Hätte, hätte, Lieferkette

Bild: joelizlar auf Openclipart

Wenn Mundschutzmasken fehlen und ein Centprodukt zum Luxusartikel mutiert, der auf den Weltmärkten mit harten Bandagen erkämpft werden muss, stellt sich die Frage: Wieso hat die hiesige Medizin- und Pharmabranche keine Zellstoffproduktion zu bieten. Die rhetorische Frage kommt der Aufforderung gleich, solche dringend notwendigen Produkte und Vorprodukte doch im eigenen Land herzustellen. Um beim Zellstoff zu bleiben: Die Region um das bayrische Hof war einmal ein Zentrum dieser Produktion, aber den Großen der Branche, den Brauns und Hartmanns, waren die dort gezahlten Löhne zu hoch, also hat man das Ganze nach China verlagert. In der Debatte um eine Neuordnung der Lieferketten – das Bundeskabinett hat Anfang März 2021 einen Gesetzentwurf verabschiedet – steht ein weißer Elefant im Raum: die Verlagerungspraxis der Unternehmen. Sie ist deren Renditeerwartung geschuldet, und wer der Neuordnung das Wort redet, darf nicht verschweigen, wie er es mit dem Outsourcing hält.

Dieses Outsourcing in die sogenannten Low Cost Countries hat in den letzten Jahren wieder zugelegt, nachdem es sich Ende der Nullerjahre abzuschwächen schien. Dafür verantwortlich ist eine organisationspolitische Machtverschiebung in den Konzernen, die zu Lasten der Zentrale und zu einer Stärkung der Peripherien führt. Agilität heißt das Allerweltswort und es bedeutet, dass die Geschäftsführer der Regionen bestimmen, woher sie ihre Ware beziehen und nicht mehr der für den Produktbereich Verantwortliche im fernen Germany.

Die Welt der Konzerne ist in fünf, sechs Regionen aufgeteilt. Die für die Regionen Verantwortlichen hat diese Organisationsänderung zu sogenannten Product Owner gemacht. Sie entscheiden nun, von welcher Fabrik des Konzernverbunds sie sich beliefern lassen. Warum soll zum Beispiel der für Middle East Verantwortliche pharmazeutisches Material aus dem bayrischen Hof beziehen, wenn die Ware aus Antalya billiger ist? Er meldet Stückzahlen ab, wie es im Jargon der Fabrikleute heißt, und da dies auch andere Product Owner taten, war Hof irgendwann ganz abgemeldet.

Bei dem früheren, weltweit zuständigen und zentral verantwortlichen Produktbereichsleiter lief neben dem ökonomischen vielleicht noch ein landsmännisches Interesse mit. Am bayrischen Standort mag seine Karriere begonnen haben, weswegen er für die Auslastung dieser Fabrik mitunter auch Sorge trug. Mit der Reorganisation gehören solche Motive, angesiedelt zwischen Solidarität und Sentimentalität, der Vergangenheit an. Die an die Regionsfürsten delegierte unternehmerische Verantwortung sorgt dafür, dass die richtige Ware mit der richtigen Gewinnspanne an den richtigen Ort kommt. Ein Moment von Irrationalität ist aus der rationalen Betriebswirtschaft ausgemerzt. In sogenannten High Cost Countries angesiedelte Fabriken – wie die ehemalige in Hof – geraten in dieser Welt schnell unter die Räder.

Embedded capitalism

Wer diesem Rad in die Speichen greifen will ist aufgefordert, statt Schlagworte zu produzieren (Deglobalisierung), eine politische Strategie vorzuschlagen, die dem durch das Virus angestoßenen Lernprozess Rechnung trägt, ohne blauäugig von bestehenden Machtverhältnissen abzusehen. Eine solche Strategie ist als eine mit Beteiligungsrechten angereicherte Industriepolitik formulierbar.

Ohne die aus Steuermitteln bezahlten Gehälter der Angestellten wären die Unternehmen gegenwärtig rasch insolvent. Den auf den funktionsfähigen Wohlfahrtsstaat angewiesenen Unternehmen muss zugemutet werden, auf eine extensive Verlagerungspraxis zu verzichten. Diese Praxis führt eine gegenwärtig unter Beweis gestellte Unlogik mit sich. Die nationale Ökonomie ist auf den nationalen Steuerstaat angewiesen, den sie mit ihrem Outsourcing zugleich untergräbt. Denn wer ins Ausland verlagert, zahlt im Inland weniger Steuern, Mittel also, die er dringend braucht, um die Durststrecke der Krise zu überstehen. Das Wort vom embedded capitalism ist im Englischen gebräuchlich; ohne diese Einbettung hat der deutsche Kapitalismus keine Chance, aus der Coronakrise herauszufinden.

Wie stark Verlagerung die Unternehmenspolitik der vergangenen Jahre bestimmt hat, lässt sich am Beispiel des Siemens-Konzerns zeigen: In den letzten 20 Jahren hat sich die Beschäftigung hierzulande halbiert. Dieser Prozess begann in den 90er Jahren. Damals waren ungefähr ein Drittel der Belegschaft im Ausland und zwei Drittel im Inland beschäftigt. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt.

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Die Gesellschaft, um dieses Großsubjekt zu bemühen, hat ein gesteigertes Interesse, dass das Verlagern von Produktion und Administration nicht im alten Stil weitergeht. Aber die Gesellschaft ist kein handlungsfähiges Subjekt, woher also ein solches nehmen? Dieses Subjekt muss nicht neu erfunden werden; die Betriebsverfassung kennt es, und gibt man ihm eine substantielle Mitbestimmung, ist ein wichtiger Schritt für einen Neustart der Ökonomie getan.

