Politik und Idiotik in der beispiellosen Nachhaltigkeitskrise

„Hört auf die Menschen, nicht auf die Verursacher“ – und wenn die Verursacher auch Menschen sind? (Photo by ey on Unsplash)

Wir leben in einer historisch präzedenzlosen Krise, können in vorher nie dagewesener Art global darüber kommunizieren und wissen so präzise wie nie zuvor, was zu passieren droht. Warum lässt der radikale Wandel trotzdem so lange auf sich warten? Ein Gespräch zwischen Selma Weber und Thomas Weber über digitale Wissensexplosionen, (Klima)Krisen und politische Handlungsdringlichkeiten.
Thomas Weber arbeitet als Ressortkoordinator „Nachhaltigkeit“ im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Er ist auch bruchstücke-Autor und spricht hier nicht in seiner amtlichen Funktion, sondern vertritt seine persönlichen Ansichten.

Selma Weber: . In unserem Vorab-Gespräch ging es um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die heutigen Kommunikationsmöglichkeiten. Du hast erzählt, wie die Menschen vom „einfachen“ verbalen Austausch zwischen Anwesenden über die Verschriftlichung hin zu einer digitalen präzedenzlosen Kommunikationsexplosion im Heute angekommen sind. Du hast sogar von einem Wissensurknall gesprochen. Welche Chancen siehst Du in diesem Wissensurknall für die Bewältigung der Klimakrise?

Thomas Weber: Was ist das Neue bzw. Besondere an der Digitalisierung, an der digitalen Kommunikationsrevolution? Diese digitale Entwicklung hat als inneres Ziel die Situation, in der jede Informationen für jede Person an jedem Ort zu jeder Zeit – zumindest theoretisch – abrufbar ist. Alle Informationen werden damit überall für alle gemein. Das bedeutet, dass die gesamte Menschheit sich permanent und fast unmittelbar – ohne Verzögerung durch Raum und Zeit – austauschen kann.

Und damit geschieht in nie dagewesener Art und Weise das, was bei Kommunikation und Austausch immer geschieht: Informationen und Wissen werden miteinander verknüpft. Auf diese Weise entstehen neue Informationen, die wieder zu neuem Wissen verknüpft werden können, usw.
Und da das unter Bedingungen der Digitalisierung global und mit Lichtgeschwindigkeit – gleichsam also außerhalb der räumlichen und zeitlichen Erfahrungswelt der Menschen – geschieht, führt es in Echtzeit zu dem, was man vielleicht eine „Wissensexplosion“ in der Menschheit, wenn nicht sogar einen „Urknall“ einer neuen Wissensmenschheit nennen kann.

Die durch menschliches Handeln verursachte Klimakrise ist eine planetare, d.h. globale Krise. Allein die Krise als solche wahrzunehmen und als Krise zu erkennen, erfordert, Information global zu erheben, weltweit zur Verfügung zu stellen und zu verknüpfen. Das ist ohne digitale Vermittlung kaum vorstellbar, zumindest nicht in dem Zeitraum, der der Menschheit zur Eindämmung der Klimakrise noch zu Verfügung steht. Insofern scheint die präzedenzlose Möglichkeit der Wissensgenerierung in gewisser Weise mit der Präzedenzlosigkeit der Klimakrise zu korrespondieren.

Freilich müssen wir auch sehen, dass die Klimakrise nur eine Teilkrise der globalen Nachhaltigkeitskrise ist. Tatsächlich stellt sie vielleicht gar nicht die drängendste Bedrohung für das Mensch-Erde-System dar. Insofern ist dieses Potential der Digitalisierung natürlich nicht nur auf die Klimakrise beschränkt, sondern überhaupt auf die globale Nachhaltigkeitskrise zu beziehen.

Selma Weber: Meinst Du mit Teilkrisen der globalen Nachhaltigkeitskrise unter anderem auch die Biodiversitätskrise, die ja meines Wissens viel schlimmer als die Klimakrise ist?

Thomas Weber: Mit „Teilkrisen der globalen Nachhaltigkeitskrise“ meine ich die Krisen, die in der UN-Resolution „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ beschrieben sind und zu deren Bewältigung die 17 SDGs in dieser Agenda beschlossen worden sind. In gewisser Weise thematisieren diese 17 Nachhaltigkeitsziele jeweils eine dieser Teilkrisen, die alle zusammen die globale Menschheitskrise ausmachen.

