Rechtsruck im Land der bürgerlichen Revolution

Es ist wie vor dem Start einer Weltraumrakete: Die französischen Medien von Paris bis Marseille zählen die Tage und heizen den Countdown immer weiter an. In hundert, neunzig, achtzig Tagen steht die „présidentielle“ an, die erste Runde der Wahl eines neuen Präsidenten der Republik am 10. April. Der Amtsinhaber, Emmanuel Macron, hält sich immer noch bedeckt, ob er wieder antritt, lässt aber seine „Macronisten“ misstrauisch beobachten, wie die Schar der Kandidatinnen und Kandidaten, es ist zur Zeit fast ein Dutzend, sich formiert. Und wer ihm gefährlich werden könnte – jenseits der wütenden Pandemie, der Lehrerstreiks und der geschlossenen Schulen.

Das ist seit Anfang Dezember eine Frau: nicht etwa Marine le Pen vom weit rechten Rassemblement Nationale (RN), sondern Valérie Pécresse, die Präsidentin der Pariser Großregion Île de France. Sie gehört zur „politischen Familie“ der Konservativen, deren Partei schon viele Namen hatte, zur Zeit nennt sie sich „die Republikaner“. Pécresse setzte sich in den von ihr durchgedrückten Vorwahlen überraschend klar gegen vier Männer durch, in der Stichwahl gegen Éric Ciotti, den Rechtsaußen der Republikaner aus Südfrankreich. Der wiederum ist mit dem Polemiker und mehrfach wegen Rassismus und Hetze zu Geldstrafen verurteilten Journalisten Éric Zemmour nicht nur politisch befreundet, einem weiteren Kandidaten der extremen Rechten, dem die Medien bisher als dem eigentlichen Herausforderer Macrons Bedeutung verliehen. Nach den jüngsten Umfragen, “le monde” 23./24. Januar, liegen le Pen und Pécresse mit 15,5 Prozent gleichauf. Zemmour wollen 13,5 Prozent in der ersten Runde wählen. Macron bleibt (ohne Kandidaturerklärung) bei 25 Prozent. Zur Wahl gehen wollen 66 Prozent der Befragten, das sind fünf Prozent mehr als bei der Befragung im Dezember.
Das heißt im Klartext, dass bis zu 45 Prozent der Wählerinnen und Wähler im ersten Wahlgang konservativ bis rechtsextrem wählen wollen. Die sieben, möglicherweise acht Kandidatinnen und Kandidaten der völlig zersplitterten Linken spielen nach den Umfragen keine Rolle.

Büro des Präsidenten der Französischen Republik im Élysée Palast
(Foto: Dorian Corrado auf wikimeedia commons)

Was ist das für eine Konstellation bei unseren Nachbarn? Und wer sind Pécresse und Zemmour, eine Kandidatin, ein Kandidat, die hierzulande eher unbekannt sind und deren Bücher, vor allem die Zemmours, kein deutscher Verlag bisher für übersetzungswürdig befunden hat?

