Unsere Gesellschaft hält sich die Politik als Magd, beklagt und entrüstet sich aber gleichzeitig darüber, dass diese nicht wie eine Herrin auftritt. Politikerinnen und Politiker sollen erstens machen, was alle anderen wollen, zweitens sollen sie führen und lenken. Die Verwirrung auf beiden Seiten könnte kaum größer sein. Die Kandidierenden für machtvolle Ämter versprechen, dem Volke zu dienen. Die Wählerinnen und Wähler argwöhnen, dass die Versprechungen nur den Weg an die Fleischtöpfe der Macht ebnen sollen. Politik ist in der modernen Gesellschaft eine so anspruchsvolle, nachgerade paradoxe Aufgabe geworden, dass fast alle, die sich daran versuchen, irgendwann als Tölpel dastehen und sich von Klugscheißern in Wirtschaft, Wissenschaft und Medien vorhalten lassen müssen, sie könnten es halt nicht. Und die Politik selbst? Sie beruft sich auf nichts lauter und öfter als auf Freiheit und Demokratie – ohne zu merken, dass sie damit ihr beiden großen Abhängigkeiten feiert.
Ob im Guten oder im Bösen, was immer sich bis ins 18. Jahrhundert hinein in Europa ereignete, geschah im Namen des Herrn (oder als Versündigung gegen dessen Willen), sei es eines göttlichen Herrn oder eines weltlichen von Gottes Gnaden. Die bürgerlichen Revolutionen haben, wie unvollendet sie auch geblieben sein mögen, die gesellschaftliche Legitimationsbasis umgekehrt: Statt von oben muss der Segen jetzt von unten kommen. Demokratie heißt die Parole.
Seit dem 19. Jahrhundert fallen politische Entscheidungen immer öfter im Namen des Volkes; oder/und werden kritisiert, sie würden dem Willen des Volkes nicht gerecht, seien nicht demokratisch (genug). Ob Parlamentarier, Populisten oder Diktatoren, ob in Washington, Moskau Kairo, Peking oder Melbourne, im Namen des Volkes treten inzwischen alle auf, wie sehr antidemokratische Methoden (Unterdrückung der Opposition, Einschränkungen des aktiven und passiven Wahlrechts, manipulierte Wahlen etc.) in der Praxis auch um sich greifen mögen. Nur vom Volk Gewählte sollen an der Macht sein.
Freiheit heißt die andere Parole
Dass sich ihre Legitimationsbasis vom Himmel auf die Erde verlagert, ist die eine große Veränderung, die der Politik in der Moderne widerfährt. Zum anderen wird Politik herabgestuft, sie befindet sich jetzt auf Augenhöhe mit der übrigen Gesellschaft, steht gleichrangig neben anderen Leistungsfeldern. Ihr Zentrum, der Staat, bleibt zwar die einzige Instanz, die bindende Entscheidungen für alle treffen, also Gesetze erlassen und (notfalls mit Gewalt) durchsetzen kann. Aber die Politik thront nicht mehr allmächtig über den anderen Leistungsfeldern der Gesellschaft – dem Wirtschafts-, Rechts-, Bildungs-, Gesundheits-, Mediensystem etc. –, sondern diese genießen eine weitgehende Autonomie, haben ihre je eigenen Entscheidungsspielräume. Freiheit heißt die Parole.
Die Unterschiede zwischen alter Herrschaft und moderner Politik, zwischen Herrschenden und Regierenden sind allgegenwärtig – ohne dass sie im aktuellen Tagesgespräch hinreichend beachtet werden. Die Folgen der großen freiheitlich-demokratischen Transformation für die Handlungsmöglichkeiten des Staates und der jeweiligen Regierungen scheinen im öffentlichen Bewusstsein bis heute unbewältigt zu sein.
Im Schlepptau von Freiheit und Demokratie befinden sich zwei so herausragende moderne Phänomene wie die Menschenrechte und die Individualisierung. Machtinstanzen, mit wie viel Gewaltpotential auch immer gerüstet, sollen jetzt gegenüber allen Menschen unveräußerliche und unteilbare Persönlichkeits- und Freiheitsrechte respektieren. Politische Bestimmungen sollen in Koexistenz mit Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Personen und Organisationen funktionieren. Zum anderen verschiebt sich die Aufmerksamkeit für das Allgemeinverbindliche (Regeln und Rituale, Sitten und Gebräuche) zugunsten eines Interesses an einem individuellen Habitus und eigenen Entscheidungsmöglichkeiten; man könnte auch von einer Privatisierung des Alltags sprechen. Ihren persönlichen Lebensweg zu wählen und darauf voranzukommen, entsteht für die Einzelnen als Möglichkeit und Aufgabe zugleich; übrigens nicht nur für Personen, sondern auch für Organisationen.
