Die Lockungen der Lockerungen

“Tatsächlich ist die Geschichte des Kapitalismus trotz aller pessimistischen Unkenrufe zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Geschichte einer anhaltenden, wenn auch schwankenden Steigerung der Massenkaufkraft.”
Werner Plumpe, Das kalte Herz. Rowohlt 2019, S. 22. (Foto,bearbeitet: Unsplash)

Der Gürtel sozialer Restriktionen lockert sich. Die Inzidenzzahlen, Maß des Heils und Unheils in den Jahren von Corona, fallen. Und bedenklich schon, dass ich nicht genau weiß, was welche Unterschreitung für Freiheitsfolgen derzeit nach sich zieht. Es wäre auch eine Art Datenbank-Intelligenz vonnöten, mit der ein gegenwärtiges Gehirn allen Erhebungs-Input tabellarisch verarbeiten müsste. Die fehlt mir. Meine Gattin liest mir aus der Tageszeitung vor, ich könne, so ich zu den 3G gehörte, in einem Biergarten platznehmen. Will ich das?

Ich will es nicht. Ich wollte es schon vor Corona höchst selten. Es gibt, um es diskriminierungsfern zu formulieren, soziale Streuimpulse in solchen Ambientes, die nicht meinen Wohlfühlrandbedingungen entsprechen.

Entschuldigung, muss ich 3G erklären? (Auch die Neologismen verbreiten sich ja pandemisch; das OWID, das Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch, hat eine beeindruckende Liste zusammengestellt.) Also 3G steht für „geimpft, genesen, getestet“. Oder umgekehrt? Was ist wertvoller? Es gibt Impfneid. Das Netz (Facebook) strotzt nur so von Impfbekenntnissen. Sind sie freudig, eitel, gehässig? Kommunikationen müssen gedeutet werden. Ich glaube zu erkennen, dass Genesene sich hier und da Geimpften gegenüber überlegen fühlen. Sie sind die, die sich dem Virus gestellt haben. Alle anderen haben sich ja nur geschützt. Ich lese da Fragen wie „Hast wohl gute Beziehungen gehabt, Alter, wie …“

Egal. Ich bekenne mich hiermit als seit einem Tag doppelt Biontech-Gepiekster. Eine der ärmsten Städte des Ruhrgebiets (Gelsenkirchen) hat eines der effektivsten Impfzentren der Republik auf die Beine gestellt. Dort, nur 12 km entfernt, fand ich vor einigen Wochen online schnell einen Termin. Zufall, System? „Ich vermag kein System zu erkennen“, sagt Captain Willard in „Apocalypse Now“ zu den Aktivitäten des Colonel Kurz. Gestern Abend drei Stunden heißer Kopf und etwas Muskelschmerzen. Verflogen nach einem halben Liter Tempranillo, was kein Arzt empfiehlt. Aber wo wären wir, wenn alle im letzten Jahr allen Empfehlungen gefolgt wären?

Bild: Markus Spiske
auf Unsplash

Mein Weinkonsum in den letzten 15 Monaten ist jedenfalls unmerklich und rückblickend merklich gestiegen. Der durchschnittliche Literpreis dagegen gesunken. Vorteil des Online-Einkaufs mit souveränem Preisüberblick über rabattierte Werbeangebote. Der Preis des Durchschnittsweins des weintrinkenden Durchschnittsdeutschen lag vor Corona bei knapp über drei Euro. Aktuelle Werte habe ich nicht gefunden. Der Weinabsatz aber ist leicht gesunken. Es hätte auch anders sein können. Prognosen sind halt auch schwerer geworden, weil das komplexe System der Gewohnheiten sich bei den Menschen gänzlich neu austarieren musste. Ob sie wollten oder nicht. Wo bleibt da bloß der freie Wille, der allseits unterstellte souveräne Konsument?

