Wie einst in Erlangen – neue Städte von Migranten bauen lassen?

Es reicht nicht aus, die Integration Geflüchteter politisch zu postulieren, sie muss – in lokalen Lebenszusammenhängen – zur Realität werden. Kommunale Arbeit ist schwierig und langwierig, und es mag auch sein, dass die kommunale Kooperationsbereitschaft überschätzt wird. Gibt es Alternativen? Ich denke an ein nachbarschaftliches Europa.

Der Hugenottenbrunnen im Erlanger Schloßgarten, fotografiert rund 300 Jahre nachdem die ersten Hugenotten Erlangens Neustadt aufzubauen begannen
(Foto: Selby auf wikimedia commons)

Es gibt den Vorschlag von Ulrike Guérot und Robert Menasse, eigene Städte im Gastland bauen zu lassen. Ich hörte davon zum ersten Mal bei einer Autofahrt im Radio[1] und war stark irritiert. Sofort drängten sich mir die Schwierigkeiten auf, einen solchen Plan zu verwirklichen. Die praktischen Fragen der Umsetzung beschäftigen mich noch immer. Ich stelle mir vor: ein Bundesland entscheidet in Kooperation mit einem Bezirk, dass auf einer Grundfläche von so und so viel Hektar Fluchtmigranten eine eigene Stadt bauen sollen. Ich stelle mir weiterhin eine Pressekonferenz der Landesregierung vor, in der eine Journalistin fragt, wie teuer dieses Projekt denn werden wird. Ob dies alles aus Steuergeldern bezahlt werden soll oder auch aus privaten Quellen? Und ob man es hier nicht mit einer so gravierenden Frage zu tun habe, dass darüber die Bürger:innen in einem Volksbegehren entscheiden müssten.

Aber genug der Spekulation! Was haben Guérot und Menasse im Sinn? Gewiss, die Integration der Geflüchteten sorgt für große Probleme und Unruhe. Ab und zu erscheint dieses Thema selbst in der gegenwärtigen Corona-Pandemie, und zwar insbesondere dann, wenn der türkische Staatspräsident der EU damit droht, die Flüchtlinge nicht mehr in seinem Staat zu binden, sondern auf die Mitgliedstaaten loszulassen.

Kein Integrationszwang

Autorin und Autor diagnostizieren, dass Gesellschaften der Mitgliedsstaaten der EU gestresst werden, wenn sie die Flüchtlinge integrieren müssen. Sie pferchen die Flüchtlinge in teilweise heruntergekommene Vororte oder in – teilweise zersiedelte und verödete – Landschaften im ländlichen Niemandsland. Die Städte und Gemeinden – beide verwenden durchgehend das „Wir“ – konzentrieren sie nicht da und dort in Heimen. „Wir“ spielen ihr Recht auf Behausung und ihr Recht auf Arbeit in der neuen Heimat nicht gegen Wohnungen und Jobs für das untere Viertel unserer eigenen Gesellschaft aus. „Wir“ reiben uns nicht aneinander und nicht gegeneinander auf.

Deshalb schlagen Guérot und Menasse vor auf Integration zu verzichten und die Andersartigkeit der Neuankömmlinge zu respektieren. Sie müssen nicht innerhalb von drei Jahren zum fließend alphabetisierten Deutschen werden. Dies würde wahrscheinlich die Flüchtlinge überfordern, wäre aber auch eine Überforderung für viele am unteren Rand der Gesellschaft, die um Jobs und um Wohnungen, billigen Wohnraum mit den Flüchtlingen konkurrieren.

Statt Integration sollen die Migranten das Angebot erhalten, ihre alten Städte nachzubauen. Sie bauen in Europa ihre Städte wieder auf, ihre Plätze, ihre Schulen, ihre Theater, ihre Krankenhäuser, ihre Radiostationen und ihre Zeitungen. Die syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer oder die Bäcker Bäcker.

