Klagewelle in den USA gegen «Big Oil»-Firmen

Foto: Alf van Beem auf Unsplash

Nach Jahrzehnten enormer Macht stehen Amerikas Erdölgiganten vor der grossen Abrechnung. Sie werden mit Klima-Klagen eingedeckt. Eine Klagewelle in den USA zielt darauf ab, die Öl- und Gasindustrie für die Umweltzerstörung durch fossile Brennstoffe zur Rechenschaft zu ziehen. In der englischen Zeitung «The Guardian» berichtet der Journalist und Buchautor Chris McGreal, wie betroffene Gemeinden und Bundesstaaten vor die Gerichte ziehen. Küstenstädte, die mit dem steigenden Meeresspiegel zu kämpfen haben, Staaten im Mittleren Westen, in denen Mega-Regenfälle Ernten und Häuser zerstören, und Fischergemeinden, die ihre Fänge durch die Erwärmung der Gewässer verlieren: Sie fordern von den Ölkonzernen Schadenersatz und dringende Massnahmen, um weitere Schäden durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe zu reduzieren.

Autor McGreal führt als Beispiel die Gemeinde Imperial Beach in Kalifornien an, die sich auf drei Seiten mit steigendem Wasser konfrontiert sieht.  Das Budget dieser Gemeinde lässt es nicht zu, in Massnahmen gegen einen höheren Meeresspiegel zu investieren – es ist geringer als das Jahresgehalt des Exxon-Chefs. Nun will Imperial Beach die Kosten für Schutzwälle von den Ölfirmen einklagen.

Strategie 1: Klage auf «Störung der öffentlichen Ordnung»

Flagge von Rhode Island

Imperial Beach und andere Gemeinden wie Honolulu, San Francisco und Rhode Island klagen die Ölfirmen wegen «Störung der öffentlichen Ordnung» an (public nuisance, wörtlich «öffentliches Ärgernis»). Die Ankläger argumentieren, dass die Ölkonzerne die Rechte anderer am öffentlichen und privaten Raum verletzt hätten, indem sie wissentlich die Klimakrise begünstigt hätten. Das ist nicht so eigenartig, wie es auf den ersten Blick aussieht. Kommt ein Gericht zum Schluss, dass die Ölkonzerne dazu beigetragen haben, dass Gebiete von Gemeinden und Privaten überschwemmt werden, wäre dieser Tatbestand wohl erfüllt: Besitzer müssen deswegen ihre Häuser verlassen, Landwirte Ackerland verlieren, Brücken und Strassen können nicht mehr genutzt werden.

Die Klage auf «Störung der öffentlichen Ordnung» hat sich im Pharmabereich als erfolgreich erwiesen: 2019 musste Johnson & Johnson, der weltgrösste Gesundheitskonzern, wegen falschen Angaben bei der Vermarktung von starken Schmerzmitteln dem Bundesstaat Oklahoma eine Entschädigung von einer halben Milliarde Dollar bezahlen. Begründung des Gerichts: J&J habe die öffentliche Ordnung gestört, indem es zur Opioid-Epidemie im Staat beigetragen habe.

Strategie 2: Klage auf Betrug

Andere Kläger argumentieren, dass die Kampagnen der Ölfirmen zur Täuschung und Leugnung der Klimakrise auf Betrug hinauslaufen. Minnesota verklagt unter anderem Exxon wegen Verstössen gegen das staatliche Gesetz über irreführende Handelspraktiken, falsche Werbung und Betrug am Verbraucher, die in der Klage als Verzerrungen und Lügen über die Klimawissenschaft bezeichnet werden. Die Temperaturen sind im US-Bundesstaat im Mittleren Westen schneller gestiegen als im Durchschnitt in den USA und global. Minnesota macht in der Anklage geltend, dass sengende Temperaturen und Mega-Regen «die Landwirtschaft verwüstet und Menschen aus ihren Häusern vertrieben haben». Dabei seien Familien mit niedrigem Einkommen und Angehörige von Minderheiten am meisten gefährdet.