Das Allgemeine hat sich vor dem Privaten zu rechtfertigen
Entstanden ist mit der freiheitlich-demokratischen Transformation ein Verhältnis zwischen dem Allgemeingültigen und dem Privaten, in dem zwar auch das (individuelle und organisierte) Private auf seine Allgemeinverträglichkeit hin beobachtet wird, aber zuvörderst hat sich das Allgemeine vor dem Privaten zu rechtfertigen. Der Fels, auf dem der Vorrang des Privaten steht, ist das Privateigentum. Das deutsche Grundgesetz ahnt, dass hier ein Problem liegen könnte: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Frommer lässt sich ein Wunsch kaum äußern, über Stein siegt Papier nur bei Schnick, Schnack, Schnuck.
Wem der Vorrang des Privaten noch nicht aufgefallen ist, kann in der Corona- und der Klimakrise erleben, wie er sich zu behaupten versucht. Aber er konnte längst allen auffallen, denn er zeigt sich im Dauerkonflikt zwischen Staat und Markt. Marktfans sehen darin einen Streit zwischen lästiger Pflicht und prächtiger Kür. Während die Staaten mit ihren bürokratischen Vorschriften überall im Weg stünden (Friedrich Merz kündigt schon wieder einmal an „das Land zu entfesseln„), böten die Märkte freie Wahlen. Von A wie Arbeitskraft über I wie Immobilie bis Z wie Zahnbürste könnten alle alles anbieten und alles nachfragen; und dank der Verrechnungseinheit Geld läuft es wie geschmiert. Im Namen des Marktes werde der Auftrag, im Namen des Volkes zu handeln, am besten erfüllt. Aber, jammert ein anderer Fan unter der Überschrift „Marktwirtschaft a. D.„, „das Vertrauen in jenen Mechanismus, der den Eigennutz der Bürger auf freien Märkten in das Gemeinwohl der Gesellschaft verwandelt, ist verloren gegangen“. – Dass Märkte ohne staatliche Regeln und Garantien im Wilden Westen enden, wird in Fußnoten anerkannt. Dass multinationale Konzerne und Investmentfonds mit staatlichen Regulierungen geradezu spielen, wird als Randphänomen abgetan.
Wer entscheidet, macht sich verantwortlich, muss Antwort geben können, warum die Entscheidung so und nicht anders getroffen wurde. Die Moderne durchzieht eine Scheidelinie, die allgemein verbindliche politische Entscheidungen und private Entscheidungen relativ scharf trennt. Weil beide Entscheidungsarten nicht gleichgültig nebeneinander existieren können, sondern Konsequenzen füreinander haben, sich also voreinander zu verantworten haben, entsteht die große politische Konfliktlinie zwischen Staat und Markt. Die einen bestehen darauf, vor allem hätten sich staatliche Entscheidungen gegenüber den Privaten, die anderen, vor allem hätten sich private Entscheidungen gegenüber der Allgemeinheit zu rechtfertigen.
Anlässlich des bevorstehenden 26. September mit den Wahlen zum Bundestag und zwei Landtagen (Berlin und Mecklenburg Vorpommern) wollen wir uns das Verhältnis zwischen Privatheit und Allgemeinheit (die politisch gesprochen „Gemeinwohl“ heißt) mit Blick auf die demokratische Wahl etwas genauer anschauen und fragen vorab: Weshalb werden Vorstände von Wirtschaftsunternehmen nicht von den Organisationsmitgliedern gewählt? Damit sie im Namen des Marktes jederzeit ohne Rücksicht auf Belegschaftsinteressen umsteuern können, mit neuen Techniken alte Qualifikationen abwerten, ihre Standorte verlagern, Arbeitsplätze vernichten, Innovationen realisieren und ganze Berufszweige ins Museum schicken können.
Weshalb wird Nonprofit-Organisationen, Verbänden, Vereinen, Parteien, immer wieder vorgeworfen, sie verhielten sich reformfeindlich, seien zu unflexibel, klebten an ihren alten Programmen und Strukturen? Weil sie ihre Mitglieder, von denen sie bezahlt und von deren Delegierten die Führungskräfte gewählt werden, mitnehmen und Austritte befürchten müssen, sobald sie unvermittelt innovativ werden. Verlassen wir die Organisations-, gehen wir wieder zurück auf die politische Bundes- und Landesebene.