Zum Weiterlesen oder Weiterhören: Mathias Greffrath im Deutschlandfunk (Screenshot) über „das Anthropozän, das Zeitalter der Menschen: Wer weiß, wozu wir noch fähig sind?“

Von Teilkrisen zu reden, halte ich deshalb für sinnvoll, weil man sehen muss, dass diese Krisen alle miteinander zusammenhängen, einander verursachen oder bestärken. Die Maßnahmen, Teilkrisen zu bewältigen, müssen diesen Zusammenhang in den Blick nehmen. Die Klimakrise kann deshalb nur zielführend angegangen und gelöst werden, wenn zugleich die Biodiversitätskrise, die Armutskrise, die Ungleichheitskrise etc. konsequent gestoppt werden.

Die Agenda 2030 bezeichnet die Bewältigung dieser Gesamtkrise als „Transformation unserer Welt“ und setzt für das Erreichen dieser Transformation mit dem Jahr 2030 eine denkbar kurze Frist. Aufgabe und Perspektive für diese Transformation beschreibt die UN-Agenda mit dem ungeheuren Satz: „Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, Armut zu beseitigen, und gleichzeitig vielleicht die letzte Generation, die noch die Chance hat, unseren Planeten zu retten.“


Selma Weber:  
Sehr spannend und sehr anspruchsvoll! Du sprachst von Beispiellosigkeit in mehrfachen Hinsichten. Interessanterweise führt die Digitalisierung auch dazu, dass es weniger „trial and error“ in Simulationen zur Berechnung der Klimakrise gibt. Die Digitalisierung ermöglicht also nicht nur eine präzedenzlose Art der Kommunikation in einer so noch nicht dagewesenen Krise, sondern auch eine präzedenzlose Art der Wissensaufbereitung, also eine immer detailliertere Berechnung des Ausmaßes der Krise. Auf den Punkt gebracht: Wir leben also in einer historisch beispiellosen Krise, können in vorher nie dagewesener Art darüber kommunizieren und wissen auch so präzise wie nie zuvor, was alles passieren kann. Warum lässt der radikale Wandel denn dann so lange auf sich warten?

Thomas Weber: Die Ungeduld, die aus Deiner Frage spricht, ist mehr als gerechtfertigt. Allerdings würde ich sagen, dass der radikale Wandel jetzt gerade in der Gegenwart stattfindet, in der sich einerseits die menschheitlichen Krisenprozesse noch beschleunigen, indem die Gefahren und Bedrohungen immer größer zu werden scheinen, in der andererseits aber auch der digitale Wandel, die Digitalisierung stattfindet, in der man vielleicht im Sinne des Hölderlin‘schen „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, ein Rettungsinstrument sehen kann.

Die Ungeduld Deiner Frage scheint mir darauf zu zielen, dass dieser Wandel endlich politisch gestaltet, endlich mit einer positiven Richtung versehen wird. Also zu dem wird, was die UN-Agenda mit „Transformation unserer Welt“ bezeichnet. 
Für die Digitalisierung bedeutet das, dass der Digitalisierung durch Politik und Gesellschaft eine Richtung gegeben werden muss. Dass die Digitalisierung letztlich als Instrument im Dienst der Transformation und für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele gesehen, verstanden und gestaltet werden soll.

Vermutlich wird unsere Ungeduld noch größer werden müssen. Weil die gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen, die für diese Transformation notwendig sind, tiefgreifend und gewaltig sind. Allerdings kommen die „Kriseneinschläge“ in kürzeren Abständen näher. Ausschließen will ich nicht, dass auch vor dem Hintergrund der Folgen der Pandemie, die gleichsam als Vorboten für andere Krisenfolgen verstanden werden können, auch die Bereitschaft zur Rettung größer wird.