Weitere, regionale Klagen bahnen sich ihren Weg durch die Gerichte. Von Charleston, South Carolina, über Boulder in Colorado bis Maui in Hawaii versuchen Gemeinden, die Branche zu zwingen, mit ihren enormen Gewinnen für die Schäden aufzukommen und die Klimakrise als das zu behandeln, was sie ist: ein globaler Notfall.

Zwei Dutzend Klagen stützen sich auf interne Dokumente

Es sind fast zwei Dutzend Klagen, die auf die grossen Energie- und Gasförderer einprasseln. Die Grundlage der Anschuldigungen bilden interne Dokumente der Öl- und Gasfirmen und ihres Branchenverbandes. Sie zeigen, dass sich die grossen Konzerne spätestens seit den 1980er-Jahren der enormen Klimarisiken bewusst waren – und trotzdem alles taten, um diese Risiken zu leugnen (siehe unten die farbliche unterlegten Passagen).

Der Umweltschützer Bill McKibben bezeichnete das Verhalten der fossilen Brennstoffindustrie einmal als «die konsequenteste Vertuschung in der Geschichte der USA». Und nun könnten die Klagen zum ersten Mal die Branche zwingen, öffentlich Rechenschaft abzulegen. Klimaschützer sehen die Ölbranche bereits in den Fussstapfen der Tabakindustrie: Nach Jahrzehnten konnte man den Zigaretten-Produzenten das Offensichtliche nachweisen, nämlich dass sie trotz besseren Wissens öffentlich immer behauptet hatten, die gesundheitlichen Folgen des Rauchens seien unbedeutend oder zumindest nicht bewiesen.

Shell-Urteil ist für US-Gerichte wohl bedeutungslos

Aus Europa ist bekannt, dass Shell seinen globalen Kohlenstoffausstoss bis 2030 um 45 Prozent verringern muss; ein niederländisches Gericht verpflichtete Shell kürzlich dazu. Lassen sich daraus Prognosen für die Gerichtsprozesse in Amerika ableiten? US-Anwälte vermuten, dass ausländische Gerichtsurteile in den USA nicht viel Gewicht haben werden. Im Jahr 2018 wies ein Bundesgericht den ersten Versuch der Stadt New York zurück, die Ölkonzerne zu zwingen, für die Kosten der Klimakrise aufzukommen, mit der Begründung, die globale Natur der Krise erfordere eine politische, nicht eine juristische Lösung.

«Wir befinden uns an einem Wendepunkt», sagt Daniel Farber zur Klagewelle in den USA gegenüber dem «Guardian»-Autor Chris McGreal. Farber ist Juraprofessor an der Universität von Kalifornien in Berkeley und Direktor des Center for Law, Energy and the Environment.
«Selbst wenn die Erdölfirmen eine gute Chance haben, die Rechtsstreitigkeiten zu gewinnen», wird Rechtsprofessor Faber weiter zitiert, «so schwächt die Offenlegung ihres Fehlverhaltens die Möglichkeit der Unternehmen, sich gegen künftige strengere Gesetze und gegen teure Vergleiche zu wehren.» Mit Fehlverhalten ist die Vertuschung der Klimarisiken gemeint.


