Vor hundert Jahren knüpfte Leo Trotzki das Gelingen des Sozialismus an die permanente Revolution. Daraus wurde nichts. In der Gegenwart knüpft der oberste Funktionär der deutschen Universitäten und Fachhochschulen, der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Peter-André Alt, an den revolutionären Russen mit einem steilen Vergleich an. „Die deutsche Hochschulpolitik bietet das Bild eines weichgespülten Trotzkismus,“ schreibt er in dem Buch „Exzellent!?“ und fährt fort: „sie folgt dem Modell der permanenten Reform. Seit 50 Jahren wird an Institutionstypen, Karrierewegen, Qualifikationsprofilen und Lehrplänen herumgeschraubt, als handele es sich um beliebig einsetzbare Bauteile.“ Gleichwohl könne die deutsche Universität jeden Vergleich mit den englischen und amerikanischen Hochschulen bestehen, lautet Alts verblüffendes Urteil. Exzellent eben, ohne Fragezeichen. Ein erstaunlich abrupter Befund nach über zweihundert Seiten Beschreibung eines permanenten Niedergangs.
Alt, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und von 2010 bis 2018 Präsident der Freien Universität Berlin, überspitzt in dem mit Zahlen und Fakten gespickten Buch zur Lage der deutschen Universität nicht nur gerne, sondern schmückt den knapp 300-Seiten-Band auch mit vielen Zitaten von Wilhelm von Humboldt, Karl Jaspers, Helmut Schelsky, Jürgen Habermas und immer wieder Niklas Luhmann. Sie sind seine geistigen Kronzeugen für die Unklarheit der Mission der Universität in der Gegenwart und ihrer Geschichte ab den frühen 1950 er Jahren.
Holzschnitt-Bild der Nachkriegsgeschichte
Diese Geschichte rafft er auf Seite 73 in zehn Zeilen zusammen: „Die habituelle Egozentrik des machtbewussten Ordinarius der fünfziger Jahre, der nicht mehr forschte, sondern sich nur in öffentlichen Auftritten inszenierte, führte ebenso von dieser Mission fort wie die Politisierung der siebziger Jahre, die akademische Gremien für weltanschauliche Bekenntnisse und eine Mikrostrategie der Allzuständigkeit nutzte. Und der monotone Massenbetrieb der achtziger Jahre mit gleichgültigen Professoren und unverbindlichen Curricula stand den Zentralaufgaben guter Lehre und Forschung ähnlich fern wie die permanent vermessene, zu Tode evaluierte Ankündigungsuniversität nach der Jahrtausendwende.“
In diesem Holzschnitt-Bild der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte tauchen die Entlassungen von jüdischen oder sozialdemokratischen Professoren nach 1933 ebenso wenig auf wie das Sitzenbleiben ihrer NS-genehmen Nachfolger auf den Lehrstühlen nach dem Zweiten Weltkrieg und deren beherrschende Stellung in den Standesvereinen bis weit in die sechziger Jahre hinein. „Habituelle Egozentrik“, welch eine freundliche Umschreibung für den nahtlosen Karriereweg von Juristen, Medizinern oder Historikern in den Universitäten der fünfziger Jahre.
Dafür trifft die Generation, die mit den ersten Hochschulgesetzen in Berlin, Hessen, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen demokratische Elemente in den Universitätsverfassungen verankern wollten, eine verächtliche Herablassung. Es kostet den Hochschulfunktionär Alt nichts, die Gremienuniversität ebenso lächerlich zu machen wie die Versuche, die Professoren-, Assistenten- und Studentenschaft mit einer Drittelparität an Lehre und Forschung zu beteiligen. Er zieht über Jürgen Habermas und dessen Reden aus dem Jahr 1968 her, ergötzt sich daran, dass der nichthabilitierte Rolf Kreibich, der erste demokratisch gewählte Präsident der FU, sich Anfang der siebziger Jahre doch gezwungen sah, gegen Institutsbesetzungen durch linksextreme Studenten die Polizei auf den Campus zu rufen. Wie viele aus seiner Zunft registriert er zufrieden das Scheitern der Gesamthochschule. Niemand aus dieser Generation kann sich gegen diese inzwischen verbreiteten Diffamierungen wehren, die meisten der engagierten Hochschulreformer in der Universität und in der Politik leben nicht mehr. Wissenschaftliche Redlichkeit sähe anders aus.
Mit der professoralen und gymnasialen Klientelpolitik der Unionsparteien oder der letztlich zaghaften Sozialdemokratie, die nach zermürbenden Kampagnen gegen die Gesamtschule wie „Stoppt Coop“ in NRW und Wahlniederlagen in Hessen ihre eigenen Bildungsreformen Schritt für Schritt zurückstutzte und ihre Repräsentanten wie Ludwig von Friedeburg fallen ließ, setzt sich Alt nicht auseinander. Die außerparlamentarische „Begleitung“ der Schul- und Universitätskämpfe – keineswegs nur durch linksradikale, lautstarke Gruppen wie die MG (Marxistische Gruppe), sondern durch konservative Medien (Politmagazine aus Mainz und München sowie die FAZ), erwähnt er nicht.