Selma Weber: Stichwort Pandemie! Die Pandemie scheint ja bei einigen Menschen dazu geführt zu haben, dass sie sich bewusst geworden sind, wie fragil unsere aktuelle Realität ist. Aber auch, dass sehr viele „Realitäten“ sich innerhalb kürzester Zeit verändern und neu akzeptieren lassen. Zu dem Neuen gehört, dass der Staat durch die Pandemie seine Handlungsfähigkeit wieder entdeckt hat – er also in seiner möglichen „Retterfunktion“ wieder realitätsnaher durchgreifen könnte. Sprich: Die Fakten zur Klimakrise akzeptiert und nach den Empfehlungen von Expert:innen handelt. Du arbeitest für die Bundesregierung – kannst Du diesen Eindruck bestätigen? Und wenn ja, stimmt dich das hoffnungsvoll?

Thomas Weber: Ich glaube nicht, dass der Staat in der Pandemie seine Handlungsfähigkeit entdeckt hat. Mir scheint vielmehr, dass die Menschen durch das Pandemieereignis bewusst oder unbewusst gemerkt haben, dass jetzt der Staat gefordert ist, dass es eben ohne Staat nicht geht. Man könnte auch sagen, dass vielen bewusst wurde, dass der Mensch ein – wie es in der Antike formuliert wurde – „Politikon Zoon“, ein „politisches“ – d.h. ein „zu einem Staat gehörendes Lebewesen“ ist, dass der Staat zur sozialen „Natur“ des Menschen gehört.

Eine Frage der politischen Einflussmöglichkeiten

Zum Weiterlesen: Das „Ministerium für die Zukunft“ (erscheint deutsch 10/2021) handelt mit einem Mandat der Nochnichtgeborenen. In 108 Kapiteln geht es um die Verwirklichung der Pariser Klimaziele.

Die Pandemie hat dadurch, dass sie als unmittelbare Bedrohung der Zukunft des Gemeinwesens wahrgenommen und gesehen wurde, das staatliche Handeln in gewisser Weise erzwungen. Dabei sind die staatlichen Maßnahmen in der Pandemie letztlich nichts anderes als die Erfüllung der ureigentlichen Aufgabe eines Staates, die darin besteht, das Notwendige zu organisieren, um dem Staat und den Menschen im Staat eine Zukunft zu sichern.
Was die Übertragung der Pandemieerfahrung auf die anderen Teilkrisen der Nachhaltigkeit angeht, so habe ich auch auf  bruchstücke sehr früh dafür plädiert, die Pandemie als Teilkrise der globalen Nachhaltigkeitskrise zu verstehen und bei der Bewältigung der Krise zugleich die Bewältigung der anderen Krisen in den Blick zu nehmen.

Ob und wie das geschieht, werden wir in den nächsten Monaten erleben. Eine Frage der Hoffnung ist das für mich allerdings nicht, eher eine Frage, welche Einflussmöglichkeiten ich als politisches Lebewesen selbst auf staatliches Handeln habe. Dabei stellt sich mir diese Frage nach dem Einfluss, den ich habe, nicht anders als im Prinzip allen Menschen, die sich als politische Lebewesen erkennen und sehen.
Wenn Du mich fragst, ob ich zielführendes staatliches Handeln für möglich halte – ja, das halte ich für möglich. Und dieses staatliche Handeln wird umso schneller und zielführender sein können, je schneller sich der Konsens über die Wahrnehmung und Bewertung der Krisen bildet.

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zur Klimaschutzgesetzgebung kann für diese Konsensbildung in nächster Zeit eine wichtige Wirkung entfalten.

Selma Weber: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist in der Tat ein sehr wichtiges und längst überfälliges Signal. Allerdings sagst Du, dass die Pandemie gezeigt hat, dass es ohne Staat nicht geht. Und weiter, dass diese „als unmittelbare Bedrohung der Zukunft des Gemeinwesens wahrgenommen wurde“. Der Staat sei letzten Endes nur der „Erfüllung seiner ureigentlichen Aufgaben“ nachgegangen.
Prinzipiell klingt das richtig. Weiter sprichst Du von der politischen Gestaltungsfähigkeit des Individuums. Woran liegt es denn dann, dass der Staat, wie wir ja in den letzten Jahren gesehen haben, die Klimakrise viel zu lange und viel zu stark vernachlässigt hat und dadurch seiner ureigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen ist, also auf eine fahrlässige und gefährliche Art nicht gehandelt hat? Und welche Verantwortung tragen denn die einzelnen politischen Individuen wirklich in diesem Staat im Angesicht der Klimakrise? Bräuchte es die politisierten Individuen eigentlich wirklich, wenn wir in einem Staat leben würden, der seiner „Schutzfunktion“ gerecht würde?