Die Desinformation der Öl- und Gas-Giganten

Das Verbrennen von Öl und Gas befeuert die rasante Erwärmung der Erde: Das ist heute eine Binsenwahrheit. Ebenso, dass Massnahmen gegen die Erwärmung dringend sind. Doch der Weg zu dieser Erkenntnis war lang – nicht zuletzt wegen der hartnäckigen Leugnung des Klimawandels durch die Öl- und Gasindustrie. Die Erdölbranche wusste spätestens seit den 1980er-Jahren sehr genau um die Folgen von Öl- und Gasverbrennung fürs Klima. Trotzdem gehörte die US-Ölfirma Exxon 2019 nicht nur zu den zehn grössten Unternehmen der Welt, sondern auch zu den grössten Klimaverschmutzern.
Gehen wir zurück ins Jahr 1979, ins Jahr der zweiten Ölkrise. Eine interne Exxon-Studie sagte voraus, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe in den kommenden Jahrzehnten «dramatische Auswirkungen auf die Umwelt haben wird». Die Schlussfolgerung im Bericht war deshalb: «Das potenzielle Problem ist gross und dringend.» Der wissenschaftliche Berater von Exxon warnte, dass es «ein Zeitfenster von fünf bis zehn Jahren gibt, bevor harte Änderungen in der Energiestrategie notwendig werden könnten».
«In den 1980er-Jahren gab es einen Konsens unter den Wissenschaftlern», zitiert der Recherchejournalist McGreal aus einer Gerichtsakte in einem Prozess gegen den Ölmulti Exxon. «Ein internes Exxon-Dokument von 1982 … erklärt ausdrücklich, dass die Wissenschaft sich einig war und dass der Klimawandel signifikante Veränderungen des Erdklimas mit sich bringen würde.»

Fakten leugnen statt handeln

Exxon finanzierte daraufhin erst ein aufwändiges Untersuchungsprojekt für Messungen von Kohlendioxgehalt in Luft und Wasser auf einem Supertanker. Aus den Daten erstellten die Wissenschaftler des Unternehmens 1982 Dokumente, die einen weltweiten Temperaturanstieg prognostizierten. Doch dann wurde das Projekt unvermittelt abgebrochen.
Daten, Prognosen und Warnungen zu dramatischen Klimaveränderungen lagen dem amerikanischen Ölgiganten also seit mindestens 40 Jahren vor. Eigentlich gab es aber bereits früher deutliche Erkenntnisse über die Risiken. So warnte ein leitender Angestellter von Shell 1958 den Erdöl-Handelsverband API vor erhöhten Kohlenstoffemissionen aus Autoabgasen. Forschungen führten dazu, dass ein Beratungsausschuss des Weißen Hauses in den 1960er-Jahren seine Besorgnis über «messbare und vielleicht deutliche Veränderungen des Klimas» bis zum Jahr 2000 äusserte. Auch API-interne Berichte wiesen auf «signifikante Temperaturver-änderungen» bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hin.
Trotz der eigenen Forschungsergebnisse arbeiteten die grossen Ölfirmen gemeinsam daran, die Ergebnisse unter dem Deckel zu halten und eine Gegenerzählung zu erfinden, um den wachsenden wissenschaftlichen Konsens in der Klimawissenschaft zu untergraben. Die Kampagne der fossilen Brennstoffindustrie war jahrzehntelang erfolgreich. Die Strategie der Erdölbranche: Unsicherheit säen, das öffentliche Verständnis für die Gefahren der globalen Erwärmung trüben, politische Massnahmen abwürgen.

Methoden der Tabakkonzerne

Im kritischen Bericht «America Misled» schreiben die Autoren, Exxon und anderen Ölfirmen hätten «eine systematische, organisierte Kampagne» geführt, «um Zweifel an der Wissenschaft zu säen und sinnvolle Massnahmen zu verhindern». Unter den Autoren ist die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes, die ein Buch über die Strategie der Tabakkonzerne geschrieben hat (Buchtitel: Merchants of Doubt).
Die Autoren beschuldigen die Energiekonzerne im 2019 erschienenen Bericht, «die Informationslandschaft zu verschmutzen», um einen wachsenden wissenschaftlichen Konsens anzugreifen: genehme Daten herauspicken, gefälschte Experten einsetzen und Verschwörungstheorien propagieren. Sie hätten das falsche Spiel der Zigarettenhersteller kopiert, die mit den gleichen Methoden jahrzehntelang Massnahmen gegen das Rauchen verhindert hätten. Viele zentrale Informationen, die Oreskes und auch «Guardian»-Autor Chris McGreal anführen, stützen sich auf interne Exxon-Dokumente, die an der Universität von Texas aufbewahrt werden und von der Columbia Journalism School und der Los Angeles Times bereits aufgedeckt wurden.