New Hanover County, NC, 2014 (Foto: James Willamor auf wikimedia commons)

Das ist nach beider Auffassung ein Modell, das sich historisch als erfolgreich erwiesen hat. Als die Europäer:innen im 18. und 19. Jahrhundert aus politischen Gründen oder auch wegen Hungersnöten nach Amerikan flohen, haben sie ihre Heimatstädte nachgebaut. Es entstanden New Hanover (North Carolina), New Hampshire (Region Neuengland) und natürlich New York. Die neuen Städte hatten eine auffallende Ähnlichkeit mit denen, die sie in ihrer Heimat verlassen hatten. Auch die Hugenotten haben im 17. Jahrhundert in Deutschland ihre Städte nachgebaut, Celle und Bayreuth zum Beispiel.

Deshalb haben Guérot und Menasse vorgeschlagen, den Flüchtlingen/ Neuankömmlingen in Europa an Infrastruktur (Energie, Informations- und Kommunikationstechnik, Transport) angebundenes Bauland zuzuweisen, benachbart zu einer Stadt, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit unter gleichem europäischen Recht wahrt. Europa gibt eine Starthilfe, die frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das Geld dafür ist vorhanden, es muss nur umgewidmet werden. Es sind die Mittel, die Europas Nationen, Regionen und Städte gegenwärtig für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei ausgeben. So könnten Neu-Damaskus, Neu-Alepp oder auch Neu-Diyarbakir inmitten von Europa entstehen.

Wo sollen die neuen Städte gebaut werden?

Die Idee erscheint faszinierend, wirft aber, wenn man sie ernst nimmt, eine Reihe von Fragen auf. Welcher Staat käme für einen Neubau in Frage? Werfen wir einen Blick auf die Bevölkerungsdichte Europas, sie liegt durchschnittlich bei 118 Einwohnern pro Quadratkilometern. Die Bundesrepublik Deutschland liegt mit 234 Einwohnern darüber. Wäre sie damit von der Aufnahme von Flüchtlingen befreit, oder müsste nach anderen Kriterien wie Aufnahmetoleranz entschieden werden? Man sieht, so einfach ist es nicht.

Andere politische Themen sind ähnlich strittig. Durch welche Bundesländer sollen die Stromtrassen für die von Offshore-Windparks erzeugte Energie gehen? Und nach dem Aus von Gorleben als Standort für die Lagerung des Atommülls: in welchem Bundesland soll jetzt gebaut werden? Stets scheint es den Landesregierungen darum zu gehen, sich langfristige Konfliktherde vom Hals zu halten. Eine konstruktive und kooperative Suche nach Problemlösungen besitzt scheinbar kein politisches Gewicht.

Nächstenliebe und wirtschaftlicher Nutzen

Zurück zum Neubau von Städten. Eine der bekanntesten französischen Siedlungen erhielt im Jahre 1701 zu Ehren ihres Gründers, des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth, die Neustadt von Erlangen, Christian-Erlang.[2] Wenige Jahre nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 hatten die um ihres Glaubens Willen geflüchteten französischen Protestanten das Wunschbild vor Augen, in sich geschlossene Hugenottenkolonien zu gründen. Für die Aufnahme der Glaubensflüchtlinge war die enge Verflechtung von eigennützigen und uneigennützigen Motiven in Brandenburg-Bayreuth günstig. Zu den Geboten der christlichen Nächstenliebe kam der wirtschaftliche Nutzen, den man aus der Ansiedlung der Hugenotten zu ziehen hoffte. In dem vom Dreißigjährigen Krieg ausgebluteten Deutschland beschränkte sich die Kosten-Nutzen-Rechnung zudem nicht auf die Einrichtung neuer Industrien, sondern schloss die Neuansiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen ein.

Im Jahr 1686 wurden die Flüchtlinge zunächst in den benachbarten Dörfern untergebracht, da die Lutheraner der Erlanger Altstadt sich ihnen gegenüber äußerst feindselig verhielten. Der Markgraf kümmerte sich persönlich um die Heranschaffung der Baumaterialien nach Erlangen ebenso wie um die notwendigen Transportmittel für die Flüchtlinge. Er suchte vorzugsweise drei Gruppen nach Erlangen zu ziehen: Unternehmer, die zur Gründung von Manufakturen imstande waren, Handwerker, die dort arbeiten konnten, und Kaufleute, die die Vermarktung ihrer Produkte sicherstellten. Nur kurze Zeit später, im Jahr 1690, strömte eine zweite Welle von flüchtenden Pfälzern in die Stadt. Es ging jede Planung verloren und die Stadt nahm ohne Unterschied Flüchtlinge von überall her auf.