Machtergreifung des homo oeconomicus
Wahlen sind „der Mechanismus, den eine Gesellschaft nutzt, um zu entscheiden, wie und von wem sie regiert werden möchte“ (Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, S. 167). Die Wahlstimme gründet auf dem Recht der freien Meinung und der Gleichheit der Wählenden: „one man, one vote“. Nichts verpflichtet Bürgerinnen und Bürger, über ihr Privatinteresse hinauszudenken und für ihre Meinungsbildung mehr zu berücksichtigen als ihr persönliches Wohlergehen. Im Begriff des Bürgers, das war die ursprüngliche Idee, ist eigentlich mitgedacht, dass er nicht nur als bourgeois, sondern auch als citoyen denkt, entscheidet und agiert; dass Bürgerinnen und Bürger bereit und in der Lage sind, ihr Privatinteresse im Lichte des Gemeinwohls abzuwägen. Davon blieb nach der gesellschaftlichen Machtergreifung des homo oeconomicus kaum etwas übrig.
Die Botschaften der Parteien lassen sich gegenwärtig insbesondere darin unterscheiden, ob sie die Selbstbezüglichkeit (die stellvertretende Tagesspiegel-Chefredakteurin Anna Sauerbrey nennt es Alltagsidiotie) der Einzelnen in sozialen und ökologischen Fragen bekräftigen. Oder ob sie einen Verantwortungsdiskurs führen, der es für möglich hält, dass nicht jedes Privatvergnügen einen Beitrag zum Allgemeinwohl leistet und nicht schon mit dem Hinweis hinreichend gerechtfertigt ist, dass es Arbeitsplätze schaffe.
Der entscheidende Punkt: Nur Parteien, die keine realistischen Aussichten haben, an die Macht zu kommen, können es sich leisten, Probleme zu thematisieren und Lösungen zu favorisieren, die den vorherrschenden Meinungen widersprechen. Immer wieder wird moniert, dass Regierende und alle, die es werden wollen, nicht mutig genug seien, unbequeme Notwendigkeiten auf die Agenda zu setzen – der häufigste Vorwurf an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist ganz einfach, niemand bleibt in einer politischen Demokratie 16 Jahre lang Regierungschefin, ohne den Mainstream zu bedienen. „Keine Experimente“ war und bleibt – schönen Gruß an den Kandidaten Scholz – das Erfolgsrezept demokratischer Wahlen. Kandidat Laschet präsentiert sein „Zukunftsteam“ unter dem Motto „Experten statt Experimente“.
Die ominöse Mitte
An der politischen Peripherie – wo sich immer wieder linke wie rechte Protest erheben, manchmal breit und laut, zum Teil auch gewalttätig – können alle möglichen Ideen propagiert werden, das zeichnet ein offen-pluralistisches Land aus. Aber wer an der Regierung ist und dort bleiben will, also sich unter allen Möglichkeiten für jeweils eine entscheiden, einen konkreten Beschluss fassen muss, wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, sich gegen die vermutliche Mehrheitsmeinung der Wählerschaft zu entscheiden. Deshalb tummeln sich alle Akteure mit realistischen Machtambitionen in einer, wenn auch nur eingebildeten, Mitte. In der Demokratie ist der Weg zur Macht erstens ein Anpassungsprozess an eben diese Mitte und zweitens ein Öffnungsprozess eben dieser Mitte für Problemsichten und Lösungen, die – wie die ökologische Frage – zunächst mit Kopfschütteln bedachte und als absurd zurückgewiesene Randerscheinungen waren. Diese ominöse Mitte steht nicht still und sie ist beeinflussbar, wie man nicht erst seit Donald Trump weiß.
Wie wenig begriffen ist, wie sehr freiheitlich-demokratische Verhältnisse Regierungshandeln binden, wird am vorübergehenden Primat der Politik in Krisenzeiten deutlich. In Krisen, wenn die Privaten (und seien es noch so große Organisationen) mit ihrem Latein am Ende sind, wird von der Politik erwartet, dass sie die Führung übernimmt. Was in der Krise praktikabel ist, so die oft gehörte und gelesene Forderung, müsse auch generell möglich sein. Aber Möglichkeiten zu beschwören, ohne die Realisierungsbedingungen zu reflektieren, ist Wünsch-dir-was-Politik.
In Krisen schauen alle auf die Regierung und verlangen, dass sie das Heft in die Hand nimmt und handelt. In normalisierten Zeiten (die es freilich immer weniger gibt, weil Krisen inzwischen normal sind) wird vom Staat wieder die gebotene Zurückhaltung erwartet. Die Politik hat sich wieder einzureihen, ist wieder eines neben und unter anderen Leistungsfeldern, hat aufmerksam zu beobachten, ob, wann und in welcher Angelegenheit sie erneut gerufen wird. Ob die ominöse Mitte sich vom Klimawandel hinreichend bedroht fühlt und anerkennt, dass er von unserer Arbeits- und Lebensweise verursacht wird – die Wahlergebnisse werden es zeigen.