Alkoholkonsum und Bewegungsmangel

Ich habe nicht zugenommen. 43 Prozent der Bürger in Berlin und Brandenburg aber schon, wie eine Umfrage des Instituts INSA-Consulere ergab. Hauptgründe: Alkoholkonsum und Bewegungsmangel. Ich habe den Alkoholkonsum durch tägliches Kraftkonditionstraining kompensiert. Disziplin, Eitelkeit, Gewohnheit. Das könnte jeder tun, tut es aber nicht. Es gibt Beharrungskräfte. Und Disziplin könnte man als die innengeleitete Selbstbestätigung als gut erachteter Gewohnheiten bezeichnen. Ein sozialpsychologisches Problem von Corona: Menschen sind auf sich verwiesen. Mehrheiten sind aber außengeleitet sozialisiert. Wer sie sind, erfahren sie, wenn sie wissen, was die anderen tun, wollen, erwarten. Innengeleitete Menschen brauchen das nicht gar nicht, aber weniger. Brauchen wir mehr Innengeleitete statt, wie allseits gefordert, immer mehr sozial Hyperaktivierte? Mehr nicht gänzlich, aber leicht Zurückgezogene? Weniger verwickelte, überhitzte, von Optionen aufgegeilte? Ich vermag es nicht zu sagen. Wem nützte auch eine soziologisch ungestützte Antwort?

„Am laufenden Motor kannst du keine Revolution machen, ohne ihn stillzulegen. Ich will sagen: Die Widerständigkeit der Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Trägheit und ihre Unbeeindruckbarkeit ist enorm. Man muss einfach sehen, wie schwierig der Eingriff in Systeme, Gewohnheiten, Lebenspraxis in einer strukturell komplexen Welt ist. Das ist die entscheidende Frage, die aber in politischen Diskussionen kaum mehr auftaucht: Wie funktionieren Strategien?“
Armin Nassehi, Soziologe, in: taz, 19.06.2019

Mein Konsumprofil seit März 2020 hat sich geändert. Nicht revolutionär. Es sind nur Trends deutlicher geworden. Ich bin nicht geflogen. Es war mir zu kompliziert, zu riskant. Nicht wegen panischer Infektionsangst. Ich mag keine strukturellen Komplikationen. Mein Alltag soll einfach, entspannt, ohne fummelige Wenn-Dann-Bedingungen absolviert sein. Deshalb habe ich nach einem Tauchkurs vor zehn Jahren (Open Water Diver) auch nie wieder einen Tauchurlaub gemacht; ich hasse Neoprenanzüge, die Stahlflaschen, das Schlauchgewusel und den Blick auf die Sauerstoffanzeige. Ich neigte schon immer zu Konsumzurückweisung auf Grund  egozentrischer Bequemlichkeit.

Haltbare Trockenhefe im Großeinkauf

Auffällig auch der veränderte Umgang mit Kleidungsstücken. Ich weiß genauer, was ich habe, was ich brauche, was wie zu kombinieren ist. Statt Neues zu kaufen, habe ich sogar entschlackt. Der Freund der Tochter freute sich über eine seit Jahren ungenutzte Biker-Lederjacke. Die Gattin stand durchschnittlich einmal in der Woche im Esszimmer und sagte „Guck mal, ich war im Kleiderzimmer shoppen“. Dann stand sie da mit etwas sehr Ansehnlichem, das nur wenige Gebrauchsspuren zeigte und für mich (unbedarft) wie eine Neuerwerbung wirkte. (Ich erspare mir hier als Kontrapunkt die bekannten Klagen über in Deutschland gekaufte Kleidungsstücke, die zu knapp der Hälfte irgendwann ungetragen wieder entsorgt werden.)

Die Zubereitung von Speisen hat hingegen einen höheren Stellenwert bekommen. Haute Cuisine wurde aber nicht adaptiert, dafür beherrsche ich mittlerweile ein gutes Dutzend Brotbackrezepte. (Der hortende Großeinkauf von lang haltbarer Trockenhefe in der ersten Hamster-Corona-Phase hat das begünstigt.) Zugenommen hat auch die Virtuosität mit der aus Reis, Hirse, Haferflocken, Kartoffeln, Gemüse und einem üppigen Gewürzekanon bällchen- bis frikadellenförmige Kompaktnahrungsmittel in der Pfanne entstehen.

Schon als elitär muss natürlich die Wiederentdeckung von Büchern betrachtet werden. In 60 Prozent der deutsche Haushalten stehen, Lehrbücher eingerechnet, unter 50 Bücher. Im Durchschnitt sind es 150. Unser Bestand ist hingegen statistisch bei Statista nicht mehr ablesbar. Ich schäme mich deshalb nicht, nur weil ich die hiesige Ungleichheit von Bildungschancen massiv repräsentativ verstärke. So bot uns Corona die Option auf Entdeckungsreisen entlang von leicht angestaubten Kunstbänden und Aphorismensammlungen. Das soll nun lektüregeneigte Menschen nicht vom weiteren Buchkonsum abhalten. Es gibt ja Menschen des Bildungsgeschehens , die sich auf „dem Stand der Dinge“ in publizistischen Belangen halten müssen. Jedenfalls, so lange sie glauben, es zu müssen.