Thomas Weber: Einen Staat gibt es nicht ohne Menschen, oder besser umgekehrt: Wo Menschen zusammen sind, bilden sie einen Staat, vor allem weil ihr Zusammenleben kollektiv bindende Entscheidungen braucht. Dass der Staat auf die Klimakrise und die Nachhaltigkeitskrise insgesamt bisher völlig unangemessen reagiert hat, hängt schlicht daran, dass die Menschen, die diesen Staat bilden, zumindest in der übergroßen Mehrheit, diese Krisen ignoriert haben. Die Zukunftsbedrohung wurde und wird bisher nicht so existentiell und unmittelbar wahrgenommen, dass daraus ein unmittelbarer Handlungsdruck entstehen konnte.

Es geht um die globale Polis

Das scheint mir historisch gesehen nichts Besonderes zu sein: Die Geschichte zeigt, dass Staaten zerfallen und verschwinden können. Das geschieht dann, wenn sich die Menschen, die den Staat bilden, über die reale Bedrohung ihres Staates täuschen und falsch oder nicht handeln, oder sich überhaupt in der Vergessenheit des Politischen befinden. Heute ist die Situation aber insofern besonders, als es nicht mehr um einzelne Staaten geht, sondern um die globale Polis, die Menschheit insgesamt. Das Scheitern der Menschheit und damit das Verschwinden der Menschheit innerhalb einer Generation ist eine reale Möglichkeit.

Ein kurzer Einschub zu Politik und Idiotik: Politisch ist, was sich auf die Belange der Polis, das heißt, der Gemeinschaft bezieht. Zu dem Menschen, der sich politisch verhält, gab es im alten Griechenland als Gegenbild den Menschen, der sich um seine privaten Angelegenheiten kümmert. Dieser wird als Idiotes, d. h. Privatmann bezeichnet. Als Gegenbegriff zur Politik kann man daher auch von der Idiotik sprechen. Politik und Idiotik müssen im Staat in einem ausgeglichenen Verhältnis sein. Idiotik ohne Politik führt zum Zerfall des Staates, Politik ohne Idiotik zu autoritären und unfreien Verhältnissen.

Zum Weiterlesen oder Weiterhören: Mathias Greffrath im Deutschlandfunk (Screenshot) über die Zukunft des Staates: „Das Recht der solaren Weltgesellschaft wird neue Formen des Eigentums kodifizieren müssen.“

Nun zu der Frage nach der Verantwortung der Menschen im Staat: Verantwortung zu übernehmen, heißt, anderen Antworten zu geben bzw. Rechenschaft über das eigene Verhalten abzulegen. Alle Menschen im Staat haben hier als Staatsbürger:innen die gleiche Verantwortung: Sie antworten einander darauf, wie sie sich in der Gemeinschaft bewegen und verhalten. Zu diesem Antworten gehört dann auch, andere zu fragen, wie sie sich verhalten und auf welche Weise sie zur politischen Meinungs- und Stimmungsbildung beitragen. Im Angesicht der Klimakrise ändert sich diese Verantwortung grundsätzlich nicht. Allerdings wird im Angesicht einer solchen Krise deutlich, wie wenig willens und in der Lage viele Menschen sind, über ihr Verhalten und dessen Folgen für das Gemeinwohl Rechenschaft abzulegen.

Braucht es die politisierten Individuen eigentlich wirklich, wenn wir in einem Staat leben würden, der seiner ‚Schutzfunktion‘ gerecht werden würden?“, hast du gefragt. Noch einmal meine Feststellung: Der Staat, das sind die zur Politik fähigen Individuen. Nur ein Staat, in dem die Mehrheit der Menschen politisch mitdenkt, wird in der Lage sein, seine Schutzfunktion auszuüben. Diese politischen Individuen delegieren einige von ihnen in Institutionen, bei uns in Parlamente, Regierung und Gerichte, und beauftragen diese dann, den staatlichen Schutz zu organisieren. Aber auch dieses Delegieren ist nur dann erfolgreich, wenn die Delegierenden in der Mehrheit politische Individuen sind. 

