Die Innenstadt, geht sie kaputt oder neue Wege  

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Es war der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der mal wieder Alarm schlug. „Das Sterben der Innenstädte ist in vollem Gang“, notierte er in einem Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren SPD-Stellvertreter Olaf Scholz. Unterschrieben hatten auch die Kollegen aus Schorndorf und Schwäbisch-Gmünd. Das war vor knapp einem Jahr. Die zweite Welle der Pandemie, der damit verbundene Lockdown und der Umsatzeinbruch für Gastronomen, Kulturszene und Handel hatte die Stadtoberen aufgerüttelt. „Uns erreichen verzweifelte Briefe von Gewerbetreibenden und Kulturschaffenden“, berichteten die drei Schwaben, mahnten, “tote Stadtzentren rütteln an den Grundfesten unseres Gemeinwesens“ und forderten einen „Marshall-Plan für die Innenstädte“.

Es ist in den vergangenen Monaten nicht besser geworden, und es sind nicht nur Städte in Schwaben betroffen. In vielen deutschen Kommunen ächzt der Einzelhandel unter rasant sinkenden Umsätzen. Bis zu 500.000 Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, warnte im vergangenen Frühsommer der Deutsche Städte- und Gemeindebund; 16.000 Läden drohe 2022 das Aus, schob gerade der Handelsverband Deutschland hinterher. Denn auch das zuletzt sehnlichst erhoffte Weihnachtsgeschäft fiel eher mau aus. Allein der in den Innenstädten stark vertretene stationäre Modehandel vermeldete für 2021 einen Umsatzrückgang von 8,3 Prozent, vor wenigen Tagen bekam Galeria, ehemals Karstadt Kaufhof, eine weitere Staatshilfe von 250 Millionen Euro.

Doch die Tristesse der Zentren ist nicht nur der Pandemie geschuldet, und deshalb ist die Malaise auch grundlegender: Das klassische Modell Innenstadt ist in die Jahre gekommen. Reize der Vergangenheit reizen nicht mehr, das Prinzip Warenhaus ist passé, Einkaufsstraßen früherer Jahre sind ein Auslaufmodell, und überall nimmt der Leerstand zu.

Wie konnte es dazu kommen?

Nicht nur die öffentliche Verwaltung, die Energiewirtschaft oder die Automobilbranche haben in Deutschland den Aufbruch in die Moderne verschlafen. Auch die Innenstädte haben auf ihre Weise den Anschluss verpasst. Boutiquen, Schuhläden, Parfümerien und Kaufhäuser, die die Innenstädte lange geprägt haben und den Vermietern prächtige Pachten garantierten, haben bis zu 30 Prozent ihrer früheren Umsätze verloren. Umsätze, die nicht mehr wiederkehren werden. Gleichzeitig legt der Vertrieb im Onlinehandel Jahr für Jahr um zweistellige Prozentwerte zu.

Andere Gründe kamen hinzu: Eine schwerfällige Anpassungsbereitschaft von Handel und Kommunen, eine renditegetriebene Immobilienwirtschaft, die verzögerte Digitalisierung, der fehlende Service, ein oft eintöniges Ambiente – und vor knapp zwei Jahren drückte dann auch noch die Pandemie die Umsätze nach unten. Das hat Folgen, für Funktion und Struktur der Innenstädte genauso wie für die Jahrzehnte währende Dominanz des Handels. Die Zeiten jedenfalls, in denen Gewerbeverbände und Einzelhandel das Gesicht der Zentren maßgeblich prägten und die Funktion der Innenstädte vor allem in Shopping und Umsatzmaximierung bestand, sind vorbei. Selbst der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) fordert inzwischen mehr Aufenthaltsqualität, Freizeittourismus und Gastronomie in den Citylagen.

