Viren den Hütten, den Villen Gesundheit

Das Virus hat auch was Gutes, ist es doch so demokratisch. Für alle ist es gleich gefährlich, es interessiert sich nicht für den Kontostand, es nimmt keine Rücksicht auf den sozialen Status. So wurde von Anfang an und bis noch vor wenigen Monaten allerorten gesprochen. Obwohl alle von Anfang an wissen konnten, dass das Gegenteil richtig ist. Gerade in Pandemiezeiten gehören Arme mit zu den Gefährdetsten, Wohlhabende wesentlich weniger. Studien, die das für diese Pandemie belegen, gibt es bereits seit Sommer 2020. „Die vierte Welle hat begonnen“ sagt das Robert-Koch-Institut und die Bild-Zeitung munitioniert die Verschwörerquerfront: „Bild entlarvt neue Corona-Panikmache. Horror-Papier vom RKI“. Ein geeigneter Zeitpunkt, an die soziale Frage zu erinnern.

“Auf dem Kölnberg” leben rund viertausend Menschen auf einer Fläche von zwei Fußballfeldern. Immer wieder wird die Siedlung zum Coronahotspot, berichtet der WDR (Screenshot)

Trotz wissenschaftlicher Hinweise und der Evidenz des Alltags brauchten Medien und Politiker bis in dieses Frühjahr, um wenigstens ab und zu aus dem Blickwinkel der sozialen Frage auf die Pandemie zu schauen. Dabei entlarvte die Berliner Publizistin Sigrun Matthiesen die zu lange weitverbreitete Mär, vor dem Virus seien alle gleich, schon ein Jahr vorher, im Frühjahr 2020, mit dieser knappen Intervention: Es sei in einer Pandemie ausschlaggebend, ob sieben Leute in einer Zwei-Zimmer-Wohnung oder zwei in sieben Zimmern lebten.  

Wie der soziale Stand den Virenalltag prägt, belegte beispielsweise in diesem Juni eine (nicht-repräsentative) Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: 49 Prozent der geringverdienenden Befragten — auf der Lohnskala liegen sie im untersten Fünftel — sagten, sie seien einmal geimpft. Bei den deutlich besser verdienenden Befragten, sie liegen im obersten Fünftel, waren es zu diesem Zeitpunkt erheblich mehr, bereits 71 Prozent.

Wie gefährlich ist der kleine Geldbeutel?

Eine entsprechende Studie wurde bereits  vor einem Jahr, im Sommer 2020, von Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg vorgestellt: „Soziale Unterschiede beeinflussen die Gesundheitschancen beträchtlich. Das zeigt sich auch in der COVID-Pandemie.“ Die Basis seiner Behauptung: Experten der AOK Rheinland/Hamburg und Wissenschaftler des Düsseldorfer Universitätsklinikums hatten Daten von mehr als 1,3 Millionen Versicherten von Januar bis Mai 2020 gesichtet. Ihre Leitfrage: Müssen Menschen in prekärer sozialer Lage — etwa Arbeitslose, Empfänger von Arbeitslosengeld I und II — häufiger als erwerbstätig Versicherte wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden? Ein Ergebnis: Vor allem Langzeitarbeitslose, meist Bezieher von Arbeitslosengeld II, haben ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko wegen COVID-19 ins Krankenhaus zu müssen. Bei Empfängern von Arbeitslosengeld I — oft Menschen, die kurzzeitig ohne Arbeit sind — war das Risiko immerhin noch um knapp 18 Prozent erhöht.

So müsste spätestens im Sommer 2020 klar gewesen sein, dass nicht die Wohlhabenden wegen ihrer Reiselust auch noch in die hintersten Erdteile die Gefährdesten sind — diese Erzählung gab es auch in den Anfangswochen —, sondern die am unteren Ende der sozialen Skala. Aber trotz dieses Wissens, allgemein zugänglich, ließen Medien, Öffentlichkeit und Politik diese Zusammenhänge noch monatelang links unten liegen.

