Theoretisch – leider nur sehr theoretisch – könnte die Ampel in Regierungsverantwortung mit über 30jähriger Verspätung endlich jenen „Gestaltwandel der Moderne“ (Ulrich Beck) einleiten, von dem die Zukunftsdebatten in Westdeutschland gehandelt haben, bevor sie abrupt vom Triumph der „Kapitalistischen Demokratien des Westens (KDW)“ (Claus Offe) am Ende des kalten Krieges abgewürgt wurden. Es waren namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, wie aber auch erfahrene Praktiker und Praktikerinnen in unterschiedlichen Bereichen, u.a. den Gewerkschaften, den Kirchen, sozialen und kulturellen Einrichtungen, vereinzelt auch UnternehmerInnen und ManagerInnen, die sich Gedanken über mögliche Wege in eine „andere Moderne“ machten. Denn längst waren nicht nur „Grenzen des Wachstums“ sichtbar geworden, sondern das westliche Entwicklungsmodell schien an einem Punkt angelangt, an dem sich die Tendenzen der Vergangenheit nicht mehr in die Zukunft verlängern ließen: nur noch Utopien schienen realistisch (Oskar Negt).
Einer der Kristallisationspunkte dieser Debatten war der gewerkschaftliche Kampf um Arbeitszeitverkürzung; andere Inspirationen kamen aus den neuen sozialen Bewegungen, insbesondere der Umwelt- und der Frauenbewegung. Der Elan der Zukunftsdebatte speiste sich darüber hinaus nicht zuletzt aus der Erwartung einer dauerhaften Friedensordnung auf der Grundlage internationaler Abrüstungsverträge. Im parteipolitischen Raum nahm der „Gestaltwandel der Moderne“ die praktische Form der Beendigung der bräsigen Ära Kohl an, aber die Zukunftsdebatten im Vorfeld der Bundestagswahl 1990 schlugen sich durchaus auch in der Programmatik der Grünen und der SPD nieder.
Erster Auslandseinsatz der Bundeswehr und Hartz IV
Die deutsche Einheit bescherte Helmut Kohl dann aber zwei weitere Regierungsperioden. Sie standen unter dem Motto „Im Osten muss sich alles, aber auch wirklich alles ändern und Westen bleibt alles, aber wirklich alles beim Alten“. Der Reformstau, der sich schon unter den allmählich erodierenden Konstellationen der nur vermeintlich „ewig dauernden Prosperität“ (Burkhard Lutz) zu einem Transformationsstau verdichtet hatte, wurde gleichsam in den Untergrund der Siegerpose gegenüber dem nun nicht mehr real existierenden Sozialismus gedrängt – verhalf dann aber 1998 der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene zur Regierungsübernahme. Die von sozial-emanzipatorischen Anliegen getragene Zukunftsdebatte der 1980er Jahre war weitgehend verstummt – und so vollzog sich ein ganz anderer „Gestaltwandel der Moderne“ als ihn sich seine Protagonisten eigentlich erhofft hatten. Heute ist die rot-grüne Ära an der Bundesregierung vor allem wegen zweier Paradigmenwechseln in Erinnerung: kurz nach ihrem Amtsantritt gab sie den Befehl zum ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr nach dem zweiten Weltkrieg und ziemlich bald münzten die rot-grünen Machthaber Impulse aus den Zukunftsdebatten in jene perfide Strategie des „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) um, die dann unter dem Kürzel Harz IV firmierte, die aber darüber hinaus auch ein ziemlich radikales Programm der De-Regulierung, Privatisierung und Flexibilisierung umfasste.
Zunehmende soziale Ungleichheit wurde nicht nur hingenommen, sie war Programm. Sie war unter anderem deshalb Programm, weil das Projekt der sozialen Gerechtigkeit durch die östlichen Parteidiktaturen, die es für ihre Legitimationsstrategien vereinnahmt hatte, so diskreditiert war, dass es nicht nur von der rot-grünen Bundesregierung in einem fast vollständigen Kotau vor der Hegemonie des Neoliberalismus einfach fallen gelassen wurde. Dass es auch in unseren Zeiten durchaus noch Strahlkraft hat, wenn es nicht in männerbündische Rituale des Klassenkampfs eingezwängt wird, zeigte dann Andrea Ypsilanti mit ihrem erfolgreichen Wahlkampf für eine „soziale Moderne“ 2007/8 in Hessen. Obwohl die Wende zu einer modernen Sozialität der SPD vielleicht zu neuen programmatischen Perspektiven jenseits ihrer Assimilation an den Neoliberalismus hätte verhelfen können, vereitelten die damaligen Führungsgenossen das diesbezügliche Experiment in Hessen.
Militarisierung ohne jede gesellschaftliche Diskussion
Nun also gibt es wieder rot-grün, nun allerdings plus gelb. Und wieder steht unmittelbar nach Regierungsantritt ein dramatischer Paradigmenwechsel an. Erzwungen von Vladimir Putin und seinem Krieg gegen die Ukraine. Aber stimmt das? Zweifellos muss alles getan werden, um diesen Krieg zu beenden, um Putin zum Rückzug zu bewegen. Am besten wäre es, wenn er von einer Allianz zwischen dem ukrainischen Widerstand, innerrussischem Protest und internationaler Hilfe für die Ukraine gezwungen würde, durch einen umfassenden Rückzug und Rücktritt den Weg frei zu geben für die Erneuerung einer internationalen Friedensordnung und eine demokratische Modernisierung nicht nur, aber vor allem Russlands. Aber was bringen die Aufrüstungspläne der deutschen Bundesregierung für die Beendigung dieses Krieges und die Verhinderung anderer Kriege? In welchem Zustand ist die deutsche Demokratie, wenn ihr Bundeskanzler und ihre Verteidigungsministerin „Zeitenwenden“ verkündigen können, ohne jegliche gesellschaftliche und politische Debatten? Wenn sie den „Gestaltwandel der Moderne“ ohne Rückversicherung bei Ihren Wählern und Wählerinnen und beim Parlament in eine Richtung lenken können, die weder mit dem Grundgesetz noch mit der ja ohnehin schwachen demokratischen Tradition dieses Landes vereinbar ist.
War es vor 30 Jahren der Bankrott des Sowjet-Sozialismus, der SPD und Grüne in die Fänge des Neoliberalismus trieb, so ist es jetzt der Wahn eines durchgeknallten Ex-KGB-Agenten, der SPD und Grüne in den Militarismus treibt. Sie werden damit hoffentlich an der deutschen Zivilgesellschaft scheitern.