Der Boulevard brachte es kurz und knapp auf den Punkt. Es war Dienstag Nachmittag, die Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte gerade begonnen, da titelte die Online-Version der BILD-Zeitung: „Showdown im Reichstag – Der wichtigste Machtkampf des Jahres“. Tatsächlich trug sich zur gleichen Zeit im Bundestag ein Spektakel zu, wie es auch das trubelgeübte Berlin nur selten erlebt. In der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion prallten die Fangruppen der Kanzleramtsaspiranten Markus Söder und Armin Laschet so heftig aufeinander, dass der badische Abgeordnete Olaf Gutting entnervt twitterte: „Spielt Mikado oder Russisch Roulette! Aber einigt euch!“ Später löschte er seinen Tweet wieder.
Eigentlich hatten die Führungsleute von CDU und CSU die Fraktion möglichst heraushalten wollen aus der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten der Union. Doch der Druck im Kessel ist hoch, viele Bundestagsabgeordnete, fast alle mit einem Direktmandat ausgestattet, sind beim derzeitigen Umfragetief ohne Aussicht auf einen Wahlkreiserfolg. Ein für die meisten ungewohntes Gefühl. Und weil sich nur wenige auf einen sicheren Listenplatz verlassen können, wären bei einem Zweitstimmenergebnis unter 30 Prozent viele von ihnen ihr Mandat los.
Die offene Feldschlacht ist ein Desaster für die selbsternannte Staatspartei CDU/CSU. Europa schaut auf die Bundestagswahl, die ganze Welt hat Erwartungen an die europäische Führungsmacht, und die Partei, die Deutschland nach dem Krieg 52 Jahre lang regiert hat, kann sich nicht auf einen Spitzenkandidaten verständigen, ja, hat nicht mal ein Verfahren dafür definiert.
Was sich eine Woche nach Ostern zwischen Bayern und Berlin zugetragen hat, ist ein Offenbarungseid, eine Selbstentblößung der besonderen Art. Kein Kandidat, kein Programm und Land und Kontinent in einem einmaligen Krisenmodus – nie ist die Union tölpelhafter und schlechter vorbereitet in eine Bundestagswahl hineingestolpert.
Wie konnte es dazu kommen?
Der tiefere Grund liegt in einem lang anhaltenden doppelten Führungsversagen. Auch Angela Merkel, die Erfolgskanzlerin, hat es versäumt, das Staffelholz erfolgversprechend weiterzugeben und die Nachfolge in Kanzleramt und Parteiführung angemessen zu regeln. Das Modell, die Macht in Kanzleramt und Adenauer-Haus auf zwei Personen zu verteilen, ging gründlich schief. Schon Annegret Kramp-Karrenbauer fehlte ohne das Kanzleramt die Autorität, sich in der Partei zu behaupten. Und Armin Laschet, der ungeübte, hat nach seiner Kür im Januar Wochen und Monate verstreichen lassen, die Parteizentrale in eine Festung umzubauen und zugleich die Kandidatenfrage energisch in Angriff zu nehmen. Er wollte, so ist sein Stil, die Macht sanft herüberziehen. Nur, der letzte Politiker, der im Liegewagen ins Kanzleramt rollte, hieß Kurt-Georg Kiesinger. Und das ist 55 Jahre her.
Laschets Kalkül war zu schlicht angelegt, um aufzugehen: Auch Helmut Kohl und Angela Merkel waren alles andere als Publikumslieblinge, als sie ins Kanzleramt einrückten. Kohl wurde jahrelang als „Birne“ verspottet, Angela Merkel hätte 2005 ums Haar eine längst sicher geglaubte Bundestagswahl noch vergeigt; es gibt bessere Startvoraussetzungen, niemand hätte ihnen mehrere Legislaturperioden vorausgesagt. Doch beide erarbeiteten sich Aura, nationale und internationale Autorität und steigende Umfragewerte im und mit dem Amt. Darauf setzte auch der Rheinländer Laschet. Der obendrein hofft, dass ihm nach einem Wahlsieg ein starker und loyaler Fraktionsvorsitzender die Unions-Abgeordneten in der Spur hält. So wie es einst Wolfgang Schäuble und Volker Kauder für Kanzler und Kanzlerin exekutierten.
Die Sehnsucht nach einem wie Laschet hält sich in Grenzen
Was Armin Laschet dabei vergaß: Kohl und Merkel kamen ins Amt, weil ihnen verbraucht-ermattete Vorgängerregierungen die Sache leicht gemacht hatten. 1983 stieg die FDP nach 14 Jahren SPD/FDP aus der Koalition aus, 2005 warfen Schröder/Müntefering selbst das Handtuch und riefen nach kräftezehrenden sieben Jahren Neuwahlen aus. Voraussetzung für die Erfolge von Kohl und Merkel waren jeweils ein müde und wundgeriebenes Wahlvolk, ein undefiniertes Bedürfnis nach Neustart, das zwar weder Kohl noch Merkel einlösten. Aber der Überdruss am Alten und die Sehnsucht nach neuen Gesichtern, einer neuen Sprache und neuen Themen waren Grundlage und Treibstoff für die Nachfolger. Und sie gaben ausreichend Kredit für die jeweils holprige Startphase.