Miese Lohn-, Arbeits- und Wohnverhältnisse

In Alarmhaltung standen jedoch alle, als es skandalös wurde: Ende Juni 2020 brachen bei der Fleischfabrik Tönnies Masseninfektionen unter den Beschäftigten aus; miese Lohn-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, ebenso altbekannt wie beharrlich ignoriert, bescherten den Viren einen veritablen Hotspot. „Dass so was überhaupt möglich ist“, rissen viele ihre Augen groß auf, die Politik hyperventilierte. Trotzdem: Der Blickwinkel des sozialen Gefälles in Pandemiezeiten kam aus seiner unscheinbaren Ecke nicht heraus; eben abgesehen von Kurzaufregern über Hotspots in sozialen Brennpunkten, Flüchtlingsheimen und der Fleischindustrie. 

Die Perspektive des sozialen Standes wurde bis vor kurzem nicht nur vernachlässigt bis ignoriert, sie wurde sogar (wissentlich) fein säuberlich aus offenkundigen Zusammenhängen herausgeschnitten. Das zeigt die Debatte über die Alten: Von Anfang an wurde die Seuche als Epidemie der Alten beschrieben, die seien am gefährdetsten, hieß es zurecht; übrigens wurde über deren besonderen Schutz sehr viel geschwätzt und sehr wenig erreicht. Aber: Was nie thematisiert und (meines Wissens) auch nie untersucht wurde, war die Frage, wie stark gerade in diesen Altersgruppen der soziale Stand über das Virus-Risiko entscheidet? Natürlich ist die Alte mehr gefährdet, die wegen Wohlstandsmangel in einem beengten Pflege- oder Altenheim bei unzureichender Pflege quasi unter Verschluss hausen muss; der Alte übrigens auch. Eine Zahl: Etwa 30 Prozent der Covid-Toten kommen aus Altersheimen; sicher die wenigsten davon aus den teuren Luxus-Heimen der Tertianum- oder Augustinum-Kette.

Der große blinde Fleck — nicht erst seit Corona

Für Experten ist das alles Alltagswissen, aber auch allen anderen, ob Publikum oder politisch Verantwortlichen, könnte das klar und bewusst sein, ist es doch offenkundig: in großen Wohnungen (oder Heimen) mit begrüntem Balkon und/oder Garten, ruhig gelegen, ohne Autoschadstoffe, ohne Geldsorgen, mit unterhaltsamen Büchern, neuen Hobbys (mit denen dann geprahlt werden kann) und Großbildschirm — so lässt sich auch ohne dauerhafte psychische Last eine Pandemie mit homeoffice, home-schooling und der einen oder anderen Quarantäne ganz gut aussitzen.

Offenkundige Zusammenhänge, die in Deutschland zumindest sehr unzureichend erforscht werden. So war im Datenreport 2021 des Statistischen Bundesamtes zu lesen, die gesundheitliche Ungleichheit sei in Deutschland „nur selten untersucht worden“; ganz anders als in Großbritannien und den USA, wo dieser Zusammenhang schon immer und auch jetzt in der Pandemie viel früher breit thematisiert wurde.    

Twitter-Screenshot

50 bis 70 Prozent höhere Sterblichkeit

Ein Team um den Schweizer Epidemiologen Matthias Egger hat für die Schweiz die offiziellen Corona-Daten (Tests, Einweisungen, Todesfälle etc.) zusammengetragen und diese mit Sozialdaten abgeglichen. Einer ihrer Befunde: Von den zehn Prozent der Ärmsten mussten 28,5 je 100 000 Personen in Intensivbehandlung, von den reichsten zehn Prozent weniger als die Hälfte, nämlich 13. Die linksliberale Wochenzeitung „WOZ“, Zürich, die darüber berichtete, kommentiert: „Corona ist ein Klassenvirus.“

Auch für Deutschland geht das Robert Koch-Institut (RKI) davon aus, dass die Sterblichkeit in sozial benachteiligten Wohngegenden um „50 bis 70 Prozent höher“ liegt als in den wohlhabenderen Gegenden. Das sind Befunde aus zwei Studien des Institutes. Und was für das Sterben gilt, gilt auch für das Sich-Infizieren: „Während der Inzidenzwert etwa bei sozial benachteiligten Senioren zwischen 60 und 79 Jahren Anfang Januar bei rund 190 lag, rangierte er bei den sozial und finanziell Bessergestellten im gleichen Alter bei etwas mehr als 100.“ So ein Zitat aus den Studien-Befunden. Kein Zufall, dass beispielsweise die (gedruckte) Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber auf einer der hinteren Wirtschaftsseiten in einem kleinen Zweispalter so beiläufig berichtete; wir wollen uns doch unser Bild von der tollen Mittelschichts-Gesellschaft nicht kaputt machen lassen …. . 

