aber in Schweden und Österreich schaffen es die dortigen Sozialdemokraten immer noch ganz gut, die traditionellen und die neuen Anhänger an sich zu binden. Warum soll das in Deutschland nicht auch gelingen?
Was ist in den Jahren nach 1998 schief gelaufen?
Riegger: Die sozialdemokratische Generation von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, zu der auch ich gehöre, ist in einer schrecklichen Zeit geboren worden. Sehr viele sind, wie die beiden, ohne die im Krieg gestorbenen Väter aufgewachsen. Wir sind in Deutschland die erste Generation, die Krieg, Hunger und massenhafte Not nicht bewusst erlebt hat.
Vielen ist sozialer Aufstieg, soziale Sicherheit und ein gewisser Wohlstand ermöglicht worden. Uns fehlt die existenzielle Erfahrung auf Leben und Tod, welche die Großväter wie Herbert Wehner und Willy Brandt, im Kampf gegen die Nazis und die Väter, wie Helmut Schmidt, Hans Matthöfer, Hans-Jochen Vogel und Erhard Eppler, als Überlebende des Weltkriegs schon als sehr junge Männer gemacht haben. Ihnen hat deshalb die Leichtigkeit des Seins gefehlt. Die hat die meisten von uns zumindest gelegentlich gestreift. Das hat unsere Lebenseinstellung und unseren Lebensstil geprägt.
Gegen Marktradikale — Blaupause für den 1998er Erfolg
Lafontaine hatte 1995 auf dem Mannheimer Parteitag die SPD mit einer konzeptionell breit angelegten Rede aus der Verlierer-Agonie gerissen. Das führte damals zum spektakulären Sturz des amtierenden Parteivorsitzenden Rudolf Scharping. Lafontaine markierte die sozialdemokratische Gegenposition zu Marktradikalismus und zu den Akteuren des Finanzmarkt-Kapitalismus, die damals schon dabei waren, die noch herrschende Oligarchie der „Deutschland AG“ aufzubohren. Diese Rede war die Blaupause für das 1998 siegreiche Konzept „Innovation und Gerechtigkeit“, an dessen Umsetzung dann später Lafontaine, Schröder und die SPD gescheitert sind.
Welche Fehler muss sich die SPD-Führung von damals, müssen sich Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder anrechnen lassen?
Riegger: Den Protagonisten von damals war wohl nicht in aller Schärfe klar, was für eine bedrohliche Herausforderung dieses Konzept für die internationale Finanzkapital-Fraktion war. Und wie schwer deshalb seine praktische Umsetzung in der Galeere des Regierungsbetriebs sein würde. Das ist einerseits nachvollziehbar, weil Bedenkenträger und Angsthasen keine Wahl gewinnen. Andererseits: Eine minimale marxistische Grundbildung oder auch nur der gesunde Menschenverstand hätte nahelegt, dass ein solches Konzept eine strategische Idee braucht: Wie können wir es gegen höchst aggressive und international vernetzte Gegner durchhalten und durchsetzen? Und es hätte allen klar sein müssen, dass dieses Konzept, auch nach gewonnener Regierungsmacht, ohne eine entsprechende Umsetzungs-Strategie, zum Scheitern verurteilt sein würde.
Die Leichtigkeit des Seins mag bei den beiden Hauptprotagonisten zu dieser fatalen Ignoranz beigetragen haben, in unterschiedlicher Weise.
Wie erklären Sie sich diese Ignoranz der Beiden?
Riegger: Bei Schröder ist die Sache einfach. Als Instinktpolitiker von ganz unten waren für ihn derartige Konzepte nie mehr als Mittel zum Zweck. Die ihnen zugrunde liegenden Hypothesen und Theorien waren ihm egal. Die Verachtung für derartige Papiere-Schreiberei war bei ihm am deutlichsten an der fatalen Wurstigkeit zu beobachten, mit der er sich von seinem damaligen Kanzleramts-Chef das unsäglich dumme Schröder-Blair-Papier, das dieser zusammen mit Peter Mandelson, dem Finsterling von Tony Blair, verfasst hatte, aufschwatzen ließ. Damit sollte die SPD ideologisch umgedreht werden. Sie sollte als Regierungspartei den Akteuren der City of London, dem europäischen Zentrum des globalen Finanzmarkt-Kapitalismus, den Zugriff auf deutsche Unternehmen erleichtern. Das ist dann ja auch gelungen.
Dagegen steht: Schröder hat bei der Absage der deutschen Beteiligung am noch dümmeren Irak-Krieg und bei vielen anderen Gelegenheiten gezeigt, was an politischer Kraft in ihm steckt. Ich glaube, das besagte Papier ist ihm heute nur noch peinlich. Das ehrt ihn.
