Me first, fuck you

Der Tag der Arbeit steht vor der Tür und so recht mag ihn außer seinen traditionellen Protagonisten niemand herein lassen. Die Idee, es komme darauf an, die Arbeitsbedingungen zu verändern, damit viele Leute mehr vom Leben haben, ergreift die Massen nicht mehr. Der Mainstream meint, besser gehen soll es vor allem denen, die sich selbst optimieren.

„Mitten in der Krise arbeitslos. Wie soll ich mit über 50 noch einen neuen Job finden?“ lässt eines der reichweitenstarken deutschen Nachrichtenportale fragen. Aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Karriereberatung kommt der Vorschlag, „lassen Sie uns dazu einige wichtige Aspekte näher beleuchten“. Deren sechs sind von Wichtigkeit: Ihre Qualifikation, Ihre Berufserfahrung, Ihre regionale Positionierung, Ihre Kontakte, Ihr gesundheitlicher Zustand, Ihre Persönlichkeit.

Daran ist als persönliche Beratung nichts Falsches. Wer, es sind keine Einzelfälle, in eine solche Lebenslage gerät und wieder Boden unter die Füße bekommen will, wird diese Gesichtspunkte ins Auge zu fassen haben. Aber was ist von einer politischen Philosophie zu halten, die gesellschaftliche Zustände nur noch als individuelle Umstände wahrnimmt und deshalb empfiehlt, jede Einzel-Eva und jeder Individual-Hans sollten zusehen, mit Resilienz und Selbstoptimierung über die Runden zu kommen?

Händler seines Glücks im Schlussverkauf der Möglichkeiten

Die neue Botschaft ist eine alte. Die frühe bürgerliche Marktlogik, es werde schon alles gut ausgehen, wenn nur Jeder an sich selbst denkt, schwingt sich zur allgemeinen Lebenslogik auf. Es geht als gesunder Menschenverstand durch, Lebenslagen nur aus der Perspektive des eigenen Großherauskommens, zumindest des persönlichen Durchkommens zu scannen; eben wie ein Broker das Beste aus jeder Situation heraus zu holen, egal ob die Kurse steigen oder fallen. Das Leben, ein Projekt, jeder Mensch Händler seines Glücks im Schlussverkauf der Gelegenheiten, stets in Angst vor Mehrbietenden und Besserbenoteten.

Der gute alte Gedanke, Gemeinsamkeit könnte die Stärke verleihen, Arbeits- und Lebensverhältnisse allgemein zu verbessern, scheint nicht mehr zu greifen: Jedes Zusammen erfordert Zeit, die dafür aufgebracht, Kraft, die dafür eingesetzt, vielleicht Geld, das dafür ausgegeben werden muss. Jedes Zusammen braucht Respekt und Rücksicht, nicht selten individuelles Zurücknehmen und Verzicht auf schnellen eigenen Vorteil, bevor berechtigte Aussicht entsteht, dass es für alle besser weiter gehen wird, nicht nur für die Spitzenreiter im Rattenrennen.

Was Familien und Gruppen in kürzester Zeit auseinanderfallen lässt, was Organisationen zugrunde richtet, dieser Mix aus Dominanzgefühlen und Muskelprotzmanieren, aus me first, fuck you wird in Eliteschulen und Vorstandsetagen als Rezept für eine gute Gesellschaft verschrieben. Vorne sein wollen, heißt, hinter sich lassen, nicht neben sich. Das moderne, historisch-fortschrittliche Versprechen persönlicher Freiheiten erlaubt eine solche im Kern liberal-maskuline Deutung immer dann, wenn Gleichheit und Solidarität zu Fußnoten der Freiheits-Idee degradiert werden. Genau darin hat sich die Moderne unter dem Beifall nicht weniger ihrer Denker und Dichter von Anfang an als eine große Meisterin gezeigt.

Bild aus Arlt, Arbeit und Krise, 2021, S. 8

Ob ein Lebewesen ein Mensch, der Mensch ein Mann, der Mann weißer Hautfarbe und der weiße Mann Vermögen oder nur seine Arbeitskraft hat, jeder dieser Unterschiede prägt Entstehen und Entwicklung der modernen Gesellschaft entscheidend mit. Die Natur zu unterwerfen, Frauen abzuwerten, andere Länder auszubeuten und Arbeitskräfte (weibliche: abgewertet, oft unbezahlt) zu instrumentalisieren, gehört nicht weniger zur Gründungs- und Erfolgsgeschichte der Moderne als die Durchsetzung allgemeiner Freiheits- und Gleichheitsrechte. Heute halten zum Beispiel die Donald Trumps der Politik, die Julian Reichelts der Massenmedien und die Jeff Bezos’ der Wirtschaft die Fahne dieser liberal-maskulinen Freiheit hoch.