Die als merkantilistisches Unternehmen gegründete Erlanger Neustadt produzierte, kaufte und verkaufte von Anfang an. Dies brachte sie ununterbrochen in Berührung mit der deutschen Bevölkerung. Seit der Ankunft der Pfälzer bestand die deutsche Bevölkerung nicht mehr nur aus Lutheranern, sondern auch aus Reformierten, die der gleichen Konfession angehörten wie die Hugenotten. Ihre Ankunft war durchaus nicht ohne Spannungen abgelaufen, vor allem nachdem die Pfälzer die Erlaubnis erhalten hatten, die französische Kirche mitzubenutzen.
Die Pfälzer stellten schließlich etwa 30% der Bevölkerung in der Neustadt (300 Pfälzer auf 1000 Franzosen im Jahre 1698), während die Erlanger Altstadt Im Jahr 1686 ungefähr 500 Einwohner zählte. Dies war der Beginn einer Konkurrenz zwischen deutschen und französischen Flüchtlingen um die Oberhand in den Stadtgeschäften.

Der Neubau von Städten und Stadtteilen besaß ein erhebliches Konfliktpotenzial. Kaum war die Utopie Wirklichkeit geworden, so traten an ihre Stelle die harten Realitäten des täglichen Lebens. Immerhin hatte es damals einen Bedarf an Zuwanderung gegeben. Wäre heute in der betreffenden Region ein entsprechender Bedarf vorhanden, der Wirtschaft, Politik und Verwaltungen entschlossen handeln ließe? Nicht zu vergessen die vielfältigen Konflikte um Macht und Einfluss zwischen den Neuangekommenen, die aus unterschiedlichen Religionen, Wohlstand, Neid und politischem Einfluss herrührten. Guérot und Menasse berücksichtigen dieses Konfliktpotential nicht. Ich zitiere:

die Neuankömmlinge „würden in den nahe gelegenen ‚europäischen‘ Städten ihre Boutiquen aufmachen oder Handel treiben mit dem, was sie herstellen. Die Bewohner der alteingesessenen Städte werden neugierig. Die Neuankömmlinge haben anderes, interessantes Essen, das eine oder andere unbekannte Gewürz. Künstler kommen, um zu schauen, zu malen und zu dichten. Es entstehen hippe Cafés.“

Integration – konstitutive Auseinandersetzungen

Dem stehen Beispiele auch aus der Gegenwart gegenüber. Das Zusammenleben entwickelt sich nicht selbstläufig in demokratischen Bahnen und auf Grundlage der kulturellen Anerkennung. Der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln hatte seine fast zwei Jahrzehnte lange Erfahrung in der Forderung nach einer konzeptionellen strukturierten Einwanderungspolitik zusammengefasst.[3] Unverzichtbare Zutaten einer sozialintegrativen Praxis sind die Bereitschaft zur Bildung (mit Kindergartenpflicht sowie gebundenen Ganztagsschulen) und zu zivilem Konflikt: neben dem Wunsch des Einzelnen nach einem eigenen Lebensentwurf und einem emanzipierten Leben steht auf einer Stufe die Pflicht der Gesellschaft, die Wege dafür durch Chancengerechtigkeit zu eröffnen. Real bedeutet die Würde jedes einzelnen, den Gesellschaftsaufbau nach Maßgabe der Grundrechte und mit den Prinzipien der Toleranz und des Humanismus aktiv zu verteidigen – auch gegenüber einem Kulturrelativismus.

An der Auseinandersetzung mit konträren (zum Teil auch autoritären) Lebensvorstellungen scheint kein Weg vorbei zu führen. Dies ist Praxis. Vielerorts wird Tag für Tag eine Form der Flüchtlingshilfe praktiziert, die nicht am Zaun der Paragraphen halt macht und sich nicht auf eine Moral der Selbsterhaltung zurückzieht. Die laufenden Versuche einer Integration, an der viele ehrenamtliche Helfer beteiligt sind, gehen über den Rahmen offizieller Amtspflichten weit hinaus. Ähnliches gilt für die Tätigkeiten von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Ärzte ohne Grenzen und Kirchengemeinden.

