Ökonomisch kurzbeinig, politisch abhängig – wie weiter mit der deutschen Industrie

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Klima schützen, Deutschland digitalisieren! Darüber reden alle. Gut so. Dagegen wird ein ähnlich existentielles Problem komplett ignoriert: Die deutsche Wirtschaft ist extrem exportabhängig, deshalb sehr wackelig aufgestellt. Zu dieser wirtschaftlichen Schräglage kommt eine politische hinzu: Die wichtigsten Branchen wie Chemie, Auto und Maschinenbau sind von e i n e m Markt besonders abhängig: dem chinesischen. Einen Großteil des hiesigen Wohlstandes, um den sich jetzt wg. Klima alle so sorgen, verdanken wir einem unheilvollen Pakt mit einer zunehmend imperialistisch sich gerierenden Diktatur. Wäre das nicht mal ein Gespräch wert, wie diese verhängnisvolle Abhängigkeit verringert werden könnte?

Die Fakten belegen seit langem diese doppelte Schräglage. Aber auch im eben zurückliegendem Wahlkampf war dieses Thema nicht existent. Selbst in den länglichen bis langen Wahlprogrammen wurde es bestenfalls am Rande und dann auch noch in verschwurbelter Sprache erwähnt. Dieselbe Ignoranz wird bisher auch in den Sondierungen und vermutlich später in den Verhandlungen gepflegt.

Einige Beispiele: Etwa zwei Drittel aller Autos werden exportiert. Bei Maschinen und Chemie-Produkten ist der Exportanteil ähnlich hoch. Vor allem für die Autobranche steigt und steigt dabei die Bedeutung von China. Vier von zehn Neuwagen werden nach China exportiert, ergab jüngst eine Studie des Center Automotive Research; so verkauften VW, Daimler und BMW im Jahr 2020 knapp 40 Prozent ihrer Neufahrzeuge nach China. Die Prognose der Fachleute: Diese Abhängigkeit wird weiter steigen. Das gilt im Prinzip auch für Chemie-Unternehmen, Maschinenbauer und Sportartikelhersteller.

Im Jahr 2020 wurden Waren im Wert von etwa 213 Milliarden Euro zwischen Deutschland und der Volksrepublik China gehandelt (Exporte und Importe). Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, war damit die Volksrepublik China im 2020 zum fünften Mal in Folge Deutschlands wichtigster Handelspartner (Volumen der Importe und Exporte). Entscheidend ist dabei die Tendenz: Zwar bleiben die USA mit einem Anteil an den deutschen Exporten von 8,6 Prozent auch 2020 der größste Absatzmarkt Deutschlands. China liegt jedoch mit acht Prozent dicht dahinter. Sein Anteil hat sich seit 2005 (noch 2,7 Prozent) knapp verdreifacht.

Unser Wohlstand! Der Diktatur sei Dank

Die Exportüberschüsse waren zumindest bisher der ganz große Stolz — für eine nationale Wirtschaftsfront aus Unternehmern, Wirtschaftswissenschaftlern, Industrieverbänden, meinungsmachenden Publizisten, Politikern aller Parteien und den beiden Industriegewerkschaften IG BCE und IG Metall: Wir sind die Wettbewerbsfähigsten auf der ganzen Welt! Eine exotische politische Mischung aus Nationalismus und Weltoffenheit. Unter der Flagge von Freihandel, Internationalismus und Globalisierung wurde eine bedingungslose Exportstrategie als nationales Ereignis gefeiert; Germany first schon lange bevor irgendein Trump, gewiss auch aus anderen Gründen, America first ausrief.

Das heißt: Der hiesige Wohlstand hängt in extrem hohem Maße davon ab, wie sich weltweit die Märkte entwickeln. Und liegen wichtige Märkte in Diktaturen, wird der deutschen Politik nichts anderes übrigbleiben, als diese — auch auf Druck der Konzerne, deren Betriebsräten und Gewerkschaften, vor allem eben der IG BCE und IG Metall, denn beide organisieren die vergleichsweise sehr gut verdienenden Beschäftigten in den Exportbranchen — politisch zu hofieren; ob diese Diktaturen Demokratien bekämpfen, Menschen unterdrücken…, das ist dann eben so. An der bisherigen China-Politik der Merkel-Regierungen ist das gut abzulesen.

