Das vorletzte Wort: 70 Jahre Bundesverfassungsgericht

Screenshot: Website Bundesverfassungsgericht

Zwei Tage nach der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wird das Bundesverfassungsgericht siebzig Jahre alt. Genauer gesagt: Am 28. September 1951 wurde es in Anwesenheit von Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer offiziell eröffnet, hatte aber der Dringlichkeit wegen schon Anfang September eine erste Entscheidung zu treffen. Ein Rückblick auf die Geschichte und Entwicklung des Gerichts ermöglicht eine kritische Gegenwartsdiagnose: Um welche Freiheiten und Freiheitsgrade geht es eigentlich, und was nehmen die Bürger:innen davon wahr und für sich in Anspruch? So stabil das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten ist, so labil erweist sich der „soziale Zusammenhalt“ gerade jener, die sich emphatisch auf ihre Grundrechte berufen.

Die Anfänge

Hätte jemand 1951 prophezeit, eines Tages würden sich zahlreiche Staaten, in denen Demokratie wieder oder neu erkämpft wurde, Rat holen bei Kennern des bundesdeutschen Verfassungsrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit, hätte man ihn für verrückt erklärt. Tatsächlich kam es aber dazu, und ein prominentes Beispiel verweist auf die Geburt des Grundgesetzes (GG) und des Bundesverfassungsgerichts: Im Rahmen der Verfassungsdiskussion nach dem Ende der Apartheid in Südafrika waren südafrikanische Jurist:innen in Karlsruhe zu Gast und sprachen dort mehrere Tage lang über Verfassungs- und Verfassungsgerichtsfragen.

In Südafrika gab es eine umfassende gesellschaftliche Diskussion über die neue, demokratische Verfassung mitsamt Verfassungsgericht. Davon konnte damals in der Bundesrepublik weder bei den Beratungen über das Grundgesetz beim Verfassungskonvent von Herrenchiemsee noch bei den Tagungen des parlamentarischen Rates 1948/1949 die Rede sein. Das alles ging an der (west)deutschen Bevölkerung weitgehend vorbei. Zudem zeigen damalige Umfragen, wie weit die Mentalität großer Teile der Bevölkerung von Demokratie und Rechtsstaat entfernt war: Sie meinten, Adolf Hitler würde einmal als „großer Staatsmann“ in die Geschichte eingehen.

„Dat ham wer uns so nicht vorjestellt“

In den Anfängen 1948/1949 war es unstrittig, dass es ein Bundesverfassungsgericht geben sollte. Es setzte sich die Vorstellung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit durch. Dafür gab es kaum Vorbilder (mit Ausnahme des Verfassungsgerichts der österreichischen Republik 1919-1934). Vor allem aber gab es über den Rang und die Kompetenzen keine präzisen Vorstellungen. Auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, über das CDU und SPD 1949-1951 langwierige Auseinandersetzungen führten, ließ einiges davon offen. Für Konrad Adenauer (CDU) und den Justizminister Thomas Dehler (FDP) war es nur ein Gericht neben anderen Bundesgerichten. Doch das neu gegründete Verfassungsgericht sah sich selbst zwar als Gericht, jedoch auch als „Verfassungsorgan“ neben den anderen Verfassungsorganen: Parlament, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung. Das Gericht mit den Verfassungsorganen gleichauf?

Adenauer hielt dies für eine Entmachtung des Parlaments, sprach sogar vom Gericht als „Diktator“. Wie selbstverständlich waren Adenauer und Dehler davon ausgegangen, das Bundesverfassungsgericht gehöre in die Zuständigkeit des Justizministeriums (und auch dessen Etat). Thomas Dehler benahm sich in den harten Auseinandersetzungen so gründlich daneben, dass er bei den nächsten Wahlen nicht mehr als Minister vorgesehen wurde. Erst mühsame Rückzugsgefechte Adenauers befriedeten den heftigen Streit – äußerst unbefriedigend für Adenauer. Der quittierte die Angelegenheit mit dem Satz: „Dat ham wer uns so nicht vorjestellt“.