Unfassbar unpolitisch

Selma Weber: Ich stimme Dir zu. Ich finde es erfrischend, in aller Klarheit zu lesen, dass Menschen eine Verantwortung in ihrer Gemeinschaft haben und diese auch nutzen sollen und müssen. Wobei, immer nach dem Grundsatz „Sollen impliziert Können“, aber das ist eine andere Diskussion. Ich denke, dass Deine Aussage genau deshalb wichtig ist, weil, zumindest in meinem Umfeld, sehr große Extremfelder entstanden sind: Die einen, die der Meinung sind, „der Staat muss es richten“. Die anderen, die finden, dass es eine grundlegende politische Verantwortung gibt und dass die Menschen sich für ihre Belange einsetzen müssen und sollen.
Ich habe den Eindruck, dass es in dem ganzen Klimakrisennarrativ, leider, sehr gut gelungen ist, uns Individuen in eine wahnsinnig bequeme und gleichzeitig überanstrengende Position zu rücken. Damit meine ich: Du als Individuum (reduziert auf den/die Konsument:in) bist verantwortlich für dein Konsumhandeln. Kaufe biologische Lebensmittel, plastikfrei, und lebe vegan. Alles prinzipiell richtig. Nur darf das alleine nicht der Fokus sein, im Gegenteil. Denn es schiebt alles auf ein rein ökonomisches, individuelles Handeln, das zwar zu einem Teil richtig, jedoch unfassbar unpolitisch ist. Ich beobachte mit Sorge, dass sich dieses Narrativ über die Jahre hinweg in den Köpfen festgesetzt hat und wir uns selber viel zu stark als Konsument:innen und nicht mehr genug als politische Individuen lesen.
Dagegen ist Fridays For Future in einer Vorreiterrolle, sind es doch die jungen Menschen, die vermehrt darauf hinweisen, in Proportionen zu denken, sprich: Ja, dein privates Konsumverhalten ist wichtig, wichtiger ist jedoch, wie du politisch mitgestaltest. Gleichzeitig sind es auch diese jungen Menschen, die immer noch viel zu stark belächelt werden. Wie denkst Du, lässt sich dieses unpolitisch-konsumistische Denken wieder umkehren? Wie lässt es sich re-etablieren, dass wir Staatsbürger:innen mit einer weit über das Ökonomische hinausgehenden Verantwortung sind? 

Thomas Weber: Die Fragen, auf die Deine tollen Gedanken hinführen, kann ich kaum besser beantworten als es mit Deinen aufklärenden Ausführungen schon geschieht. Völlig zurecht thematisierst Du den Konsum. Wenn es um Konsum geht, ist Aufklärung besonders notwendig. Nicht nur, weil der Konsum die Gefahr in sich trägt, die Konsument:innen zum ständigen Verbrauchen zu zwingen und abhängig zu machen, sondern weil die gegenwärtige Weise der Industrieländer zu konsumieren im fundamentalen Gegensatz zum kategorischen Imperativ der Aufklärung steht: Dieser Konsum-Hype kann weder auf die Welt insgesamt noch auf die Zukunft übertragen werden.
Die Krise der westlichen – in der Tradition der Aufklärung stehenden – Demokratien hängt mit diesem fundamentalen Verstoß gegen die Gebote der Aufklärung zusammen.

Robert Caspar Müller untersucht, wie Konsumentenbilder und Menschenbilder zusammenhängen, konstruiert und praktisch in Dienst genommen werden.

Und Konsum, der ja die dazugehörige Produktion voraussetzt, ist letztlich das Grundproblem und die Grundursache (fast) aller Nachhaltigkeitskrisen. Wenn die Agenda 2030 eine Transformation unserer Welt fordert, dann zielt das letztlich darauf, den nichtnachhaltigen Konsum, wie er sich in den letzten 200 Jahren entwickelt hat und wie er sich heute auf acht – und in der Perspektive auf neun bzw. zehn – Milliarden Menschen ausbreitet, zu nachhaltigem Konsum zu transformieren.
Anders ausgedrückt: Wäre der Konsum – und damit die dazugehörige Produktion – nachhaltig, würde sich die Menschheit heute nicht in dieser existentiellen Gefährdung befinden und eine Agenda 2030 und die globalen Nachhaltigkeitsziele wären nicht nötig.