Und noch ein Blick in den Rückspiegel. In der CSU waren die Machtambitionen immer dann besonders ausgeprägt, 1976/80 genauso wie 2002, wenn die CDU schwächelte. Strauß und Stoiber witterten jeweils dann eine Chance, als die Machtfragen in der großen Schwesterpartei nicht klar sortiert waren.
Diesmal ist die Situation nicht anders. Die Amtsinhaberin tritt nicht mehr an, die ursprünglich erkorene Nachfolgerin warf nach zwei Jahren entnervt das Handtuch, und auch der Dreikampf Laschet/Röttgen/Merz geriet zu einem quälend langen Prozess. Hinzu kommt: Auch Merkels Politikstil des Zauderns, Zögerns und Zuwartens hat sich überholt. Und weil Armin Laschet die Dinge eher ähnlich angeht als grundanders, hält sich die Sehnsucht nach einem wie ihm in Grenzen. Schlimmer noch, es scheint nicht nur, als hätten die Deutschen das Zuschauen satt, wie fällige Entscheidungen nicht getroffen werden. Als hätten auch sie eine heimliche Sympathie für Großsprecher vom Schlage Donald Trump und Boris Johnson entwickelt. Dass der vermeintlich führungsstarke Markus Söder in punkto Kanzlertauglichkeit allen Spitzenkandidaten, zumindest in allen Umfragen, in himmelnahe Höhen enteilt ist, passt da ins Bild. Seinen Hang zum rustikalen Auftritt, seine Mediengewandtheit, ja, auch seine Skrupellosigkeit finden einen Resonanzraum.
Führungsversagen der ganz besonderen Art
Ganz neu ist diese Neigung nicht. Schon Gerhard Schröder liebten die WählerInnen für Machtinstinkt und Erdverbundenheit, seine Liebe zu Bratwurst und Flaschenbier, und sie verziehen ihm auch seine Abneigung gegenüber Lehrern („faule Säcke“). Angela Merkel, die Antipodin, liebten sie, weil sie so ganz anders schien als der ihnen bis dahin vertraute Typus des Alphatiers: Nie breitbeinig, resistent gegenüber den üblichen Insignien der Macht, und als sie bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth zweimal im selben Kostüm auftrat, brachte ihr das zusätzliche Sympathiepunkte.
Doch die hohe Zeit, Politik lediglich zu moderieren und dabei aufs Führen zu verzichten, scheint vorbei; stattdessen ist die Kandidatensuche in völlig irrationale Sphären abgeglitten. Man muss es wohl Kontrollverlust nennen, wenn nirgendwo mehr eine Prozesssteuerung zu erkennen ist. Dass es eine strategische Koordination von Beginn an nicht gegeben hat, also von Januar an, als Armin Laschet auf den Schild gehoben wurde, spricht nicht für den Vorsitzenden und seine Führungsqualitäten. Inhaltlich war er nicht wahrnehmbar, mit der Kandidatenkür ließ er sich Zeit, wollte die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz passieren lassen, um nicht mit den absehbaren Niederlagen in Verbindung gebracht zu werden. Ein taktisches Manöver, das ihm nun schmerzhaft auf die Füße gefallen ist.
Oder etwas deutlicher: Laschet offenbarte ein Führungsversagen der ganz besonderen Art. Noch vor seiner Kandidatenkür demonstrierte er Schwächen in einem Punkt, der elementar ist für einen erfolgreichen Staatsmann: Es ist die Mischung aus dem Willen zur Führung, strategischer Aufstellung und politischem Weitblick.
Nichts davon war zu erkennen in den vergangenen Wochen, überhaupt blieb er sonderbar still, während Markus Söder unentwegt und auf allen Kanälen seine Botschaften ins Land funkte. Laschet irrlichterte in der Pandemiebekämpfung („Brücken-Lockdown“), von Söder ließ er sich mit Schmutzeleien akupunktieren, vor allem aber stolperte er, wie sich nun zeigt, ohne jeden Plan in die (Kanzler-)Kandidatenkür.
Es bedarf keiner seherischen Fähigkeiten, ganz egal, ob sich am Ende Markus Söder oder Armin Laschet durchsetzt: Der Sieger geht schweren Zeiten entgegen. Kandidat Laschet würde nach diesem Vorlauf schwer beschädigt den Wahlkampf eröffnen, miserable eigene Umfragewerte, eine mehrheitlich misstrauische Bundestagsfraktion, eine unmotivierte CSU, ein mediales Trommelfeuer, das nicht verebben wird, kein Programm, auf das sich aufbauen ließe und eine eigene Partei, die er kaum noch in einen kampagnentauglichen Zustand wird versetzen können.