Rücksicht auf die Migranten! Wirklich?

Covid macht also nicht alle gleich, sondern bedroht Arme und Nicht-Wohlhabende besonders. Wird dieser offenkundige Zusammenhang ausnahmsweise nicht ignoriert — selbst die konservativ-liberale „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ spricht von einer „trägen“ Reaktion der deutschen Gesellschaft — dann sind Politikerinnen und auch Medienleute nicht selten schnell mit Vorhalten: Die sind doch selbst daran schuldig. Warum rauchen die soviel, suchen sich keine bessere Arbeit, ernähren sich von Fast-Food und Fuselalkohol — mit dem Lebens- und Ernährungsstil würde sogar jeder Wohlhabende krank werden …, wird er aber nicht. Eine zweite verbreitete Erklärung: Unter den Armen in Deutschland seien viele Migranten. So werde dieser Zusammenhang von Armut und Krankheit lieber verschwiegen, um wiederum diese nicht zu diskriminieren. Was gegen diese Annahme spricht: Dieser Zusammenhang wurde in Deutschland schon zu Zeiten verschwiegen, als es weit und breit kaum Migranten gab.

Schon beim Untergang der „Titanic“ …

Stefan Willich, seit 1995 Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charite Berlin, erinnert daran, dass dieser Zusammenhang in Seuchenzeiten und bei Katastrophen schon immer gegolten hat. Sein Beispiel aus dem Jahr 1912: „Beim Untergang der Titanic starben über anderthalbtausend Menschen, wobei die Überlebenswahrscheinlichkeit von der jeweiligen Beförderungsklasse abhing: Damals ertranken 38 Prozent der Passagiere in der 1. Klasse, 59 Prozent der 2. Klasse-Passagiere und 75 Prozent der Passagiere in der 3. Klasse. Ursache war ein Eisberg — tödlich war der Klassenunterschied.“ Willich bestätigt, was viele Studien bestätigen: dass auch Covid für sozial schlechter gestellte Gruppen (eben abhängig von Arbeits- und Wohnverhältnissen) „besonders bedrohlich“ sei. Und er findet, dass dieser Sachverhalt „bislang erstaunlich wenig thematisiert“ werde. Auch der Sozialmediziner Nico Dragona, Universitätsklinikum Düsseldorf, konstatiert: Der starke Zusammenhang zwischen Krankheit und sozialer Herkunft sei seit langem bekannt, das Wissen dringe jedoch nicht in die Öffentlichkeit. Er hofft, dass sich dies nun mit der Pandemie ändere.

Superspreader mit Klassencharakter

Foto: Jon Tyson auf Unsplash

Wie wenig dieser Sachverhalt ein Thema ist, das zeigt sich, wenn Medien über Maßnahmen berichten, mit denen (ausnahmsweise) die Lage der Menschen mit kleinen Geldbeuteln besonders berücksichtigt wird. Das wird dann jedes Mal als ganz tolle Idee gefeiert, was zeigt: Solche Hilfen sind absolute Ausnahme, nicht die Regel, die sie sein sollten. Beispiele: In Genf wurden Menschen aus ärmeren Regionen, so berichteten deutsche Medien, Hotelzimmer während der Quarantänen zur Verfügung gestellt; weil sie eben in der Regel in sehr beengten Wohnungen leben. Übrigens: Wurde das in Deutschland auch systematisch gemacht?
Eine ebenso selbstverständliche Maßnahme wurde in diesem Mai in den Medien zur Topmeldung, eben weil sie immer noch die Ausnahme, nicht die Regel ist: In Köln fuhr ein Impfbus in Stadtteile, die als sozial schwach und deshalb als besonders gefährdet gelten; besondere Gefahren für die Bewohner dort, aber in einer Pandemie eben auch besondere Gefahren für Dritte. Quasi Superspreader mit Klassencharakter. Und in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kam die Redaktion sogar auf die Idee, übrigens unter der Rubrik „Leib&Seele“, die Poliklinik Veddel vorzustellen: Eine Poliklinik im ärmsten Stattteil von Hamburg, die das leistet, was in vielen Ländern schon Alltag ist, bei uns immer noch eine Rarität — eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung und -prävention, die also auch die Lebensumstände der Patienten berücksichtigt. In Pandemiezeiten besonders sinnvoll. 