Letztlich steht und fällt also die Zukunft der Menschheit mit dem richtigen bzw. falschen Konsum. Deshalb ist die Transformation des Konsums eine menschheitliche Schicksalsaufgabe. Und deshalb ist die Transformation des Konsums keine Privatangelegenheit, deshalb kann sie auch nicht abhängig sein von privaten Konsumentscheidungen.

Systemisch, nicht ethisch

Für die Transformation ist es nicht ausschlaggebend, welche Konsumentscheidungen ein Individuum trifft, relevant und entscheidend muss sein, wie die Produkte aussehen müssen und wie der Markt zu regeln ist, dass im Hinblick auf die Nachhaltigkeit keine falschen Konsumentscheidungen nahegelegt und von Individuen getroffen werden.
Verantwortung beim nachhaltigen Konsum zu übernehmen, heißt also, sich so zu verhalten, dass die Politik die Produkte und Märkte richtig regelt.

Das SDG 12 „Sicherstellung nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster“ adressiert diesen Sachverhalt und formuliert die Aufgabe, nichtnachhaltige Konsum- und Produktionsmuster bis zum Jahr 2030 in nachhaltige zu transformieren.
Wie sehr dieses SDG 12 als Bedrohung verstanden wird, kann man auch daran sehen, dass es in den offiziellen SDG-Kacheln der Vereinten Nationen zwei Versionen des SDG 12 gibt. Eine Version – die richtige – die „Nachhaltiger Konsum“ schreibt und eine die „Verantwortlicher Konsum“ schreibt, was falsch ist.
„Nachhaltig“ ist ein systemischer Begriff, „Verantwortlich“ ein ethischer Begriff. Die Agenda 2030 will das System transformieren, nicht die Ethik. Hinter der sprachlichen Verschiebung kann man natürlich eine absichtliche Manipulation vermuten, um zu verwirren und dadurch die Aufgabe zu bagatellisieren.
Eine vergleichbare Irreführung findet häufig auch bei SDG 5 statt, wo anstelle des richtigen systemischen Begriffes „Geschlechtergleichheit“ das ethische „Geschlechtergerechtigkeit“ gesetzt wird.

Selma Weber: Verstehe. Deine Ausführungen erinnern mich an ein Zitat aus „Die Maßnahme“ von Bertolt Brecht. Deshalb – letzte Frage: Hast Du dem Brecht anno 2021 noch etwas hinzuzufügen?

„Aber auch euer Bericht zeigt uns, wie viel nötig ist, die Welt zu verändern: Zorn und Zähigkeit, Wissen und Empörung. Schnelles Eingreifen, tiefes Bedenken, kaltes Dulden, endloses Beharren, Begreifen des Einzelnen und Begreifen des Ganzen. Nur belehrt von der Wirklichkeit, können wir die Wirklichkeit verändern.“

Thomas Weber: Diesem Brechtzitat will ich zum Abschluss ein weiteres Brechtzitat aus dem Epilog des Guten Menschen von Sezuan hinzufügen:

Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis' dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!

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Selma Weber
Selma Weber wurde sich der Rolle eines jeden Einzelnen bewusst, als sie das erste Mal eine amerikanische Hotelkette davon überzeugen konnte, unverbrauchte Lebensmittel nicht mehr wegzuwerfen. Schnell merkte die Wahlberlinerin, dass dies auch bei anderen Hotels klappt. In ihrem Geburtsland Luxemburg hat Selma sich acht Jahre in einem mit Freund:innen gegründeten politischen Film- und Theaterkollektiv engagiert, auf und hinter der Bühne. Nach einem ersten Bachelor in Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte entschied sie sich für einen zweiten Bachelor und setzte sich mit Public und Non-Profit Management auseinander. Aktuell befindet sie sich an der Berliner Universität der Künste im Masterstudiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Wenn sie gerade nicht an ihrem eigenen Podcast über Nachhaltigkeitsfragen arbeitet, rettet sie in ihrer Freizeit Lebensmittel vor der Tonne und verschlingt Bücher über die sozialo-ökologische Umgestaltung unserer Gesellschaft.

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