Diese Praxis, die ein ganzes Leben ausmachen kann, macht die Weltzeit der Bürger:innen aus. Guérot und Menasse überspringen das Problem mit einem Hinweis auf die historische Weltzeit in ihren beiden Schlusssätzen: „2089 könnte das schon ganz schön aussehen! Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New Hannover oder Paris, Texas, oder Vienna, Virginia, in den USA heute – nur noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen Welt kamen.“

In the long run wird alles gut. Möglich. Nur, wie sollen die Institutionen einer Gesellschaft und die Bürger:innen mit den Zeitmaßen von drei Generationen umgehen? Der Philosoph Hans Blumenberg hat geschrieben, dass es eine „unschlichtbare Rivalität zwischen Lebenszeit und Weltzeit“ gibt. Danach wird der intensive und komplizierte Verständigungsprozess der Integration durch einen optimistischen Weltverlauf übersteuert. „Der absolute Zeitbegriff (…) wirkt wie eine absolute Metapher (…) gemessen an der des Lebens“.[4]

Europa der Nachbarschaften

Diejenigen, die der Arbeit an der Integration aus dem Weg gehen wollen, ziehen sich häufig auf den Standpunkt des my home is my castle zurück. Das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft ist durchdrungen von Angst und Misstrauen. Nach dieser Auffassung muss Europa zur Festung werden. Doch die latente Feindseligkeit ist nicht naturgegeben. Der Weg der klugen Vorsicht ist eine Alternative.

Man kann die Alternative „Europa der Nachbarschaften“[5] nennen. Nachbarschaft ist ein Ortsbegriff, der primär mit Nähe und Ferne zu tun hat. Wir haben es nicht mit scharfen Grenzlinien zu tun, die eine binäre Zuordnung erlauben, sondern mit unscharfen Grenzzonen, die mehr die einen mehr oder weniger an Nähe und Ferne zu lassen. So bilden sich Übergangszonen wie die Türschwelle oder die Landesschwelle. Solche Übergangszonen entziehen sich der Alternative lokaler Mikroräume und globaler Makroräume.

Nachbarschaft hält sich zwischen Lokalität und Globalität. Sie entzieht sich dem Gegensatz von Lokalismus und Globalismus, von Fixierung auf ein bodenständiges Hier und Verflüchtigung in einem wolkigen Überall und Nirgends. Ein nachbarschaftliches Europa kann fremden Ansprüchen antworten, ohne sich einzuigeln.


[1] „Lassen wir Flüchtlinge eigene Städte nachbauen“, Ulrike Guérot im Gespräch mit Peter Kapern,DLF 25.2.2016 und Ulrike Guérot, Robert Menasse, Lust auf eine gemeinsame Welt, Le Monde Diplomatique 11.02.2016
[2] Vgl. Myriam Yardeni, Refuge und Integration. Der Fall Erlangen, in: R. von Thadden, M. Magdelaine (Hrsg.), Die Hugenotten, Beck Verlag München 1985, Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, S.146-159
[3] Vgl. zum Beispiel Heinz Buschkowsky, Neukölln ist überall, Ullstein Verlag 2012, 381-382
[4] Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 27
[5] Bernhard Waldenfels, Europa unter dem Druck der Globalisierung, in: Information Philosophie, März 2020, 1, S. 8- 23

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

2 Kommentare

  1. Ich hatte die Beiträge von Guérot und Menasse zwischen 2016 und 2018 gelesen. Und war derart irritiert, welche Naivität hier von einer etablierten Politikprofessorin abgesondert werden kann (Autoren des literarischen Genres muss man ja einiges durchgehen lassen.) Angesichts der historischen, soziologischen, psychologischen Absurditäten, die sich hier unter einer Hülle des blendenden und applausfähigen Idealismus versammeln, fällt es schwer, Kritik zu üben. Sie müsste sehr detailliert ansetzen.