Ziel: Revanche für den Machtverlust

Zunächst Valérie Pécresse, die, käme sie in die zweite Runde am 24. April, Macron durchaus schlagen könnte: Wer am 14. Juli (1967), dem Natonalfeiertag, im piekfeinen Pariser Vorort Neuilly geboren wurde, hat in der französischen Klassengesellschaft unschätzbare Vorteile. Mit 16 Jahren macht Pécresse in einem katholischen Privatgymnasium ihr Abitur: Die vielbeschworene laizistische Schule der Republik ist für die Kinder aus diesen Schichten nichts (kleiner Vorgriff: Das gilt auch für Éric Zemmour, der eines der bekanntesten jüdischen Gymnasien besuchte). Mit 27 Jahren hat sie die Kaderschmieden für Führungseliten, die Hohen Schulen des Handels und der Administration (kurz: ENA), durchlaufen und ist Mitglied des Staatsrats (conseil d’etat).
Ihre politische Karriere beginnt Mitte der 1990er Jahre mit dem Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, der 1995 überraschend zum Präsidenten gewählt wird: Sie wird zu seiner politischen Beraterin befördert, später in den Kabinetten von François Fillon zur ersten Hochschulministerin und dann zur Nachfolgerin von Christine Lagarde, zuständig für die Haushaltsplanung.
Seit 2015 führt sie mit der Île de France die reichste und bevölkerungsstärkste Region. Als eine getreue „Chiracienne“ erarbeitete sie sich das Image einer Macherin („dame de faire“), verließ die konservative Partei 2017 nach der desaströsen Niederlage von François Fillon (und Macrons Wahl), gründete eine eigene Bewegung „Soyons libres!“(seien wir frei!), verlor aber ihr Ziel, Revanche für den konservativen Machtverlust zu nehmen, nicht aus den Augen.

Jetzt ist es so weit. Und um sie herum haben sich ihre „politische Familie“ und die Partei, in die sie zurückgekehrt ist, in einer Geschlossenheit versammelt, die bei den Macronisten zunehmend Nervosität auslöst, weil deren Bewegung „La République en Marche“ es in fünf Jahren nicht geschafft hat, zu einer lokal geerdeten Partei zu werden. Politisch ist Valérie Pécresse durchaus anpassungsfähig. Ihre erste kurze Auslandsreise nach ihrem Durchmarsch führte sie zu den orthodoxen Katholiken in Eriwan (Armenien), drei Tage nach Éric Zemmour im übrigen, der ebenfalls die starke katholische Armeniengemeinde in Frankreich umwirbt.
Einen anderen Ton schlug sie vor wenigen Tagen an, als sie ankündigte, Gangster, Gauner und Dealer wie einst Nicolas Sarkozy (2005) mit dem Hochdruckreiniger „Kärcher“ aus den Vorstädten pusten zu wollen. Das klang sehr nach dem rechtslastigen Éric Ciotti, der in der Stichwahl zwar unterlag, aber in zahlreichen Interviews betont, „der Kompass“ der Kandidatin zu sein. Kein Blatt Papier passe zwischen sie, unterstrich er am 9. Dezember im „Figaro“. Einen „place singulière“ habe er im 1500 Quadratmeter großen Campagnenbüro in der Rue Torricelli in Paris.

Realistische Aussichten auf die zweite Runde

Und nicht nur das, wie aus einer Reportage in „le monde“ vom 12./13. Dezember 2021 hervorgeht: Den Wahlkampf der Kandidatin leitet Patrick Stefanini, der einstige „Königsmacher“ von Jacques Chirac. Er überlässt nichts dem Zufall und bindet von Ciotti bis zu Michel Barnier, der in Brüssel den Brexit verhandelte, aber in den Parteivorwahlen klar unterlag, geschickt ein: Alle vier „rechten Hände“ der männlichen Mitbewerber haben in der Rue Torricelli ihren Platz und ihre Aufgaben. Stefanini sorgt für Geschlossenheit und Mobilisierung der konservativen Bürgermeister im Land. Frédéric Lemoine, ein Wegbegleiter aus der Studienzeit, bereitet darüber hinaus für die Kandidatin, so sie zur Präsidentin gewählt würde, ein erstes 100-Tage-Programm mit Gesetzen zur Einwanderung, Sicherheit, Entbürokratisierung und Dezentralisie-rung vor, altbekannte Themen der Rechten; die Familie und der ländliche Raum dürfen natürlich auch nicht fehlen.