Foto: Felix Mittermeier auf Pixabay

Denn dass ein Umdenken nottut, ist offensichtlich. Shopping-Tempel wie die Berliner Mall of Berlin, erst 2014 als neuester Schrei und mit viel Pomp eröffnet, kämpfen mit Leerstand und haben die beste Zeit schon wieder hinter sich. Ganz generell geht die Nachfrage nach Ladenflächen zurück, und in Obergeschossen, so prophezeien Experten, hat der citynahe Einzelhandel bald gar keine Chance mehr. Andere Nutzungen, Co-Working-Spaces, Pop-up-Stores, aber auch Kindergärten, Bibliotheken und Begegnungsstätten ziehen bereits nach.

“Die Immobilienbranche ist mit schuld daran”

Die Gründe für den Wandel sind vielfältig. Sie wird selten genannt, aber letztlich hat die Immobilienwirtschaft maßgeblich dazu beigetragen. „Die Immobilienbranche ist mit schuld daran, dass die Innenstädte kaputt gehen“, sagt der Raumplaner Donato Acocella, Professor im schweizerischen Rapperswil. Denn jahrzehntelang kannten die Mietpreise nur eine Richtung – nach oben. Im südbadischen Freiburg zum Beispiel kletterten die Ladenmieten zwischen 2010 und 2020 um rund ein Drittel, im nahegelegenen Offenburg sogar um 50 Prozent. So ermittelte es der Immobilienverband Deutschland (IVD). In Großstadt-Premiumlagen werden immer noch Mieten bis zu 100 Euro pro Quadratmeter aufgerufen – und bezahlt.
„Es sind in den letzten Jahren völlig verrückte Preise bezahlt worden“, sagt Thomas Krüger, Hamburger Professor für Stadtplanung, Projektentwicklung und Projektmanagement. Und wenn nicht, nehmen die Eigentümer oft lieber einen monatelangen Leerstand hin, als beim Pachtzins nachzugeben.

Doch der Peak scheint erreicht, inzwischen haben viele Immobiliendienstleister ihre Vorstellungen korrigieren müssen. In mittelgroßen Städten sind selbst 20 bis 25 Euro Monatsmiete pro Quadratmeter kaum mehr zu erwirtschaften. Viele Einzelhändler können nur überleben, weil ihnen die Immobilie selbst gehört.

Ein weiterer Grund für den Niedergang: Der stationäre Einzelhandel ist nur bedingt lern- und auch nur eingeschränkt anpassungsfähig. Viele Jahre lang predigte er die autogerechte Stadt, stemmte sich gegen Fußgängerzonen und hing der Philosophie nach, jeder wegfallende Parkplatz sei mit Umsatzverlusten verbunden. Später verschlief er die Digitalisierung und fand bis heute keine wirksame Strategie gegen die Onlinekonkurrenz. Lange, zu lange nahmen die Händler die Wettbewerber von Amazon und Co. nicht wirklich ernst. Kundenfreundlicher Service? Same-day-delivery-Konzepte (Lieferung am gleichen Tag)? Eigene benutzerfreundliche Webshops? Meist Fehlanzeige. Tausende Einzelhändler hatten bereits aufgegeben, bis der Branche dämmerte, dass die Konkurrenz im Netz längst auf der Überholspur war.

Und nun?

Historisch betrachtet, waren Innenstädte immer schon Stätten des Wandels. In der Antike galt die zentral gelegene Agora als der Ort der demokratischen Auseinandersetzung, später dominierten Handwerk und Märkte, bis Anfang des 20. Jahrhunderts das erste Kaufhaus eröffnete und der Einzelhandel begann, den Ton anzugeben. Digitalisierung und Klimaerhitzung sind nun die Treiber für die nächste Zäsur.

Denn die Prioritäten haben sich verschoben. Schon lange liegen in vielen Städten die Pläne für mehr Grün in den Schubladen. „Schwammstädte“ ist nur eines der neuen Zauberwörter. Städte also, in denen das Regenwasser nicht einfach abfließt, sondern für eine spätere Verwendung gespeichert wird. „Wir müssen unsere Städte komplett neu denken“, sagt Ulrike Mansfeld, Professorin für Raumplanung, die sich in Bremen mit der Transformation des urbanen Raums beschäftigt.