Für Markus Söder wird es trotz seines „Bratwurstcharmes“ (Kurt Kister/SZ) keinen Deut leichter. Sollte er obsiegen, wird er zum ersten Mal öffentlich richtig vermessen werden. Von den Wettbewerbern, die die Schubladen voll mit Materialien haben, vor allem aber von den Medien. Dann werden seine fehlenden Führungsqualitäten zum Thema werden, dass er die Regierungs-Minus-Performer Andreas Scheuer und Horst Seehofer im Amt gehalten hat, dass er nie in der Lage war, die Unionsländer zusammenzubinden, weil es ihm nie um die Union, sondern immer um „Bayern first“ ging. Dann werden die Scheinwerfer eher auf seine Fähigkeiten als „hochdekorierter Heckenschütze“ (noch einmal Kurt Kister), seine subtil gesetzten Tiefschläge in den Infights mit Horst Seehofer und Angela Merkel, seine vielen inhaltlichen Widersprüche und Kehrtwenden, seine nicht selten menschenverachtenden Positionen (“Asyltourismus“) oder seine Duldsamkeit bei den Amigo-Gefälligkeiten seiner CSU-Freunde gerichtet werden, und natürlich auch auf seine wenig erfolgreiche Corona-Bilanz – alles wird auf den Tisch kommen, und der eben noch so bestaunte Strahlemann, an dem alles abzuperlen schien, dürfte in den einen oder anderen Erklärungszwang geraten. Auch Edmund Stoiber und Peer Steinbrück haben das leidvoll erfahren.
Fehlende Berlin-Anbindung
Und noch eine Schwäche wird dem Frontmann der Union, egal ob er Markus Söder oder Armin Laschet heißt, auf die Füße fallen: Beide kommen sie von außerhalb, sie haben keinen Brückenkopf in Berlin, keinen, der ihre Botschaften den Gerüchtehändlern der Hauptstadt erklärt, keinen, der breit vernetzt ist, frühzeitig Themen und Stimmungen erspürt, den Chef (oder die Chefin) darauf vorbereitet, glimmende Feuerchen je nach Bedarf entfacht oder austritt. Diese fehlende Berlin-Anbindung war für die Sozialdemokraten Matthias Platzeck oder Kurt Beck genauso Stolperstein wie für Annegret Kramp-Karrenbauer und auch Edmund Stoiber. Alle vier scheiterten nicht zuletzt daran.
Wie auch die Entscheidung ausfällt, einen überzeugenden Sieger wird es nicht mehr geben. Gar nicht mehr geben können. Die Kandidatenkür ein Totalschaden, die Union tief gespalten, eine überzeugende Kampagne in der verbleibenden Zeit gar nicht mehr möglich. Dass er mehr kann als eine Region nach dem Motto „Bayern first“ zu führen, hat Markus Söder bisher nicht unter Beweis gestellt. Als Kandidat wäre er wohl schnell entzaubert. Und Armin Laschet? Selbst wenn er Kandidat und sogar Kanzler wird, würde er sich von dieser Auseinandersetzung nicht mehr erholen. Regeneration ausgeschlossen.
Und so stolpern die Schwesterparteien in einen parteipolitischen Endzeit-Wahlkampf, für den ausgerechnet Friedrich Merz die treffende Zuschreibung bereits gefunden hat: „Die Union ist in keinerlei Hinsicht auf die Wahl vorbereitet, weder personell noch inhaltlich.“
Alles sehr richtig + klug analysiert, lieber Horand. Nur der Prophezeiung, dass sich Laschet, falls er doch Kanzler wird, von dem auch von ihm angerichteten Chaos nicht erholen wird, wage ich zu widersprechen. Merkel ist – wie Du selbst schreibst – 2005 ebf. ins Amt gestolpert, dank Schröder elefantöser Beihilfe, nicht anders als Schröder und Fischer 1998. Gegen viele mächtige männliche Gegner in der CDU und CSU. Sie hat sich im Amt rasch gemausert. Es kann aber auch gut sein, dass die lange Phase der CDU-Macht als Staatspartei zu Ende geht. Was kein Schaden sein muss. Doch was wird die Alternative sein? Eine völlig unerfahrene Kanzlerin Baerbock? Mit entweder der völlig verbrauchten SPD und der Will-eigentlich-nicht-regieren-Lindner-FDP an der Seite? Oder gar mit der regierungsunwilligen und -unfähigen Linken? Oder mit der demoralisierten CDU, mit oder ohne CSU? Alles keine guten Aussicht, weit über das Laschet-Söder-Merkel-Desaster hinaus.