Stattdessen wird der trotzköpfige bis reaktionäre „Bund Freiheit der Wissenschaft“ für ihn zum Hort enttäuschter (Hochschul-)Liberaler: Für einen Sozialdemokraten wie den jüdischen Emigranten Richard Löwenthal von der FU galt das zeitweilig, nicht aber für die westdeutschen Professoren aus Konstanz, Heidelberg und Köln. Uninteressant findet der oberste Lobbyist der Präsidenten und Rektoren offenkundig auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den siebziger Jahren. Auf die wegweisenden Urteile zu den Zulassungsbeschränkungen („am Rande des verfassungsmäßig Hinnehmbaren“) und damit zur Öffnung der Universitäten für mehr Chancengleichheit oder zur Besoldung, die die unterschiedliche staatliche Alimentierung von Professoren in Universitäten und Fachhochschulen beziehungsweise Gesamthochschulen zementierten, geht er nicht ein.
Auch unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl schwebt Alts Universität in einem seltsam luftleeren Raum. Die von den Unionsparteien und dem Kanzler selbst angefeuerten Kampagnen über eine angebliche Akademikerschwemme, den promovierten Taxifahrer und ein akademisches Proletariat bleiben ausgeblendet. Woran Alt den „monotonen Massenbetrieb“ und die gleichgültigen Professoren erkannt haben will, erklärt er nicht. Die für die Studenten und Studentinnen aus bildungsfernen Schichten einschneidende Kurskorrektur der staatlichen Ausbildungsförderung (kurz Bafög) hin zu einem rückzahlbaren Darlehensmodell interessiert Peter-André Alt nicht. In seinem forschen Durchmarsch durch die westdeutsche Universitätsgeschichte hält er nur kurz im Jahr 1990 inne. Auf neun Seiten hakt er die Abwicklung der DDR im Hochschulbereich ab.
Neustrukturierung in Ostdeutschland
Aufschlussreich sind seine Hinweise, dass einige Universitäten „die Gunst der Stunde“ genutzt hätten, „um neue Formen der Mitbestimmung zu erproben“ (S. 41). Was er für den Westen nach 1968 entschieden als Politisierung zurückgewiesen hatte, lobt er nach 1990 im Osten. Die Bereitschaft, Unkonventionelles und Neues zu versuchen, in Fragen der Gremienarchitektur, Institutsordnung und Berufungspraxis zu experimentieren, sei groß gewesen. So habe man in Rostock für den Akademischen Senat eine modifizierte Drittelparität eingeführt, die die CDU-Regierung im neuen Landeshochschulgesetz allerdings wieder kassiert habe. Zu der „rigiden Entlassungspraxis“ an den Hochschulen und Wissenschaftlichen Akademien liefert Alt wichtiges Zahlenmaterial, aus dem er folgert: „Wer zu alt war, hatte keine große Chance, aktiv an der Neugestaltung der akademischen Landschaft teilzunehmen“. „Zu alt“ hieß in der Praxis jenseits des 60. Lebensjahrs.
Das Tempo der Umwandlung und Neustrukturierung in Ostdeutschland verblüfft den Hochschulfunktionär. Zwischen 1990 und 2006 stellte die Bundesrepublik 7,5 Milliarden Euro für den Hochschulbau in den neuen Ländern bereit, erläutert Alt. Es entstanden 15 Universitäten und 21 Fachhochschulen, die heute für Studenten und Studentinnen attraktiv seien, im Gegensatz zu den immer noch gepflegten Vorurteilen über das Abgehängtsein. Dennoch stellt Alt nach 30 Jahren eine Bringschuld der Wissenschaft fest: „Dringend erforderlich wäre ein umfassendes, interdisziplinäres Forschungsprojekt, das die Universitätsentwicklung seit der Wende aufarbeitet.“ Wie wahr: Es sollte für den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz ein Leichtes sein, ein solches Projekt auf den Weg zu bringen.
Doch in seinem Buch wendet sich Alt nach den neun Seiten zur DDR-Abwicklung wieder den westdeutschen Universitäten zu und den Zustandsbeschreibungen Mitte der neunziger Jahre, in denen ein SPD-Politiker wie Peter Glotz eine Streitschrift mit dem Titel „Im Kern verrottet?“ veröffentlichte. Mit ihr und ihrem Autor sieht Peter-André Alt die neoliberale Revision heraufziehen, die bis heute nachwirke. Das ist eine groteske Zuschreibung für den scharf formulierenden ehemalige Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, den Berliner Wissenschaftssenator und Gründungsrektor der Universität Erfurt.
Glotz warf den Professoren seiner Zeit geistige Mittelmäßigkeit und fehlende Courage vor. Er vermisste eine Idee für die Institution am Ende des Jahrhunderts. Die Streitschrift lässt sich als eine Kapitulation der Politik lesen, denn Glotz legte Managementkonzepte vor, die den Hochschulen die Verantwortung übertrug, über Globalhaushalte, Drittmitteleinwerbung, Auswahl der Studenten oder gar Erhebung von Studiengebühren zu entscheiden. Was die Politik in zwanzig Jahren nicht geschafft hatte, sollten die Universitäten nun selbst organisieren.