„Die Gesetze des Gewissens, die nach unserer Sage in der Natur liegen, entspringen aus der Gewohnheit. Ein jeglicher Mann, der in seinem Inneren die Meinungen und Sitten verehrt, die um ihn her gebilligt werden und im Schwange gehen, kann sich ihnen nicht entziehen, ohne daß ihn sein Gewissen darüber bestrafe, noch sich demselben gemäß betragen, ohne daß er ihnen Beifall gäbe.“
Michel de Montaigne: Essays, Kapitel: Das Gefühl für das Gute und das Böse hängen großenteils von der Meinung ab, die wir dafür hegen

Die letztgenannten Beobachtungen betreffen offensichtlich „binnenkonsumistische“ Gewohnheiten. Aber wie steht es mit den öffentlichen Lockungen der Lockerungen? Frische Luft habe ich 2020/2021 eigentlich nicht vermisst. Auch ohne Fitnessarmband (paranoides Accessoire, außer bei Koronarerkrankten) ist mir gewärtig, dass meine Lauf-, Bike- und Walk-Kilometer dramatisch über denjenigen vor Corona liegen. Da bin ich nicht alleine. Der „Deutsche“ (eben nicht jeder, es gibt immense Milieu-Unterschiede; siehe Gewichtszunahmen) hat sich mehr bewegt als sonst. Vor allem per Bike, dort trendgemäß per frisch erworbenem E-Bike. (Ich habe mir nur eine neue, sehr laute Klingel, frische Bremsbacken und neue Pedale gegönnt.) Die Branche jubelt über 17 Prozent mehr an verkauften Rädern und Umsatzsteigerungen von (!) 61 Prozent (inkl. Zubehör und Reparatur) im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr. Das sichert (ich war erstaunt) mittlerweile gut 280.000 Arbeitsplätze in Fertigung und Handel.

Substanzungebundene Sucht

Verbuchen wir diese Kaufneigungen nicht unter Kaufsucht. Die gibt es aber. Sie gehört zu den sogenannten „substanzungebundenen Abhängigkeiten“. Der Süchtige ist dabei nicht nach Alkohol oder Kokain, sondern von einer Handlung abhängig. Schwer kaufsüchtig sollen in westlichen Ländern etwa fünf bis acht Prozent der Konsument:innen sein. Oniomanie, so die fachliche Bezeichnung, steht damit an zweiter Stelle der Abhängigkeiten gleich nach der Nikotinsucht. Im nichtpathologischen Grenzbereich halten sich weit mehr auf; Statistik versagt hier qua schwer bestimmbarer Grenzwerte.

Im Erlebnisurlaub hoch hinaus
(Bild: Suju auf Pixabay)

Grenzfälle erlebe ich in diesen Tagen zuhauf. Sie lauern, sie haben angespart, sie sichten Prospekte, papierne, digitale, lechzen und hecheln leuchtenden Auges vor Schaufenstern. Sie warten, mit den Füßen scharrend, auf unbehindertes Shoppen. Nun ja, das ist wohl so. Soll ich hier nun mahnend den Finger heben? Wen erreichte die Geste? Der postmoderne Mensch lechzt, so wissen „wir“ seit 1992 und dem Erscheinen der „Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze, eben nach Erlebnissen. Welche, ist im Kern wurscht. Geld und Sozialisierung, also schlichte Gewohnheiten bestimmen das Profil. Gegen alte Gewohnheiten, so mein Fazit von 15 Monaten coronarer Beschränkungen, helfen langsam sich einschleichende andere Gewohnheiten. Veränderungen brauchen Zeit. Menschen in der Moderne leben immer schon unter dem Niveau ihrer Erkenntnisse. Die Informationen, das Wissen, das Besserwissen war schon immer schneller als unser Handeln. Vielleicht sind pandemische Zeiten auch Zeiten der schleichenden inneren Synchronisation. Und wenn wir uns dann noch daran gewöhnten, das als einen wünschenswerten Zustand wahrzunehmen …

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Jo Wüllner
Jo Wüllner, studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie, arbeitete als freier Journalist und Chefredakteur (PRINZ), Umschulung zum Medienentwickler in Mailand und New York (Roger Black). Seit 1993 Umbau und Neukonzeption von gut 100 Zeitungen, Zeitschriften und Unternehmensmagazinen. Bücher zu Medientheorie und Sprachentwicklung.

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