Wo aber liegen die realen Chancen einer Valérie Pécresse in der Wählerschaft, die bei den Regionalwahlen im vorigen Jahr mit Abwesenheit glänzte? Gilles Finchelstein, der Generaldirektor der renommierten Jean-Jaurès-Stiftung, legte kurz vor Weihnachten (am 19./20. Dezember in „le monde“) einen ersten Überblick vor, der einiges klärt: Von Rechtsaußen bis zur Mitte befürworten danach 60 Prozent der Befragten die Kandidatur der „dame de faire“ (82 Prozent aus der eigenen Partei, aber auch 71 Prozent der Bewegung Macrons) und 56 Prozent sind davon überzeugt, dass sie in die zweite Runde neben Macron kommt. Dass der Amtsinhaber bei einer solchen Stichwahl gewinnt, glauben im Dezember noch 55 Prozent. Zu den „Pécressisten“ zählen ältere, gutverdienende Katholiken, schreibt Finchelstein, weist aber darauf hin, dass zu den Neuwählern der Kandidatin Frauen und jüngere Nichtakademiker aus dem eher rechten, wenig liberalen Spektrum gehörten. Sie selbst betont in Interviews immer wieder, sie sei eine „mutige Rechte“. Solche Sprüche sind von einem Jacques Chirac weit entfernt, der 1995 als erster französischer Staatspräsident die Mitschuld an der Verfolgung und Deportation der Juden im Land zugab.

Begeisterung und Entsetzen

Den Platz des lautstarken und „mutigen Rechten“ besetzt seit Monaten Éric Zemmour, der bereits im September seine Kandidatur angemeldet und dazu eine neue Bewegung „reconquête!“ (Rückeroberung) gegründet hat. Dieser Mann, der 1958 in Montreuil geboren wurde und aus einer jüdischen Berberfamilie an der algerisch-marokkanischen Grenze stammt, fasziniert seit Monaten die französische Öffentlichkeit mit einer fassungslosen Begeisterung oder einem erschreckten Entsetzen. Er verkehrt inzwischen in den feinsten Pariser Privatclubs, wird in elitäre Luxushotels eingeladen, und einer der größten Medienmogule des Landes, Vincent Bolloré, öffnet ihm die Zugänge zu CNews, einem Sender, der dem US-Sender „Fox News“ ähnelt, der einst Donald Trump groß machte. Will ein französischer Trumpist in den Elysée-Palast? Ein mehrfach verurteilter Hetzer gegen die Muslime im Land, ein einstiger Kolumnist des konservativen „Figaro“ und äußerst beliebter Talkshow-Unterhalter? Ein Mann, der in seinen vier Büchern der letzten zehn Jahre, die alle in ehrenwerten Verlagen erschienen, vor einer Kolonialisierung Frankreichs durch Muslime, Afrikaner und Araber warnt und eine strikte Assimilierung aller nichtkatholischen, nichtweißen Franzosen mit christlichen Namen verlangt? Der in einem lächerlichen blau-weiß-roten Ringelshirt von Wahlkampftermin zu Wahlkampftermin eilt und vor meist übervollen Sälen seine rassistischen Thesen verbreitet? Und nicht aufhört, an einem weichgezeichneten Bild der Vichy-Regierung unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg zu basteln und historisch unhaltbare Thesen zur Judenverfolgung in Frankreich zu verbreiten, nach denen Maréchal Pétain und seine Vichy-Regierung die „anderen“ Juden im Land opferten, um die französischen Juden zu schützen?

Aus der Ratlosigkeit, die diesseits des Rheins Beobachterinnen und Beobachter befällt, hilft seit wenigen Wochen der Journalist Étienne Girard, Chefredakteur von l’Express. Im Verlag Seuil veröffentlichte er „Le Radicalisé. Enquête sur Éric Zemmour“. Er widmete diese Recherche seinen Urgroßeltern Sadi und Miriam Dassa, verhaftet am 20. August 1941 und am 5. November 1942 deportiert nach Auschwitz.