Vollbeschäftigt in der Multioptionsgesellschaft

„Es wird schwer, einem Individuum zu widersprechen, wenn es ‚ich’ sagt“, schrieb Niklas Luhmann. Und das ist gut so, solange dieses Individuum dabei nicht vergisst, dass es eine natürliche und soziale Kreatur ist. Sich schwer bewaffnet und technisch hoch gerüstet an der Spitze der Nahrungskette zu etablieren, macht den homo sapiens nicht zum übernatürlichen Wesen. Feste der Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu feiern, befreit nicht aus notwendigen Netzwerken und allfälligen Abhängigkeiten, weil das Eigene nur zusammen mit dem Anderen existenzfähig ist. „Schließlich verdanken wir alles, was wir sind, anderen Menschen. Das ist einfach so. Die Sprache, die wir sprechen und in der wir denken, unsere Gewohnheiten und Ansichten, welches Essen wir mögen, das Wissen, wie Licht angeht und wie die Toilettenspülung funktioniert“ (David Graeber); und vorher noch, dass es elektrisches Licht und Toilettenspülung dank der Arbeitsleistungen anderer Menschen überhaupt gibt.

Tatsächlich verweigert sich ja auch niemand den Praktiken der Kooperation und Organisation. Als Mitglied und Kunde, als Patientin und Publikum, als engagierte Bürgerin und als Arbeitnehmer, ständig stehst du im Kontakt mit anderen und kannst der Frage nicht ausweichen, wie ihr miteinander umgeht. Doch, ausweichen kann, wer die Spielräume vorgegebener Antworten fraglos praktiziert und sich von der Multioptionsgesellschaft vollbeschäftigt fühlt. Zu beobachten ist ein faszinierendes Paradox: Je reibungsloser du dich anpasst, je weniger Gedanken an alternative Lebensmöglichkeiten du aufkommen lässt, desto singulärer und selbstbestimmter kannst du dir vorkommen.

Foto: Ian Schneider auf Unsplash

Zynismus und innere Kündigung

Musterbeispiel ist die schöne neue Arbeitswelt, die „new work“ propagiert („die Arbeit für den Einzelnen erfüllender und gleichzeitig Unternehmen erfolgreicher machen“), “Passion” und „Purpose“ proklamiert (wo Sinnstifter und Sinnsucher sich in den Armen liegen). Die ZEIT-Akademie bietet an „In drei Wochen zu ihrem eigenen Purpose“ und schwurbelt: „Aus der Verbindung Ihrer Flowmomente, heutigen Qualitäten und Träume können Sie ihre Essenz, Ihre selbstorganisierende Kraft, Ihre Lebensabsicht erkennen.“

Im Moment avanciert das Homeoffice, in dem man „bei sich“ ist, krisenbedingt zum Modell. Untergebene bekommen Führung als Moderation vorgesetzt, Zielvorgaben heißen jetzt Zielvereinbarungen, Machos unter den Managern lernen herrschaftsfreien Diskurs zu inszenieren. Und alle gemeinsam begeben sich auf die Suche nach guten Gründen, dass gerade sie es verdient haben, Gewinn zu machen, auch wenn natürliche Lebensgrundlagen dabei bedauerlicherweise zerstört und „sozial Schwache“ leider abgehängt werden sollten. „Der Zynismus ist die Form der Rede und die innere Kündigung ist die Form des Handelns“ (Dirk Baecker), wenn die Poesie der PR und die Prosa des kapitalistischen Klartextes sich schmerzhaft in die Quere kommen.

Nun trifft auch diese Beschreibung von Realitäten bei weitem nicht „die“ bunte, facettenreiche, vielgestaltige Realität. Emanzipatorische, naturschützende, postkolonialistische, sozial engagierte Proteste sind nie verstummt. Auch heute wächst Widerstand im Wissen darum, dass man eines immer machen kann, nicht mitmachen. Alternativen werden erprobt, Kollaborationen gepflegt, Allianzen ökologischer und sozialer Verantwortung gesucht. Hier wurzelt das Dilemma des guten alten Kampftages 1. Mai. Seinen Kämpfern entgleitet beides, sowohl die Anpassung der Vielen an das Meiste als auch das neue Widerständige.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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