Verfassungsorgan – Macht und Kompetenz

Das Gericht hat seine Stellung unter den Verfassungsorganen selbst erstritten. Darin lagen und liegen Chancen und Risiken begründet, also auch Erfolge und Gefahren. Denn das Bundesverfassungsgericht, das sich als „Hüter der Verfassung“ versteht, schreibt fortwährend Verfassungsrecht, legt (kreativ) aus, arbeitet nach Maßgaben eines Gerichts und greift doch weit in den politischen und gesellschaftlichen Raum ein. Das hat ihm den Vorwurf des „entgrenzten Gerichts“ eingehandelt – mit einer Macht aus Kompetenzen, die den Spielraum für die Gesetzgebung einengt und sich in Richtung einer „Judikatur“ (Wolfgang Böckenförde) entwickele. Umgekehrt hat aber das Gericht in zahlreichen Fällen zwar die Kompetenz der Exekutive, der Bundesregierung, begrenzt – dies jedoch zugunsten des Parlaments, etwa in Fragen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder der Europäischen Union.

Eine herausragende Rolle spielte das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus schon in den 1950er Jahren gegenüber der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH). Dieser war tief verankert in reaktionärer Rechtsauslegung, sträubte sich heftig etwa gegen die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern und zeigte sich im Übrigen höchst nachsichtig mit der NS-Beamtenschaft. Die (viel zu späte) Revision des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Sachen Gleichstellung war nicht zuletzt dem hartnäckigen (Ab-) Mahnen durch das Bundesverfassungsgericht geschuldet, ebenso die klare Abgrenzung vom Beamtentum im Nationalsozialismus.

Dass es im Verhältnis zwischen Gericht und Parlament eine „natürliche Spannung“ gibt, wie der frühere Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle meinte, liegt auf der Hand. Versuche einer Bilanz der Rechtsprechung als eher mal regierungs-/parlamentsfreundlich und mal regierungs-/parlamentskritisch sind da wenig hilfreich. Natürlich spielt das Gericht eine große Rolle für die parlamentarische Opposition. Aber wo kein Kläger, da auch kein Richter. Als Gericht kann das Bundesverfassungsgericht nur tätig werden, wenn es angerufen wird. Die SPD hatte seit Anfang der 1960er aufgrund ihrer Option für eine große Koalition kein Interesse, die Regierung zu „jagen“. Umgekehrt fuhren CDU und CSU in den 1970er Jahren schweres Geschütz sowohl gegen die Ostverträge als auch die sozialliberalen Reformen auf. Auch wenn die Gesetze dem Grundsatz nach Karlsruhe passierten, waren die Eingriffe und Einengungen erheblich – sodass man später davon sprach, erst seit den 1980er Jahren sei die Rechtsprechung gegenüber Parlament und Regierung „ausgewogen“ gewesen (Uwe Wesel).

Ein Ärgernis ist allerdings trotz Reformen das Richterwahlverfahren geblieben: Heute wählen Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit die Hälfte der Richter:innen des Bundesverfassungsgerichts, für den Bundestag macht dazu der RichterwahlausschussVorschläge. Das Schachern um Parteienproporz ist für sich ärgerlich, und zwar nicht, weil damit das Gericht parteiabhängig würde – im Gegenteil. Eben die Fruchtlosigkeit des Schacherns macht das Ärgerliche aus. Es gibt, egal nach welcher Wahlprozedur, so gut wie nirgends den Beleg, dass sich Richter:innen entsprechend ihrer Parteizugehörigkeit in der Rechtsprechung verhalten hätten. Im Gegenteil, in den meisten Fällen war ihre Beteiligung an der Rechtsprechung für „ihre“ Partei am Ende ein großes Ärgernis.

Bild: Habitator terrae, wikimedia commons

„Grundrechtsrepublik“ – der „gute König“ zu Karlsruhe?