    Ich habe mir daher nur ein kleines Detail vorgenommen: Guérots euphorische Verweise auf migrantische Siedlungen in den USA. Hier einige reine Fakten:

    New Hanover wurde 1729 als Zusammenschluss aus mehreren kleinen Siedlungen gegründet. Benannt wurde es ganz einfach nach der königlichen Familie in England, die Mitglieder des Hauses Hannover waren.
    New Hamburg, New York, ist ein kleiner Weiler am Hudson River. Deutsche bauten dort im 18. Jahrhundert ein winziges Viertel. Ab 1800 bestimmten bereits Engländer und Franzosen den Handel und einige Manufakturen.
    New Hamburg, Missouri, wurde als Flusszugang und Eisenbahnhaltepunkt 1830 von sechs deutschen Einwandererfamilien „gegründet“. Es ist heute eine sehr „undeutsche“ Kleinstadt ohne eigene Verwaltung.
    Germantown, Philadelphia, entstand gegen 1683. Dort siedelten sich 13 Quäker- und Mennonitenfamilien an. Die Mehrzahl kam nicht aus Deutschland, sondern der Schweiz und den Niederlanden. Schweizer und Niederländer waren aus religiösen Gründen vertrieben worden und flohen nach Deutschland. (Hier könnte sehr viel zu Grenzen in Europa, kulturellen und religiösen Unverträglichkeiten und Intoleranzen eingefügt werden; ich lasse es.) Seit Anfang des 20. Jahrhunderts zogen immer mehr Afroamerikaner in die Stadt. Die Einheimischen zogen wegen kultureller „Unverträglichkeiten“ weg. Heute stellen PoC mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
    New Hampshire ist ein frühes englisches Kolonisationsprojekt. Die ersten englischen Siedler waren keine „Staatsflüchtlinge“, sondern „ordentliche“ Engländer, die drei Jahre nach den „Pilgervätern“ landeten.
    Little Italy war eine Zusammenballung von etwa 40.000 Süditalienern in einigen erbärmlichen Straßenzügen (etwa 17 Blocks) von Manhattan, eng, dunkel, dreckig, ungesund, von der Mafia beherrscht. Mit zunehmendem Wohlstand wanderten Menschen ab. Seit der Jahrtausendwende löst sich das Viertel auf. Was übrig blieb, ist heute ein touristisches Erlebnis-Ambiente mit „authentischen“ Italy-Shops und -Restaurants.
    Was in eine Stadt passiert, in deren Stadtvierteln sich Einwanderer national-kulturell organisieren, zeigt der Film „Gangs of New York“ von Martin Scorsese aus 2002, wo „Einheimische“, also Immigranten aus England sich mit frisch zugezogenen irischen Einwanderern blutige Straßenschlachten liefern.

  2. FAKTEN, TEIL 2

    Madame Guérots Behauptungen zu Grenzen, Pässen, Kontrollen im europäischen Großraum ab dem frühen Mittelalter entbehren jeglicher Plausibilität. (Sie übertreffen in ihrer kontrafaktischen Dreistigkeit manches, was wir von Herrn Trump gewöhnt waren.) Rhetorisch stützt sie ihre Forderungen nach Aufhebung von Grenzen aber auf unterstellte Traditionen.
    Hier daher wieder – größtenteils – nur Fakten (teils direkt kopiert):

    GRENZEN

    Zwischen 1200 und 1400 existierten auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches (später: Deutscher Nation) zwischen 120 und 140 teilautonome Einheiten mit Selbstverwaltung: Bistümer, Grafschaften, Herzogtümer, Reichsstädte.
    Territoriale, direkt wahrnehmbare Grenzen im modernen Sinne gab es nicht. Ländereien standen unter dem Schutz von Burgen. Städte waren mit Wallanlagen befestigt. Diese massiven Grenzziehungen umgaben die „Kerne“ von Macht. Wer zwischen Städten über Land wanderte, mochte „Grenzen“ überschreiten. Das hatte wenig Bedeutung. Zeugt aber nicht davon, dass Grenzziehungen keine Bedeutung hatten.