Die Rechtsinstitute des deutschen Arbeitsrechts heißen Betriebsrat, Wirtschaftsausschuss, Aufsichtsrat. Dieses Arbeitsrecht ist auf dem Papier ziemlich ausgefeilt, aber es hakt in der Realität schon bei den Basics. Nur noch 40 Prozent der Beschäftigten in West- und gar nur 30 Prozent in Ostdeutschland sind durch einen Betriebsrat vertreten. Ein Mittel, um dem demokratischen Defizit abzuhelfen, ist nun angezeigt: Wer Kurzarbeit für seine Belegschaft beantragt, hat Betriebsratswahlen zu initiieren. (Eine schmerzliche Erfahrung aus betriebsratslosen Firmen: Kein Betriebsarzt taucht in Coronazeiten auf, und der Schutz der Beschäftigten durch wechselnde Schichten, größeren Abstand zwischen den Arbeitsplätzen und mehr Waschmöglichkeiten ist oft gar nicht gegeben; Gewerkschaftsvertreter erleben dies).

Angezeigt ist ebenso, der sogenannten Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat die paritätische Mitbestimmung zu geben. Diese Bank hat höchstes Interesse, die Jobs ihrer Klientel vor der Verlagerung zu schützen, aber ihr fehlt bisher das rechtliche Mittel dazu. Eine Parität mit der Arbeitgeberbank und ein neutraler Vorsitz verhindern, dass gegen die Interessen der Belegschaft Geschäftspolitik betrieben werden kann. Auch wenn der Wirtschaftsflügel der CDU und die FDP den Umsturz an die Wand malen, mit dem kassierten Doppelstimmrecht des® Aufsichtsratsvorsitzenden geht die unternehmerische Welt nicht unter. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Dass der Kapitalismus sozialstaatliche Voraussetzungen, die er braucht, nicht durch permanente Verlagerung selbst untergräbt, dafür würden die Abgeordneten der Beschäftigten Sorge tragen.

Die tatsächliche Hilflosigkeit der Chief Executive Officers

Haben die Belegschaftsvertreter auch die Kompetenzen dazu? Sie sind die Vertreter einer Angestelltengeneration, die ihre Arbeit in einer für die vergangenen Epochen nicht gekannten Qualifikation erledigen. Dies betrifft alle Abteilungen eines heutigen Unternehmens, die Forschung & Entwicklung, das Design, die Fertigung, die Vermarktung, die Finanzen, die Juristerei und eben auch das Betriebsratsbüro. Überall sind Fachleute am Werk, und ohne sie wären der CEO, der CFO und wie sie alle heißen, in ihrem Olymp ziemlich aufgeschmissen. Im Wirtschaftsausschuss und im Aufsichtsrat profitiert das oberste Management längst von der Zweitmeinung der Belegschaftsvertreter – und außerhalb des Protokolls gibt man dies auch durchaus zu.

Das Virus hat die Belegschaften zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt unter Stress gesetzt. Vor Corona waren die Zeiten ja keineswegs entspannt gewesen. Das Diesel-Debakel, der Abschied vom Fossil Braunkohle, die Elektrifizierung des Autoantriebs, die Digitalisierung der Fertigung, das den Bürotätigkeiten zusetzende Potential der Deep Learning-Systeme – all diese Umbrüche haben die Geschäftsleitungen, die Betriebsratsgremien und die Gewerkschaften schon mächtig in Atem gehalten. Personalabbau in Tausender, ja Zehntausendergröße drohte laut der in Auftrag gegebenen Gutachten und in den Wirtschaftsnachrichten waren bereits die ersten Bestätigungen zu finden. Nun kommt es ganz dick, und zur Transformation gesellt sich die Rezession.

Die gegenwärtigen Strukturumbrüche haben die CDU/CSU eine Industriepolitik betreiben lassen, die der reinen Marktwirtschaftslehre nur als ein völliger Bruch gelten kann. Ein Wirtschaftsminister, der ein europäisches Batteriezellenkonsortium auf die Beine stellt, gemeinsame europäische Anstrengungen für den Wasserstoffantrieb und eine europäische Cloud als Gegenplattform zu Google und Microsoft auf die Tagesordnung setzt, muss den Markttheologen als der Gottseibeiuns erscheinen. Altmaier treibt aber nur pragmatisch voran, was zur Bewältigung des Strukturwandels unumgänglich ist, und Scholz attestiert mit den nötigen Milliarden.

Was Scholz-Altmaier nicht vorantreiben, ist ein demokratischer Zugriff der Gesellschaft auf die mit Steuermitteln über Wasser gehaltenen Unternehmen. Was einmal Wirtschaftsdemokratie hieß und eine substantielle Mitsprache der Beschäftigten an der Politik ihrer Unternehmen versprach, hat das Virus, tricky wie es ist, auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn die Gesellschaft mittels der Staatsfinanzen die Unternehmen vor der Insolvenz bewahrt, ist es folgerichtig, dass die Vertreter der Gesellschaft in diesen Unternehmen richtige Mitsprache haben. Zum Beispiel in der Frage, welches Produkt zu fertigen ist, wo dies geschieht, mit welcher Technologie und mit welchem Naturverbrauch. Diese Fragen würden endlich Gegenstand einer demokratischen Debatte; die gegenwärtige um outgesourcte Atemmasken und fehlende Beatmungsgeräte ließe sich als ihr Auftakt begreifen.

Der Beitrag ist zuerst – vor fast einem Jahr – auf www. faust-kultur.de erschienen.
Er hilft, sich an diese Phase der Pandemie zu erinnern und festzustellen,
dass sich strukturell nichts geändert hat.

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Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

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