Schon mit der 1951/1952 durchgesetzten Machtstellung wurde das Gericht das mächtigste unter den nach dem zweiten Weltkrieg weltweit zahlreich entstandenen Verfassungsgerichten. Zugleich gewann das Bundesverfassungsgericht erstaunlich früh an Popularität. Das lag gewiss zu großen Teilen an dem sprichwörtlich gewordenen „Gang nach Karlsruhe“, dem Recht auch auf individuelle Verfassungsbeschwerde. Von 1951 bis 2020 waren von den insgesamt knapp 250.000 Verfahren allein 98,48 % Verfassungsbeschwerden. Davon aber waren lediglich 2,3 % erfolgreich.

Die Macht des Gerichts wurde mit Grundentscheidungen noch verstärkt, maßgeblich durch die Auslegung der Wirkung der Grundrechte (Artikel 1-19 GG) im berühmt gewordenen Lüth-Urteil 1958. Bis dahin war die Frage zumindest offengeblieben, ob die Grundrechte einzig auf das Verhältnis von Staat und Personen zu beziehen seien – als reine Abwehrrechte. Nunmehr sprach das Bundesverfassungsgericht von der Ausstrahlung der Grundrechte auf sämtliche Rechtsverhältnisse, also auch privatrechtliche. Gerichte hatten fortan Urteile unter Berücksichtigung der Grundrechte zu fällen und wo sie, etwa bei Verwaltungsanordnungen oder arbeitsrechtlichen Vereinbarungen, den Eindruck hatten, hier würde gegen Grundrechte verstoßen, durften und dürfen sie nicht allein entscheiden, sondern müssen den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorlegen.

Das Gericht sprach im Lüth-Urteil erstmals davon, dass das Grundgesetz eine „objektive Wertordnung“ darstelle. Daraus ergab sich fortan die umfassende Wirkung der Grundrechte und die stärker werdende Schutzpflicht des Staates. Diese Wende in der Grundrechtsdogmatik löste eine äußerst lebendige Debatte aus, und zumindest der ziemlich unbestimmte Begriff der „Werte“, hochstilisiert zu Grundwerten, ist auch heute weiterhin hoch umstritten. Geht es denn nicht eher darum, gemeinsame Regeln bei Pluralität von Werten, Identitäten und Moralen zu finden?

Enorm ausgeweitete individuelle Freiheitsansprüche

Selbst das Bundesverfassungsgericht hat im Weiteren vom Begriff der „Werte“ abgelassen und spricht eher von „objektiven Grundrechten“. Viele, sehr weitreichende Urteile sind auf diese Weichenstellung in der Grundrechtslehre zurückzuführen – nicht zuletzt die höchst strittigen Entscheidungen zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs.

Manche, die sich immer „im Recht“ fühlen, wenn sie sich auf „ihre“ Grundrechte berufen, haben die Tragweite kaum im Blick. Die extreme Zurückhaltung, die das Bundesverfassungsgericht in der Corona-Krise zeigte, ist auch darauf zurückzuführen, dass das „Recht auf Leben“ einen umfassenden Schutzbereich und damit staatliche Eingriffe nach Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit verlangt.

In den sozialen und kulturellen Transformationen, mit der Auflösung traditioneller Bindungen, haben sich die individuellen Freiheitsansprüche enorm ausgeweitet. Dies hat sich auch in der Begrifflichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gespiegelt. Immer stärker griff das Gericht in Verbindung mit einzelnen Grundrechten auf Artikel 1 GG, die Menschenwürde, zurück; individuelle Freiheiten und Autonomie des Individuums rückten in aller Abstraktheit weit nach vorn, was scheinbar der Ausdifferenzierung von Lebenswelten, Lebensstilen entsprach. Doch der rechtliche Begriff von Individuum und Autonomie ist kein moralischer. Das schwierig zu bestimmende Verhältnis von Moral und Recht löst sich in der öffentlichen Debatte in Moralismus auf. In Politik und Medien wandeln sich Grundrechte in Grund-„Werte“. Statt vom viel gerühmten Verfassungspatriotismus wäre wohl eher von einer Art Zivilreligion zu sprechen. Zumindest stärkt dies eine Tendenz, das Bundesverfassungsgericht – gegen die „schlechte Politik“ – zum „guten König“ zu Karlsruhe zu machen.