Für die meisten Experten hat die autogerechte Stadt jedenfalls ausgedient. Das hat viele Gründe: Der immer noch steigende Fahrzeugbestand bringt das Platzmanagement in den Zentren immer häufiger an den Rand des Kollapses, der Trend zu den SUVs und insgesamt größeren Fahrzeugen erforderte hohe Investitionen in die Umgestaltung der Parkhäuser, die keiner mehr aufbringen will, und schließlich hat sich auch das Mobilitätsverhalten generell verändert.

Die Dauerklage des Handels jedenfalls, nur autofahrende Kunden seien gute Kunden, ist kaum mehr zu halten: Forscher des IASS Potsdam (Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung) fanden im vergangenen Jahr bei einer Untersuchung von rund 2000 Passanten und 145 Einzelhandelsgeschäften in zwei Berliner Einkaufsstraßen heraus, dass über 90 Prozent der Befragten die Läden nicht mit dem Auto angepeilt hatten, sondern zu Fuß, per ÖPNV oder mit dem Fahrrad. Diejenigen, die sich ins Auto gesetzt hatten, trugen nur zu neun Prozent der Umsätze bei. Regelmäßig, so sagen die IASS-Forscher, überschätze der Einzelhandel den Anteil der autoabhängigen Kundschaft. Die Konsequenz in Berlin: An immer mehr Stellen müssen die Autos weichen, die Luxusmeile Friedrichstraße ist seit vergangenem Jahr autofrei, auch die wuselige Oranienstraße in Kreuzberg soll in absehbarer Zeit nur noch Anwohnern und Lieferanten zugänglich sein.

Alain Thierstein, Professor für Raumentwicklung an der TU München, beobachtet die Metamorphose der Innenstädte schon lange. Aus einem komplexen, vielfältigen Gebilde sei in den letzten Jahrzehnten vielfach „eine Einkaufszone mit Autoparkplatz“ geworden. Diese Phase neige sich dem Ende zu, beschleunigt durch Verkehrskollaps, Onlinehandel und nun auch die Pandemie. „Innenstädte müssen radikal neu gedacht werden“, sagt Thierstein, „man muss weg vom Trend der reinen Einkaufszonen und man muss neu über die Aufteilung des Straßenraumes diskutieren.“ Auch er fordert „mehr Lebensfreude in den Innenstädten“.

Auch Kollege Acocella plädiert für eher disruptive Ansätze. „Müssen wir nicht so radikal sein wie vor 50 Jahren, als wir angefangen haben, aus der autogerechten die fußgängergerechte Stadt zu machen?“, fragt er. Auch er will die Zentren wieder zu Stätten der Begegnung machen: „Wenn Bänke entfernt werden, weil man bestimmte Gruppen nicht in der City haben will, läuft etwas falsch. Du musst dich doch irgendwo hinsetzen können.“ Der allgegenwärtige Konsumzwang verhindere eine Stadt für alle. Acocella: „Wenn du 20 Euro los bist, sobald du dich irgendwo mit zwei Kindern niederlässt, ist das alles andere als demokratisch.“

Die Idee der 15-Minuten-Stadt

Dass sich die Stadt verändert, hat man auch bei Apcoa mitbekommen, dem größten Parkhausbetreiber Europas. Die Profiteure des knappen Platzangebotes wissen genau, dass die Innenstadt der Zukunft anders organisiert sein wird als bisher. Dass Parkhäuser künftig nicht nur Autos beherbergen werden, sondern womöglich auch Imbissstände und Paketboxen, Poststationen, Reinigungen oder Reparaturstätten für E-Bikes.

Vor allem im Ausland gehen die Überlegungen längst weiter. In Kopenhagen, Barcelona oder Paris wird die Stadt der Zukunft nicht nur geplant, sondern in Ansätzen auch umgesetzt. In Frankreich etwa stößt die Idee der 15-Minuten-Stadt auf bemerkenswerte Resonanz. Der Grundgedanke: Die weit verbreitete Trennung in Wohn-, Arbeits- und Sozialviertel wird aufgehoben, stattdessen bestehen die Funktionen im gleichen Viertel nebeneinanderher.

