Das grosse Tabu bei der deutschen Regierungsbildung

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Statt einer Dreierkoalition wäre auch eine Minderheitsregierung möglich. Doch das ist in Berlin keiner Debatte wert. Es wird in parlamentarischen Demokratien immer schwieriger, nach Wahlen eine Regierung zu bilden. Jüngstes Beispiel ist Deutschland: Das Politdrama nach den Bundestagswahlen vom 26. September 2021 wird noch einige Zeit auf dem Spielplan stehen und wohl noch viele spannende Szenen zu bieten haben.

Dabei hat Deutschland, verglichen mit anderen westlichen Staaten, noch halbwegs intakte Traditionsparteien. Doch auch da leiden die einstigen Volksparteien (SPD und CDU/CSU) unter Auszehrung, auch wenn die SPD bei den jüngsten Wahlen mit einem Zugewinn von 5,2 Prozentpunkten und einer Parteistärke von 25,7 Prozent als Wahlsiegerin gilt. Von der absoluten Mehrheit sind beide weiter entfernt denn je. Und die Grosse Koalition wird gar nicht mehr diskutiert, weil sie derart verbraucht ist, dass sie demokratiepolitisch nicht mehr zu legitimieren wäre.

Minderheitsregierung keine Seltenheit

Der allgemeine bundesrepublikanische Konsens lautet derzeit: Für eine stabile Regierung braucht es drei Parteien, entweder SPD, FDP und Grüne (Ampel-Koalition), oder CDU/CSU, FDP und Grüne (Jamaika-Koalition). Theoretisch gäbe es durchaus eine andere Lösung: eine Minderheitsregierung, eine Regierung also, die keine eigene Mehrheit im Parlament hat. Völlig exotisch wäre das nicht. Minderheitsregierungen sind zwar in Mitteleuropa kaum verbreitet, doch sie sind in Kanada und in Skandinavien gar nicht so selten. Am meisten Minderheitsregierungen hat Dänemark hervorgebracht. Von den 32 seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gebildeten Regierungen waren gemäss Wikipedia lediglich vier mit einer eigenen Mehrheit ausgestattet. 28 Regierungen waren auf die Unterstützung einer oder mehrerer Oppositionsparteien angewiesen. Begünstigt wird dies durch die dänische Verfassung, die bloss verlangt, dass eine Regierung nicht gegen den erkennbaren Willen der Parlamentsmehrheit regiert.

In Deutschland kennt man nur auf Länderebene einige Minderheitsregierungen, die länger als ein paar Monate im Amt waren. Auf Bundesebene gab es das bisher noch nie – abgesehen von kurzen Phasen nach dem Zusammenbruch einer Koalition. Nur einmal wurde das Thema in der Öffentlichkeit als mögliche Alternative zu einer Koalition diskutiert, als die Unionsparteien unter Angela Merkel in den Wahlen von 2013 mit 311 von 630 Bundestagsmandaten nur knapp an der Mandatsmehrheit vorbeigeschrammt sind.

Klimaforscher für Rot-Grün

Doch im neu gewählten Bundestag ist eine Minderheitsregierung realpolitisch kaum möglich, eine Debatte darüber wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Und trotzdem gibt es vereinzelt Stimmen, die diese Möglichkeit nicht ganz unter den Tisch fallen lassen wollen. Für den Klimaforscher Mojib Latif, Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome, könnte eine rot-grüne Minderheitsregierung «einen Versuch wert sein: Beim Klimaschutz sollte es ohnehin einen parteiübergreifenden Konsens geben. Es handelt sich schliesslich um eine existenzielle Frage, es geht um unsere Zukunft», sagt er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau.