Zwischen dem sich entwickelnden Verfassungsrecht und den gesellschaftlichen Individualisierungsschüben gibt es eine Korrespondenz, aber nicht zwingend eine Kausalbeziehung. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht anzulasten, dass bei Vielen aus Freiheitsforderungen zwangsläufig eine rein individuelle Anspruchshaltung entsteht, für die wiederum andere einstehen müssen. Die Voraussetzungen der Freiheit müssen dann die anderen schaffen, indem sie Pflichten erfüllen müssen. Was in der Corona-Krise im Guten wie im Schlechten offenbar wurde, das lässt sich leicht auf das Verhältnis von Freiheiten und Sozialstaatsgebot übertragen.

Das „letzte Wort“?

Auch wenn der Begriff des „entgrenzten Gerichts“ übertreibt, gilt ein Einwand nach wie vor: Das Gericht hat, so heißt es griffig, „das letzte Wort“. Es ist aber immer nur das vorletzte Wort, denn das Gericht ändert auch Maßstäbe und Grundsätze – über einen langen Zeitraum hinweg. Das letzte Wort von gestern ist dann später wieder zum vorletzten Wort geworden. Dies wird nicht immer der Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit kenntlich gemacht. So ist es in der öffentlichen Debatte schlicht untergegangen, dass das Bundesverfassungsgericht das KPD-Verbotsurteil 1956 zwar nicht aufgehoben hat, wohl aber nicht mehr so ein Urteil fällen würde. Genauso steht es, wenn auch eher als Nebenbemerkung, im Urteil zum letzten NPD-Verbotsverfahren. Das solche Wendungen auch mal im Hintergrund bleiben, mag daran liegen, dass Änderungen in der Rechtsprechung das Vertrauen in das Gericht beschädigen könnten. Aber das stärkere Kenntlichmachen würde die Verfahren und die historische Relativität auch von Grundsatzurteilen transparent machen.

Nach siebzig Jahren droht dem Bundesverfassungsgericht zwar im aktuellen Streit mit dem EuGH ein neuer Kompetenz-Macht-Kampf. Doch wird die Popularität des Gerichts darunter kaum leiden. Mit seiner Rechtsprechung hat es Demokratisierungsanstrengungen deutlich unterstützt, und „Demokratie als Lebensform“ ist zumindest als Norm gesellschaftlich prägend. Dies schafft eben nicht die Lösung aller Probleme, sondern den angemessenen Rahmen für das Aushandeln und Auskämpfen widerstreitender Positionen und Interessen. Demokratie als Lebensform wird aber labil, wenn man nur auf das „letzte Wort“ aus Karlsruhe wartet. Wenn es ein letztes Wort gibt, von dem alles abhängt, dann ist es schon in den 1960er Jahren von einem späteren Bundesverfassungsrichter im gesellschaftlichen Zusammenhang verortet worden: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, schrieb 1967 Wolfgang Böckenförde. Dieses berühmt gewordene „Böckenförde-Diktum“ verweist auch auf das tatsächlich „letzte Wort“: das liegt im Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzung nicht nur um die eigenen, sondern auch die Rechte der anderen.

Grundrechte schützen Einzelne und Minderheiten vor erdrückender Macht des Staates und übergriffiger Mehrheiten. Sie eignen sich nicht als Titel auf identitäre Inselexistenzen. In einer Demokratie schützen sie zudem die heutige Minderheit als (mögliche) zukünftige Mehrheit. Ohne Blick aufs Ganze und den Willen und die Bereitschaft, sich solidarisch einzumischen, werden sie am Ende zu leeren Formeln.

Siehe auch den Bruchstücke-Beitrag von Jutta Roitsch
Karlsruhe und das Gemeinwohl: Zwei wuchtige Urteile mit Tragweite

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Martin Dieckmann
Martin Dieckmann hat Politologie und Kunstgeschichte studiert. Er ist diplomierter Politikwissenschaftler, war 1983-2000 Dokumentar bei Gruner + Jahr in Hamburg. Von 2001-2008 arbeitete er als Sekretär beim ver.di-Bundesvorstand für Verlage, Medienwirtschaft und Medienpolitik, von 2008 bis 2020 war er verdi-Fachbereichsleiter Medien, Kunst und Industrie in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.

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