Dem klugen Denker und praktischen Hochschulpolitiker Peter Glotz war die Geduld mit den reformunwilligen Privilegienbewahrern, aber auch mit einer an der Institution Universität eigentlich uninteressierten Studentenschaft abhanden gekommen. Mit seiner zornigen politischen Abrechnung eckte Glotz in der eigenen Partei vor allem mit dem Thema Studiengebühren an (der spätere rotgrüne Versuch unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, sie gesetzlich zu verbieten, scheiterte am Bundesverfassungsgericht, das den universitären Wettbewerb befürwortete, Gebühren von 500 Euro pro Semester für angemessen hielt und zu Versuchen ermunterte.).
Diesen Weg des „weichgespülten Trotzkismus“ und „neoliberalen Revisionismus“ bei Alt nachzulesen, mag bei Zeitgenossinnen oder Zeitgenossen einen Nachdenkprozess auslösen und einen Gang ins eigene (Gedächtnis-)Archiv befördern, führt aber ein Vierteljahrhundert später nicht zu der Kernfrage des Autors, was denn 2021 die Mission der Universität sei. Ein Blick in das Grundgesetz könnte den Verfasser lehren, dass es nicht um eine Botschaft, Mission oder „verborgene Idee“ (S.74) geht, sondern um einen gesellschaftlich verpflichtenden Auftrag: die Freiheit von Forschung und Lehre zu verbinden mit der Freiheit der jungen Generation, Ausbildungsstätte und Beruf frei zu wählen. In der Wissensgesellschaft und mit der zunehmenden Akademisierung vieler Berufe hat der Elfenbeinturm als Rückzugsort einsamer Denkerinnen und Denker, die der Staat aus Steuermitteln angemessen alimentiert, ausgedient. Im Übrigen: Wenn es diese Menschen noch geben sollte, dann sind sie in eigenständigen, auch privatfinanzierten Instituten oder Gesellschaften außerhalb der Universitäten eingebunden. Oder längst „Emeriti“, im professoralen Ruhestand, wie der heute gefeierte 92jährige Jürgen Habermas.
Die „Mission“, die Alt für die Hochschulen des 21. Jahrhundert verkündet, ist wenig anspruchsvoll oder gar originell: weniger Studenten und Studentinnen, eine Berufungspraxis, die ausschließlich über die Bewährungszeit als Juniorprofessor oder Juniorprofessorin erfolgen sollte, eine sensible Hochschulleitung und schließlich weniger Menschen in den Universitäten, die einen Doktortitel anstreben. „Wozu benötigen wir 174 000 Doktoranden?“, fragt er (S.204), in dessen Amtszeit als Präsident der FU auch der Fall der Politikerin Franziska Giffey fiel. Zu dem für die „Doktormutter“ wie die Universität insgesamt mehr als blamablen Verfahren von der eigentlichen Promotion bis zur zweimaligen Überprüfung schreibt Alt direkt nichts. Aber er findet Entschuldigungen und fordert jetzt eine strikte Begrenzung: es sollten nur diejenigen promovieren dürfen, die an einer wissenschaftlichen Karriere interessiert und dafür auch geeignet seien. Die Doktoranden-Betreuung habe längst kritische Ausmaße angenommen. „In manchen Fachdisziplinen sind Professorinnen und Professoren für mehr als 30 Promovierende zuständig. Eine anspruchsvolle Mentorierung kann bei solchen Relationen nicht erwartet werden.“ So schlicht hakt Peter-André Alt den Fall Giffey ab, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer denn die Eignung für eine wissenschaftliche Karriere feststellen sollte.
Zu seinen Beschreibungen der „verborgenen Idee“ gehört das umfangreichere Schlusskapitel mit einem internationalen Vergleich. Die deutsche Universität, ihre Institute und wissenschaftlichen Gesellschaften (Max-Planck zum Beispiel) könnten den permanenten Reformen zum Trotz jeden Vergleich mit den englischen und amerikanischen Hochschulen bestehen, lautet sein verblüffendes Urteil. Exzellent eben, ohne Fragezeichen. Ein erstaunlich abrupter Befund nach über zweihundert Seiten Beschreibung eines permanenten Niedergangs. Ob sich irgendein weichgespülter Trotzkist im Talar der Exzellenz in diesem befremdlichen Bild wiedererkennt?
PS: Befremdlich ist auch der Umgang des C.H.Beck-Verlages mit der Rezensentin: Die Bitte um ein gedrucktes Exemplar, darunter eine persönliche Anfrage auf der Buchmesse, blieb unbeantwortet. Auf zwei Nachfragen kam schließlich kommentarlos eine Mail mit einem Link auf die PDF-Datei des Buches. Desinteressierter und unhöflicher geht es kaum noch.
Die Rezension erschien unter dem Titel „Weichgespülter Trotzkismus“
zuerst auf Faustkultur