Berufsbezeichnung „polémiste“

In zwanzig Kapiteln zeichnet Girard die Biographie Zemmours nach, der sich selbst gern „petit juif berbère“ (kleiner Berberjude) nennt, aber mit aller Macht und immer wieder versucht hat, in die engeren Zirkel der französischen Führungseliten einzudringen. Er schaffte es weder in die Kaderschmiede ENA (die Macron jetzt in einzelne Institute zerteilt hat), noch in die exklusivsten der exklusiven Pariser Privatclubs. Sein Millionenpublikum eroberte er sich über die Kolumnen im „Figaro“ und in einer Talkshow am Samstagabend. Er spielt mit seiner Berufsbezeichnung „polémiste“ und kokettiert mit dem Image des Intellektuellen. Seine Popularität in Frankreich ließe sich abtun mit dem Hang mancher unserer Nachbarn zur radikalen Polemik, zum Tabubruch jedweder Art, zur Kritik an „dem System“, „den Institutionen“, am politischen Rundumschlag. Das beschreibt Girard ausführlich. Aber es macht nicht den Wert dieses Bandes aus, dem ein deutscher Verlag zu wünschen wäre.

Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel dringt der Journalist tief ein in hierzulande weitgehend unerwähnte Gesellschaftsschichten: Die „cathos tradi“ zum Beispiel, erzkonservative katholische Kreise, die ein Machtfaktor sind, vor allem in Unternehmen und Netzwerken, die über Positionen in Schlüsselstellungen entscheiden. Auch den alten französischen Adel gibt es noch. Und dann eine junge, akademische Elite aus der ENA und der „science po“ (dem einflussreichen Institut für Politische Wissenschaften), die sich weit rechts in der identitären Bewegung organisiert.

Sarah Knafo (Foto_ Chris93 auf wikimedia commons)

Eine der schillerndsten Figuren aus dieser Szene ist Sarah Knafo, eine blitzgescheite 28jährige ENA- und Science Po-Absolventin, die Zemmour schon seit ihren Kindertagen kennt. Und die jetzt nicht von seiner Seite weicht, was zu allerlei Spekulationen geführt hat. Doch diese rechtslastige Schar von jungen Frauen und Männern aus den Kaderschmieden geben den Ton an, vernetzen sich und andere, laden zu kleinen, feinen Essen in Knafos Privatwohnung oder ausgesuchten Lokalitäten in Paris ein. Immer wieder überraschen die Überschneidungen mit und zu konservativen Republikanern der Valérie Pécresse. So bemühte sich zunächst Zemmour, Patrick Stefanini als Wahlkampfmanager zu gewinnen. Die bürgerliche Wählerschaft aus den „besseren Kreisen“, so scheint es, ähnelt sich. Über Marine le Pen redet in diesen Schichten niemand.

Was aber bedeutet dieser deutliche Rechtsruck in der Gesellschaft unseres Nachbarlandes, in dem Töne über das weiße, katholische Frankreich laut werden? Unklar ist in diesen Tagen, ob Zemmour eine Hürde überspringen kann, die über seine Zulassung zur Wahl überhaupt entscheidet: Er braucht wie alle Kandidaten und Kandidatinnen von ganz links bis ganz rechts 500 „Paten“, auf kommunaler Ebene Gewählte, die für den Kandidaten mit ihrem Namen bürgen. Es herrscht dazu viel Getöse, aber auch munteres Treiben in Hinterzimmern.

Wie auch immer: Bleibt Valérie Pécresse die Nummer zwei nach der ersten Runde, dann sind ihr Zemmours „Rückeroberer“ sicher, enttäuschte Macronisten vielleicht auch. Sonstige Radikalisierte, deren Feindbild der Amtsinhaber ist, sowieso. Wenn sie denn alle zur Wahl gehen am 10. und 22. April. Bisher verweigern dies noch jeder und jede Dritte.

Unter dem Titel “Auf zur Revanche! Frankreichs Rechte will mit aller Macht Emmanuel Marcron besiegen” erschien der Beitrag zuerst auf Faust-Kultur.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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