Strategie: Leugnen und Zweifel säen

In den Unterlagen findet sich zum Beispiel ein verräterisches Exxon-Memo von 1988, in dem eine Strategie für eine «ausgewogene wissenschaftliche Herangehensweise» dargelegt wurde – was bedeutet, harte Beweise und Leugnung des Klimawandels als gleichwertige Sicht anzuerkennen. Dieser Schachzug trug in Teilen der Medien bis in die 2000er-Jahre hinein Früchte: Die Ölindustrie erreichte, dass die globale Erwärmung in Politik und Gesellschaft als Behauptung wahrgenommen wurde statt als Tatsache.

1996 sagte der damalige Exxon-Geschäftsführer Lee Raymond zu Führungskräften der Branche, die wissenschaftlichen Beweise seien nicht eindeutig, «ob menschliche Aktivitäten das globale Klima beeinflussen». Es sei ein «grosser und gefährlicher Sprung, daraus zu schliessen, dass wir deshalb den Verbrauch fossiler Brennstoffe reduzieren sollten», sagte er. Es liegen Dokumente vor, dass Wissenschaftler seines Unternehmens dem Management davon abrieten, weiterhin so viel Öl und Gas zu verbrennen.
Exxon schaltete Anzeigen in grossen amerikanischen Zeitungen, um Zweifel zu säen. Eines der Inserate in der New York Times im Jahr 2000 verglich Klimadaten mit sich ändernden Wettervorhersagen. Titel des Inserats: «Unsettled Science». Darin wird behauptet, die Wissenschaft sei uneins, obwohl ein überwältigender Konsens für eine wachsende Klimakrise bestand. Aus dieser Falschaussage wurde abgeleitet, dass es wegen der angeblichen Zweifel noch zu früh zum Handeln sei.

Zeugenaussage vor dem Kongress: Exxon handelte unmoralisch

2019 musste Martin Hoffert, Professor für Physik an der New York University, zu einer Kongressanhörung antreten. Dort machte er Aussagen zu seiner Arbeit als Berater für Exxon. Er hatte in den 1980er Jahren an acht wissenschaftlichen Studien zur Klimamodellierung mitgearbeitet. Die Studien zeigten laut Hofferts Aussagen, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe «zunehmend einen wahrnehmbaren Einfluss auf das Klima der Erde» habe.
«Exxon postulierte öffentlich Ansichten, von denen wir, die eigenen Wissenschaftler wussten, dass sie falsch waren», so Hoffert. «Das war unmoralisch und hat die Bemühungen, den Klimawandel anzugehen, stark zurückgeworfen.» Exxon habe absichtlich Zweifel erzeugt, bestätigt der Professor. Sein Fazit zum Verhalten durch seines früheren Auftraggebers: «Meiner Meinung nach führt das wahrscheinlich dazu, dass Häuser und Lebensgrundlagen zerstört und Menschenleben verloren gehen werden.»
Exxon arbeitete zusammen mit Chevron, Shell, BP und kleineren Ölfirmen, um die Aufmerksamkeit von der wachsenden Klimakrise abzulenken. Sie finanzierten den Branchenverband API, als dieser einen millionenschweren Plan ausarbeitete, damit der Klimawandel durch Desinformation gar nicht erst zu einem Thema werde. Der Plan besagte, dass «der Sieg dann errungen ist», wenn «die Anerkennung von Unsicherheiten zur weitverbreiteten Erkenntnis wird».

Dieser Beitrag erschien zuerst auf INFOsperber.
Die täglich aktualisierte Online-Zeitung Infosperber, hinter der die gemeinnützige «Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information» SSUI steht, gibt es seit dem 21. März 2011.

Rolf Muntwyler
Rolf Muntwyler ist Journalist, Redakteur und Testleiter der Sendung "Kassensturz" des Schweizer Radio und Fernsehens (SRF)

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