Friedensnobelpreis und Kanzlerschaft: Tut um Gottes Willen etwas Tapferes

Foto: Holger Ellgaard auf wikimedia commons

Der Koalitionsvertrag der Ampelparteien knüpft mit seinem Motto: „Mehr Fortschritt wagen“ an das berühme Versprechen Willy Brandts in seiner ersten Regierungserklärung 1969 an: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Es gibt aber noch ein zweites Zitat aus dieser Rede, das in Erinnerung geblieben ist: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Für die Umsetzung dieses Versprechens ist Willy Brandt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Die Übergabe des Preises fand am 10. Dezember 1971 in der Universität von Oslo statt. Fast auf den Tag genau 50 Jahre später wurde Olaf Scholz zum Bundeskanzler gewählt und berufen.

Olaf Scholz, der vierte sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik, hat sich auf dem jüngsten SPD-Parteitag bewusst in diese Tradition gestellt. „Auch das war ein Aufbruch“, erinnerte er, „und das soll uns wieder gelingen!“ Wenn er diesen Anspruch ernst meint, wird er beide Seiten des Brandt’schen Aufbruchs ins Auge fassen müssen: mutige innenpolitische Reformen ebenso wie entschlossene außenpolitische Initiativen.

Gleichgewicht des Schreckens

Als Willy Brandt und Walter Scheel 1969 die erste sozialliberale Bundesregierung bildeten, war Deutschland geteilt, die Supermächte USA und Sowjetunion wahrten ein fragiles Gleichgewicht des Schreckens, in Vietnam tobte ein blutiger Krieg als Teil dieser Systemauseinandersetzung und Europa erstarrte im Kalten Krieg. In Deutschland herrschte ein aufgepeitschtes politisches Klima. Die CDU/CSU fühlte sich als stärkste Fraktion um den Wahlsieg betrogen und sann dank einiger Überläufer auf den Sturz des Kanzlers, unterstützt vom Trommeln der Springer-Presse. 

Wenn wir heute die Pandemie als größte Krise seit der Nachkriegszeit erleben, so zeigt der Blick 50 Jahre zurück doch, dass auch damals politisch keine einfachen Zeiten herrschten. In dieser Situation ergriff Willy Brandt die Initiative für eine neue Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und Polen. Gegenseitiger Gewaltverzicht, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze, intensivere Kontakte mit Ost-Berlin waren die ersten Schritte. Das Nobelpreiskomitee stellte in der Begründung für die Preisverleihung fest:

„Bundeskanzler Willy Brandt hat als Chef der westdeutschen Regierung und im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnungspolitik zwischen alten Feindländern ausgestreckt. Er hat im Geiste des guten Willens einen hervorragenden Einsatz geleistet, um Voraussetzungen für den Frieden in Europa zu schaffen.“

Wer wie Olaf Scholz sich in die Tradition Willy Brandts stellt, wird sich daran messen lassen müssen, auch und gerade im Blick auf das damals wie heute so prekäre Verhältnis zu Moskau. Im neuen Koalitionsvertrag ist sehr weit hinten zu lesen: „Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig. Russland ist zudem ein wichtiger internationaler Akteur. Wir wissen um die Bedeutung von substantiellen und stabilen Beziehungen und streben diese weiterhin an. Wir sind zu einem konstruktiven Dialog bereit.“ Auf einen „hervorragenden Einsatz“ lassen diese schlichten Formulierungen nicht schließen.

Der anspruchslose Herr Maas

Am Tag nach der Preisverleihung hielt Brandt am 11. Dezember 1971 an der Universität von Oslo eine Grundsatzrede, in der er die Leitlinien seiner Politik erläutert hat. Manches klingt wie ein Kommentar zu den Formulierungen des Koalitionsvertrages: „Außenminister Walter Scheel und ich lassen uns davon leiten, dass es nicht genügt, friedfertige Absichten zu bekunden, sondern dass wir uns aktiv um die Organisation des Friedens zu bemühen haben.“ Reden heiße verhandeln, mit der Bereitschaft zum Ausgleich, nicht zu einseitigen Konzessionen. „Aktive Friedenspolitik bleibt ein langfristiger Test unserer geistigen und materiellen Lebenskraft.“

Auch das bis heute vorgebrachte Argument, die Bundesrepublik könne im Machtkampf der Großmächte keine besondere Rolle spielen, nahm der damalige Kanzler auf, und er sprach noch von einem geteilten Land. „Die Bundesrepublik kennt die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Mit dieser Einsicht verbunden ist das Bewusstsein, dass sie durchaus auch Macht hat und eine Macht ist – sie versteht sich mit allen ihren Kräften als eine Friedensmacht. Der Übergang von der klassischen Machtpolitik zur sachlichen Friedenspolitik, die wir verfolgen, muss als der Ziel- und Methodenwechsel von der Durchsetzung zum Ausgleich der Interessen begriffen werden. Dies erfordert Selbstüberwindung, Sachlichkeit und keine weniger sichere Einschätzung politischer Kräfte und Möglichkeiten, als sie die klassische Machtpolitik verlangt“.

Wann hätte man in den vergangenen Jahren einen verantwortlichen deutschen Politiker so grundsätzlich über Prinzipien der internationalen Politik sprechen hören? Aktive Friedenspolitik ist der Maßstab, den der erste sozialdemokratische Kanzler (und Außenminister) für seine Nachfolger gesetzt hat. Der vorerst letzte sozialdemokratische Außenminister hatte ausdrücklich erklärt, nicht wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten zu sein. So anspruchslos hat Heiko Maas das Amt dann auch geführt.

Es ist sehr zu wünschen, dass der neue sozialdemokratische Kanzler nun außenpolitisch so beherzt zu Werke geht, wie sein erster Vorgänger vor 50 Jahren. Also mehr zu tun, als nur Friedenswillen zu bekunden. Sondern sich aktiv um dessen Gestaltung zu bemühen. Deutschlands Gewicht in der Welt als Friedensmacht zu nutzen.

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Holger Schmale
Holger Schmale war dpa-Korrespondent in den USA und Leiter des Bundesbüros der Berliner Zeitung. Er schreibt heute als Autor vor allem über Bundes- und internationale Politik sowie historische Themen. Er ist u.a. Co-Autor des Buches „Die Kanzler und ihre Familien“, 2017 bei DuMont erschienen.

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