Dazu gehört auch eine intensivere Nutzung der Infrastruktur. Carlos Moreno, Professor an der Pariser Sorbonne und einer der Vordenker der 15-Minuten-Stadt: „In einer Stadt wie Paris ist ein Gebäude 30 oder 40 Prozent der Zeit in Gebrauch.“ Soll heißen, die meisten Gebäude stehen länger leer, als sie genutzt werden. Das will Moreno ändern: „Wir wollen ein Gebäude viel mehr nutzen, so dass es auch andere Aktivitäten beherbergen kann.“

Im westfranzösischen Nantes ist das bereits Realität. Der Ansatz: Die wesentlichen Dinge des täglichen Bedarfs, darunter Einkaufen, Post, Ärztehaus, zentrale Behörden, Kindergarten oder Bus- und Bahnhaltestelle sollten sich innerhalb einer fuß- oder fahrradläufigen Distanz von 15 Minuten erledigen lassen. Die Innenstadt wird zum Dorf, in dem die zentralen Funktionen eng beieinander liegen. In Paris integrierte Bürgermeisterin Anne Hidalgo das 15-Minuten-Ziel im vergangenen Jahr in ihren Wahlkampf. Mit Erfolg.

Screenshot: Core Oldenburg

Labore einer neuen Zentrumskultur

In Deutschland treibt vor allem Bremen die Idee der Kurzen-Wege-Stadt voran. „Egal, ob es der Weg zum Einkaufen, zur Apotheke oder zum Hausarzt ist, wir wollen kurze Wege für die Menschen in den Quartieren”, sagt SPD-Fraktionschef Mustafa Güngör. Ob Kinderspielplätze oder Altenheime, Grundschulen, Kulturangebote oder Parkflächen – alles soll fußläufig erreichbar sein. Das wird Geld kosten. Die Bremer SPD will es auch bereitstellen. Es werde aber kein milliardenschweres Programm, verspricht Güngor.

So entstehen überall im Land derzeit kleine Laboratorien neuer lokaler Zentrumskultur. Mit Begegnungsmöglichkeiten, die auch Senioren und Kinder einbeziehen, mit Gastronomie und mehr Grün drumherum. Auffällig ist jeweils die neue Vielfalt. In Stuttgart behielt das 140 Jahre alte Kaufhaus Breuninger zwar seine Fassade, dahinter aber verbirgt sich eine neue Welt: Ein überdachtes Quartier, mit Büros, Gastronomie, Läden und Wohnungen. In Herne sind in das lange leerstehende Karstadt-Kaufhaus inzwischen Büros, ein Fitnessstudio und Einzelhändler eingezogen.

In Kassel wurde das Ruru-Haus, ein zentrumsnahes ehemaliges Sportkaufhaus, von der Stadt übernommen, über seine Verwendung soll in den nächsten Monaten ein Bürgerforum entscheiden. Oder das Core in Oldenburg, ein früheres Einkaufszentrum, das kleinere Start-ups und Co-Working-Spaces beherbergt und inzwischen auch Gastronomen und Kulturinitiativen angezogen hat.

Um- und Zwischennutzung heißen die neuen Stichworte , die Renditemaximierung scheint in den Hintergrund zu treten. Stattdessen sollen Vielfalt, Mixstrukturen und nicht zuletzt Bürgernähe die maßgeblichen Koordinaten sein. Für eine umweltgerechtere Stadt und generell eine neue Lebensqualität. Gemäß der Devise von Stadtplaner Moreno: „Wir müssen die Stadt an die Bedürfnisse der Menschen anpassen, nicht umgekehrt.“

Unter dem Titel “Wie Corona die Innenstädte verwandelt” erschien der Beitrag zuerst bei Publik-Forum

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Horand Knaup
Horand Knaup (kn), geboren 1959, ging 1995 für die „Badische Zeitung“ nach Bonn und wechselte 1998 zum „Spiegel“, für den er viele Jahre aus dem Hauptstadtbüro schrieb, fünf Jahre war er „Spiegel“-Korrespondent in Afrika mit Sitz in Nairobi. Seit 2017 freier Journalist und Autor.

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