Unsäglich dumme Papiere, unverzeihliche Rohheiten
Bei Lafontaine, dessen tüchtige und kluge Zuarbeiter das seiner Mannheimer Parteitagsrede zugrundeliegende Konzept entworfen hatten, liegt die Sache etwas anders und komplizierter. Es war eine unverzeihliche Rohheit, dass die SPD diesen Mann, der noch von einer fast tödlich ausgegangenen Attacke traumatisiert und gezeichnet war, trotzdem 1990 in das Feuer des ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlkampfes geschickt hat. Obwohl Willy Brandt bereit gewesen wäre, statt seiner anzutreten. Sein überragendes Ego, sein scharfer Verstand und seine Begabung als Redner hatten Lafontaine in der SPD zur unbestrittenen Nummer eins seiner Generation und zum Wunschnachfolger Brandts gemacht.
Lafontaine wollte dann später die Revanche für 1990, zögerte aber 1998 erneut persönlich ins Feuer zu gehen. Insofern waren ihm die Ambitionen Schröders vielleicht nicht unlieb, weil er sich dem intellektuell und auch generell überlegen fühlte. Deshalb hat er, als Parteivorsitzender, Schröder den Vortritt zur Kanzlerkandidatur gelassen. Er glaubte, ihn auch als Bundeskanzler unter Kontrolle halten zu können. Zu der oben bereits erwähnten strategischen Ignoranz, ein Konzept gegen Marktradikalismus zum Programm zu erheben, also ohne sich Gedanken über dessen Umsetzung gegen mächtigste Gegner zu machen, kam bei Lafontaine also noch eine schwer nachvollziehbare Fehleinschätzung der Person Schröder hinzu.
Kanzler Schröder kontrollieren? Welche Fehleinschätzung!
Als Lafontaine dann als Bundesfinanzminister von der englischen Massenpresse, inspiriert von der City of London und der Umgebung von Tony Blair, damals Premierminister von Großbritannien, unter zentralen Beschuss genommen worden ist und sich dabei vom Kanzleramt allein gelassen fühlte, hat er die Nerven verloren und die Flucht in heimische Gefilde und in die Leichtigkeit des Seins angetreten.
Die Egos von Brandt, Wehner und Schmidt waren mindestens so groß wie das der damals Jungen. Deshalb war deren persönliches Verhältnis in den Bonner SPD-Regierungszeiten in den 1970er Jahren auch höchst kompliziert. Aber sie waren trotz aller Rivalitäten und Animositäten fähig, sich der gemeinsamen Sache wegen unterzuordnen, sich zurückzunehmen und sich zusammenzuraufen. Ihre Nachfolger haben das, trotz oder vielleicht wegen ihrer Neigung zur Leichtigkeit des Seins leider nicht mehr geschafft. Die Verantwortung dafür kann ihnen niemand abnehmen.
Und was sind die strukturellen Veränderungen, die der SPD das Leben schwer machen, die sie jedoch nicht oder kaum beeinflussen kann?
Riegger: Da ist der demographische Wandel:
Das Anwachsen einer neuen migrantisch geprägten sozialen Unterschicht, die von Wahlen ausgeschlossen und damit demokratisch nicht repräsentiert ist.
Eine älter werdende Gesellschaft, in der tendenziell Besitzstandwahrung ausschlaggebend ist.
Da ist zweitens die neue Produktionsweise, vor allem mit ihrer Vereinzelung (Individualisierung) in der zunehmend digital geprägten Arbeits- und Lebenswelt des Finanzmarkt-Kapitalismus (Finanzialisierung).
Hochgefährlich für die Demokratie
Und da ist drittens der Strukturwandel der Öffentlichkeit. Da geht es aus meiner Sicht primär um global agierende und mit nationaler Gesetzgebung bislang nicht einzuhegende digitale Plattformen wie Google, Twitter, Facebook. Sie setzen das im Buchdruck-Zeitalter entstandene Mediensystem ökonomisch unter Druck. Sie stärken so die bereits bestehenden Medien-Monopole und befördern damit einen für die Demokratie hochgefährlichen Trend: die zunehmende Einschränkung der Bandbreite und Vielfalt der in der Gesellschaft präsentierten Meinungen und Weltsichten.
Ausgehend von diesen Betrachtungen: Was muss die SPD jetzt machen, was unterlassen, um diesen Trend deutlich umzukehren?
Riegger: Was das Machen im politischen Alltag anbelangt: Es sollte von der praktischen Handlungsmaxime „Gemeinsam sind wir stark“ der Arbeiter-Selbsthilfevereine, aus denen heraus die SPD vor über 150 Jahren entstanden war, ausgehen und es sollte sich weiter von der reformistischen Strategie „Im Fahren die Räder wechseln“ leiten lassen. Manchem hilft dabei der schöne Vorschlag von Albert Camus, man solle sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Unterlassen sollte man alles, was davon wegführt.
Zeichnet sich ein Großthema, ein Großkonflikt ab, der im Mittelpunkt der Wahl-Auseinandersetzungen in diesem Jahr stehen wird?