Das ist auch der wesentliche Grund, warum Verantwortliche und Einflussreiche diese doppelte wirtschaftliche und politische Abhängigkeit nur selten überhaupt ansprechen; und wenn, dann nur verharmlosend. Mit dieser wuchtigen Phalanx aus Konzern- und Gewerkschaftsinteressen will niemand den Konflikt wagen.

Die Export-Strategie mit ihren kurzen Beinen

Aber das ist sogar allein aus egoistischen Gründen fahrlässig ist, wie Peter Kern belegt. Er legt in seinem profunden China-Text nicht nur den Charakter der KP China dar und präzisiert die Abhängigkeit der deutschen Industrie, sondern analysiert auch neuerliche Autarkie-Tendenzen der chinesischen Wirtschaftspolitik. Also auch denjenigen, denen Demokratiefeindlichkeit und Menschenunterdrückung egal sind, müsste allmählich klar werden, dass die Export-Strategie der deutschen Industrie — und auch der deutschen Wirtschafts- und Industriepolitik, welche die jetzigen Verhältnisse stützt — sehr kurze Beine hat.

Es müsste also Ziel einer neuen deutschen Industriepolitik sein, zügig und machbar die Wirtschaft, vor allem die Industrie, neu auszubalancieren: die Binnenmärkte und die geografisch nahen europäischen Märkte stärken, die Bedeutung der anderen Märkte mindestens relativ deutlich verringern. Den Unternehmen lediglich zu helfen, sich technisch zu modernisieren, wie es diese und die Gewerkschaften fordern, und die bestehenden Grundstrukturen damit zu stabilisieren und nicht deutlich zu korrigieren, hieße verhängnisvolle Schräglagen zu stabilisieren.

Der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Dullien, heute Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), fordert für Deutschland schon seit Jahren „ein neues Wachstumsmodell“: Die Exportabhängigkeit sei ein „Verhängnis“. Seine These: Dieses Modell sei gefährlich, weil es weltweit Krisen auslöse. Exportländer wie Japan, China und Deutschland hätten enorme Überschüsse, andere Länder wie Spanien, Großbritannien und die USA hätten entsprechend hohe Defizite. Seine Schlussfolgerung: In Deutschland müsse die Binnen-Wirtschaft viel stärker als die Export-Wirtschaft wachsen. Viele Wissenschaftler, die im Prinzip der Schule des Keynesianismus folgen, wie Gustav Horn, Heiner Flassbeck, Peter Bofinger, beispielsweise auch der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch („Deutschlands Wirtschaft steht nur auf einem Bein“) oder der Sozialökonom Till van Treeck („So macht Deutschland seine Handelspartner zu Schuldnern“) stützen schon immer diese Position. Sie bleiben aber bis heute eine Minderheit.

Die Stimmung änderte sich zeitweilig, weil der externe Schock des Corona-Virus auch einer breiteren Öffentlichkeit offenbarte, wie fragil das System konstruiert ist, das bisher relativ reibungslos „unseren Wohlstand“ produziert hat. Auch wurde offenbar, dass die EU in ihrer Versorgung mit Medikamenten, pharmazeutischen Grundstoffen und weiteren Gesundheits-Produkten in sehr hohen Maße Produzenten in Indien und vor allem China ausgeliefert ist.

Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, prognostiziert deshalb: „Die Zeiten hoher deutscher Leistungsbilanzüberschüsse sind wohl vorüber.“ Sogar Michael Hüther, Direktor des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), will das Konzept der Globalisierung „einer kritischen Neubewertung unterziehen“.

Das bedeutet aber: Es muss eine aktive Industriepolitik geben, die sich die Aufgabe stellt, der deutschen Industrie zu einer neuen Balance zu verhelfen, so dass sie stabil auf zwei Beinen steht und nicht vor allem auf dem einen der Exportwirtschaft.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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