Gesundheitsämter auf den Felgen

So leuchtet ein: Menschen mit wenig Ressourcen, egal ob Geld, Bildung oder Kontakten, brauchen besondere Hilfen, auch um ihre Gesundheit zu wahren. In einer sozialen Demokratie wird diese Hilfe vor allem vom öffentlichen Gesundheitswesen geleistet. Aber: Wie leistungsfähig ist das?

Zunächst eine generelle Zahl: 1995 hatte der Bund noch 535.000 Beschäftigte, 2015, also 20 Jahre später, noch etwa 410.000, ein Abbau um 20 Prozent, dabei sind die Aufgaben und die Ansprüche in dieser Zeit wesentlich gewachsen. So kann nicht überraschen, dass die öffentlichen Gesundheitsämter von diesem Kahlschlag auch betroffen sind. Aus der Ärztestatistik der Bundesärztekammer geht hervor: Die Zahl der Fachärztinnen und Fachärzte im Öffentlichen Gesundheitswesen sind deutlich rückläufig. Da sie schlechter als andere Facharzt-Gruppen bezahlt werden, mangelt es erheblich an Nachwuchs. Und viele Arztstellen stehen zwar offiziell im Organigramm der Gesundheitsämter, die Stellen sind jedoch gar nicht besetzt.

So könnte es sein, dass Fake-News nicht nur von den sogenannten Querdenkern stammen: Wenn beispielsweise Politiker anhaltend behaupten, Deutschland sei mit seinem Gesundheitswesen sehr gut aufgestellt und dies als Wahrheit ausgeben, diese Aussage sich jedoch mindestens als Beschönigung, wenn nicht sogar als Lüge herausstellt. 

Aus der Berichterstattung der Hamburger Morgenpost (Screenshot)

Noch ein Blick über Deutschland hinaus:
Thabo Makgoba, Erzbischof von Kapstadt, machte jüngst in einem vermutlich weithin unbeachteten Namensartikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung darauf aufmerksam, wie der reiche Westen die Schotten dichtmacht, um unsere Reise-, Urlaubs-, Masken- und Konsumfreiheit endlich durchzusetzen: Es sei, so der Bischof, von der Covax-Initiative — reiche Länder behaupten, über diese Organisation versorgten sie großzügig arme Länder mit Impfstoff gegen Covid — bisher noch kein Impfstoff in Südafrika, der größten afrikanischen Wirtschaftsnation, angekommen. Nach Daten der People`s Vaccine Alliance impften jedoch die wohlhabenden G7-Staaten jeden Tag 4,6 Millionen Menschen ihrer Bevölkerung (Stand Mai).

Dass in Seuchenzeiten die Armen besonders verwundbar sind und in solchen Zeiten die Solidarität schwindet, darauf machte bereits vor Jahrzehnten der renommierte französische Historiker Fernand Braudel aufmerksam: „Sobald sich die Seuche ankündigt, brechen die Reichen Hals über Kopf nach ihren Landgütern auf; jeder denkt nur noch an sich.“

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

2 Kommentare

  1. Sehr gut recherchiert und mit Fakten belegt. Ich wünsche mir, dass dieser Artikel auch außerhalb des Blogs Beachtung findet und veröffentlicht wird. Ob dann die Reichen, unsere Politiker, diejenigen, die eh immer abtauchen, wenn es wichtig ist zu handeln, mit offenen Augen und geöffnetem Herzen die Worte in sich aufnehmen, sei dahingestellt. Danke!

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