Riegger: Mit Blick nach innen könnte das der Umgang mit den Folgen der Pandemie sein.
Mein absoluter Alptraum: Statt der „Schlaftabletten“ tritt Merkel noch einmal an.
Angesichts des neuen kalten Krieges, der derzeit ausgehend von den USA gegen China orchestriert wird, kommt es hoffentlich zum Streit darüber, ob sich Deutschland und Europa dabei weiter als dumme Vasallen verstehen. Als dumme Vasallen, die Russland noch mehr in die Arme Chinas treiben. Die Alternative: Man erinnert sich an Schröders Sternstunde gegen den Irak-Krieg und orientiert sich daran.
Da alle im Prinzip davon ausgehen, es werde am ehesten zu einer schwarzgrünen Bundesregierung kommen, können Sie der Union bezüglich der Stimmenmaximierung einen Rat geben: Was spricht für Markus Söder, was für Armin Laschet als Kanzlerkandidat?
Riegger: Ich bin froh, dass ich sie nicht beraten muss. Mir persönlich wäre natürlich Friedrich Merz am allerliebsten gewesen, weil mit ihm endlich ein authentischer Akteur des Finanzmarkt-Kapitalismus als politische Person in die Arena treten würde und dieser damit ein Gesicht und eine Adresse bekäme. Mit ihm könnte man streiten und dieser Streit würde viele mobilisieren und viele aufwecken, statt sie weiter träumen zu lassen.
Die beiden anderen potentiellen Kandidaten sind eher Schlaftabletten. So ist zu befürchten, dass ihre tönende Leere die Unlust an jeder demokratischen Auseinandersetzung weiter befördern wird, obwohl wir den politischen Streit nach dessen systematischer Sedierung in der Ära Merkel so dringend brauchen wie die Luft zum Atmen.
Mein absoluter Albtraum: Die kriegen Frau Merkel, wegen des Ernsts der Lage oder wegen sonst irgend etwas, noch mal rum.
Analytisch sehr klares & erhellendes Interview.
Nur eins verstehe ich nicht:
Laschet als „Schlaftablette“ (Riegger) – das lässt sich nachvollziehen. Ist natürlich klassische Performance-Bewertung und weniger aufs Programmatische bezogen.
Aber Söder?
Er hat auch in der Pandemie immer das prägnanteste Bild geliefert. (Was wiederum wenig Programmatisches besagt.) Aber er funktioniert als Landes- oder National-Väterchen.
Das scheint nachhaltig zu wirken.
Aktuell passend: Seine Kritik an den Corona-Meetings ist cool und unorthodox: Früher anfangen, keine lächerlichen Nachtschichten, auch mal drüber schlafen, alles öffentlich machen, weil ja eh alles durchgestochen wird. Das ist massentauglicher common sense. Hat gute PR-Berater. Oder braucht vielleicht gar keinen?
9-2020 hielten 60 Prozent der Deutschen Söder für den besseren Kandidaten.
Klar für Laschet waren 11 Prozent.
2-2021: Kandidatenfrage: 50 Prozent Söder, 24 Prozent Laschet, aber (!) 26 Prozent unentschieden. (Das dürfte auch am Krisenmanagement der Regierung liegen. Zufriedenheit auf Tiefstwert.)
3-2021: Im Moment (Kanzlerfrage) läge Söder mit 35 Prozent vorne, dann kämen Habeck (20) und Scholz (16).
Sicherlich ganz interessante Aspekte und Gedanken von Volker Riegger. Dennoch drei kurze kritische Hinweise.
(1) Ich würde so gerne mal Beiträge zum Thema lesen, die von jungen Menschen stammen, die ihre Analysen, Sichtweisen und Erwartungen von Zukunft zum Ausdruck bringen. Auch ich bin mittlerweile 67 Jahre alt und verkneife mir, mich mit Empfehlungen meiner Erfahrungen aus der Zeit von gestern hervorzutun.
(2) Wie kann man sich auf Peter Sloterdijk positiv beziehen und ihn explizit loben. Das geht nicht mehr, denn PS bewegt sich stark nach rechts mit all den Implikationen, die bekannt sind. Ein positiver Bezugspunkt ist er nicht (mehr ?).
(3) Sehr kritisch sollte man das Jahr 1998 sehen. Was ist denn aus der Leitlinie „Innovation und Gerechtigkeit“ herausgekommen? Hartz – Reformen, Personen wie Schröder und Co, die ich selber als Totengräber der SPD bezeichne ohne jede Vorbildfunktion. Oder wer kennt kritische Äußerungen von Schröder zu seinen Freunden Putin und Erdogan (so nennt er die immer noch bis in die Gegenwart)? Und zu Lafontaine ließe sich auch viel sagen im Kontext von „Innovation“
Insgesamt erscheint mir deshalb die vorgetragene Analyse für die Zeit nach Merkel doch sehr diskussionswürdig.