Wieder aktiv um Mehrheiten ringen

In der Tat besteht die Gefahr, dass ein Dreierbündnis eher für Stillstand sorgen könnte als für frischen Wind. Denn die weit auseinanderliegenden Positionen, vor allem zwischen FDP und Grünen, werden wohl zu einem Koalitionsvertrag des kleinsten gemeinsamen Nenners führen. Gerade deshalb plädiert Stephan Hebel in der Wochenzeitung Freitag für eine rot-grüne Minderheitsregierung; sie würde der Demokratie guttun, findet er. «Die neue Unübersichtlichkeit des Parteiensystems, in dem kein ‘Lager’ mehr die Mehrheit hat, legt den Gedanken einer Minderheitsregierung erst richtig nahe.» Natürlich würde das mehr Unberechenbarkeit im Politbetrieb erzeugen. Die Regierung müsste wieder aktiv um Mehrheiten für Gesetze ringen, «was zwar in diesem Land allgemein als unzumutbar gilt, aber eigentlich zu den Kernelementen parlamentarischer Demokratien gehört.»

Kritik am parlamentarischen Automatismus

Stephan Hebel kritisiert die Automatismen im Parlament, auf welche sich Mehrheitsregierungen stützen können. In Wahrheit würden dadurch die Fundamente des parlamentarischen Systems ausgehöhlt. «Ein Bundestag, der zwar heftig debattiert, allerdings meistens über Ergebnisse, die schon vorher feststehen», gefährde die Wirksamkeit demokratischer Kontrolle. «Der Parlamentarismus hat dringenden Bedarf, lebendiger zu werden. Er muss wieder lernen, Entscheidungen aufgrund offener Debatten statt nach Vorgaben einer von Lobbys und Interessen beeinflussten Exekutive zu fällen. Er muss sich die Aufgabe stellen, mit krisenhaften Entwicklungen oder Impulsen aus der Zivilgesellschaft ohne Angst vor ‹wechselnden Mehrheiten› umzugehen. Er muss sich, kurz gesagt, demokratisieren.
Geschieht das nicht und verharrt das politische Personal in einer als ‹Stabilität› missverstandenen Bewegungslosigkeit, wird sich die jetzt schon klaffende ‹Repräsentationslücke› vergrössern, und die Akzeptanz für parlamentarische Entscheidungen wird weiter schwinden – eine Steilvorlage für die rechtsextremen Kräfte, die genau das wollen.»

Keine einbetonierten Kompromisse

Natürlich braucht es gerade bei Minderheitsregierungen eine hohe Flexibilität und die Fähigkeit, Kompromisse von Fall zu Fall und mit wechselnden Parteien auszuhandeln. Aber diese Kompromisse würden dann wenigstens nicht in Koalitionsverträgen einbetoniert, bevor überhaupt der Bundeskanzler gewählt ist. Übrigens: Auch für die Wahl eines Kanzlers oder einer Kanzlerin braucht es nicht zwingend die absolute Mehrheit im Bundestag, wie immer wieder stillschweigend vorausgesetzt wird. Absolute Mehrheiten sind zwar in den ersten beiden Wahlgängen nötig, aber im dritten Wahlgang reicht das relative Mehr; es gilt also jene Person als gewählt, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt.

Der Beitrag erschien zuerst auf infosperber.ch

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Jürg Müller-Muralt
Jürg Müller-Muralt war bei verschiedenen Medien als Redakteur tätig, unter anderem 16 Jahre bei der Schweizer Tageszeitung „Der Bund“.

2 Kommentare

  1. Richtig an diesen Überlegungen finde ich die Überwindung der platten Regierung und Opposition-Verbarrikadierung, bei der grundsätzlich fast alles der Gegenseite abgelehnt wird. Allerdings dafür wäre das Schweizer Modell viel geeigneter (eine Allparteienregierung und die Entscheidung von Grundsatzfragen durch die Wahlbürgerinnen). – Aber angesichts der massiven Herausforderungen dürfte eine Minderheitsregierung abwechselungsreiches, spannendes Nicht-Handeln bedeuten. Was ansteht sind tiefgreifende, auch für Teile der Gesellschaft schmerzhafte Entscheidungen, die schon allein am Bundesrat scheitern würden.

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