    Um 1790 gab es in Deutschland 1.800 Zollgrenzen. Allein innerhalb der preußischen Staaten gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts über 67 lokale Zolltarife mit ebenso vielen Zollgrenzen. Bei einem Transport von Königsberg nach Köln beispielsweise wurde die Ware etwa achtzigmal kontrolliert. All die Zollstationen auf den besseren Wegen und Straßen betrafen auch Nicht-Händler, die sozusagen nebenbei kontrolliert werden konnten. Nur wer über „grüne Grenzen“ wanderte, war vor Kontrollen gefeit.

    Dreißig Jahre später hatte sich manches verbessert, sah aber immer noch so aus:
    „Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen. Wer aber das Unglück hat, auf einer Grenze zu wohnen, wo drei oder vier Staaten zusammenstoßen, der verlebt sein ganzes Leben mitten unter feindlich gesinnten Zöllnern und Mautnern, der hat kein Vaterland.“ (Bittschrift des Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbevereins an die Bundesversammlung vom 20. April 1819)

    Preußen, als Keimzelle des Deutschen Reiches, baute Zölle intern ab. Kleinstaaten in der Umgebung gerieten wirtschaftlich unter Druck und bauten auch Handelshemmnisse ab. Folge waren Zollverbünde ab etwa 1830.

    KEINE PÄSSE FÜR EUROPA?

    Bis ins 19. Jahrhundert reisten nur Eliten: Herrscher, Beamte, Wissenschaftler, Fernhändler. Seit etwa dem Jahr 800 werden zunehmend Passvorschriften erlassen. Natürlich waren das keine nationalstaatlich ausgegebenen Pässe, sondern Passierscheine für eine Person für eine bestimmte Strecke, meist gebunden an einen bestimmten Anlass, ausgestellt von einem hinreichend bedeutenden und bekannten Aussteller (Fürst, Kirche, Großhändler)

    Nach der französischen Revolution gab es kurze Zeit von Seiten Frankreichs Reisefreiheit. 1792 wurde sie wieder abgeschafft. (Ausländer in Frankreich wurden scharf überwacht.)

    Kurz vor der Kriegserklärung an Frankreich wurde in Preußen am 20. März 1813 mit dem Passreglement die Wiedereinführung der Passpflicht für Ausreisen erlassen. Zur Ausstellung der Pässe waren die örtlichen Behörden fortan nicht mehr befugt. Diese Aufgabe wurde nun von höheren Staatsorganen wie der Staatskanzlei oder dem Außen- und Innenministerium, in Ausnahmefällen auch von der Polizeideputation der Provinzregierungen übernommen. Die ausgestellten Papiere waren lediglich für bestimmte, zuvor festgelegte Reiserouten gültig und mussten täglich abgezeichnet werden.

    Mit der zunehmenden Mobilität durch die Eisenbahn wurde die Passkarte als Dokument für grenzüberschreitende Reisen innerhalb des Deutschen Bundes eingeführt und ersetzte das bis dahin erforderliche Visum. Mit dem Passvertrag, den Sachsen, Bayern, Hannover und Württemberg am 7. Februar 1865 miteinander abschlossen, brauchten dort einheimische Bürger keinen Pass mehr mit sich zu führen. Die Vorzüge der Passkarte und des Passvertrags blieben allerdings häufig nur den höheren Gesellschaftsschichten vorbehalten.

    Einige wenige Jahre gab es im Norddeutschen Bund (Vorstufe des Deutschen Reiches) freies Reisen ohne Pass auch für Ausländer. Bereits 1879 kamen die Einschränkungen: Weil polnische und russische Arbeitskräfte (!!) nicht unkontrolliert einsickern sollten, gab es wieder eine Passpflicht. Die galt auch für Russland. Die Visapflicht wurde stark ausgeweitet.

    Bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs war das Passwesen im westlichen Europa eher liberal. Aber warum? Weil das dem Handel und dem Luxustourismus der Oberklasse half. (Urlaub in Europa war um 1900 ein Spaß für absolute Minderheiten.) Und weil es kein Einwanderungsproblem gab. Sondern nur ein Auswanderungsproblem.

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