Die FDP als Mutter der Sorglosigkeit der Impfschwarzfahrer  

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Die ersten 100 Tage der neuen Bundesregierung waren ein Regieren im Krisenmodus. Die Corona-Pandemie hat viel politische Zeit in Anspruch genommen, mit dem Ukrainekrieg und seinen wirtschaftlichen Folgen ist die nächste große Krise hinzugekommen. Deshalb wurde das Aufhalten des Klimawandels nicht zum dominierenden Thema. Die Bundesregierung musste einen Nachtragshaushalt für 2021 schaffen, mit dem sie den Energie- und Klimafonds um 60 Milliarden Euro aufstockte und die Bundeswehr erhielt am üblichen Haushalt vorbei 100 Milliarden Euro extra zugesprochen.
Zu größeren Zerwürfnissen zwischen den Koalitionspartnern kam es bislang nicht. Aber bei der Verabschiedung des neuen Infektionsschutzgesetzes hat die FDP ihre Vorstellungen gegen die SPD, die Grünen und die Bundesländer durchgesetzt. Dafür haben Politiker*innen ein Elefantengedächtnis („Sie können nicht vergessen“). Sollte es irgendwann zu einer Regierungskrise kommen, können wir fast sicher sein, dass der Coup, mit dem die liberale Partei alle anderen düpierte, zu den Gründen für diese Krise zählen wird.

Die Bundesregierung musste das Infektionsschutzgesetz ändern, weil die Rechtsgrundlage für die meisten Corona-Maßnahmen auslief. Am 18. März 2022 setzte sich die FDP im neuen Gesetz mit der Auffassung durch, dass eine Maskenpflicht als „Basisschutz“ zur Viruseindämmung nicht mehr erforderlich sei. Nur noch an bestimmten Orten wie Kliniken oder Pflegeheimen werden eine Masken- und Testpflicht gelten, aber im Einzelhandel oder in den Schulen wurde die Maskenpflicht aufgehoben und über Basismaßnahmen wird weitgehend von jedem Einzelnen entschieden.

All dem haben Bundesregierung und Länder an einem Tag zugestimmt, an dem es einen Höchststand an Inzidenzen (von über 1700) und 246 Tote gab. Die neue Bundesregierung war am 15. Dezember 2021 mit 51.301 gemeldeten Covid-19 Neuinfektionen gestartet, hundert Tage später, am 17.März 2022, waren sie auf 294.931 Neuinfizierte angestiegen.

Gegen Wissenschaft und Bundesländer

Das Ausweisen von Corona-Hotspots, eine weitere Basismaßnahme, wurde den Bundesländern deutlich erschwert. Während das Gesundheitsministerium eine enge Definition der Hotspots wollte, setzte das von der FDP geführte Justizministerium die Regelung von Hotspots als Ausnahme durch. Nach Auffassung der Länder blieb das Was und Wann unklar. Zu ihren Fragen gehörte, was Gebiete sind, in denen „die konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage besteht“. Oder wann die Situation erreicht ist, dass sich eine gefährliche Virusvariante ausbreitet und eine Überlastung der Krankenhäuser droht.1

Die FDP bewertete die Vorgehensweise als Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger*innen. Dies läuft in der Praxis darauf hinaus, dass jede und jeder sich selbst weiter mit Masken schützen kann, wenn sie oder er es will.2 Das Vorgehen war gegen die Impflicht gerichtet. Eine parlamentarische Gruppe um den FDP-Politiker Wolfgang Kubicki lehnte die Impflicht ab. Und auch der FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann hatte einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine mögliche Impfpflicht nur für Personen von 50 Jahren an vorsah. Zunächst sollte aber die Impfkampagne von Bund und Ländern abermals ausgeweitet werden und die Krankenkassen sollten ihre Versicherten über Beratungs- und Impfmöglichkeiten informieren. Erst bei nicht steigender Impfquote sollte der Bundestag „rechtzeitig vor einer für den Herbst und Winter 2022/2023 zu erwartenden weiteren Infektionswelle“ eine Impfpflicht für Personen von 50 Jahren an beschließen. 3

Dabei wurde auf die Stimmen der Wissenschaft und der Länderregierungen, also der für die Anwendung des Gesetzes Verantwortlichen, wenig Rücksicht genommen. Die Fachleute hatten bei einer Anhörung zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Gesundheitsausschuss nahezu einhellig dafür plädiert, zumindest die Maskenpflicht beizubehalten. Die Virologen hielten das Tragen einer FFP-2-Maske für das wirksamste, günstigste und einfachste Mittel zur Eindämmung hoher Corona-Inzidenzen, insbesondere wenn Personen in Innenräumen zusammenkommen.4 Der Virologe Hendrik Streeck hingegen befürwortete die FDP-Reform, weil sich die Gesellschaft in einer anderen Phase der Pandemie befinde. Er sagte, dass es zwar nie dagewesene Infektionszahlen gebe, die Belastung der Kliniken sich aber davon abgekoppelt habe. Es sei an der Zeit, sich von Maßnahmen zu trennen, deren Wirksamkeit nicht bewiesen sei. Wie beurteilen die Wissenschaftler*innen die gegenwärtige „Phase der Pandemie“?

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Wie sollten die Bundesländer zukünftig Ansteckungen verhindern können, wenn die Maskenpflicht wegfiel? Sämtliche Bundesländer waren gegen das neue Infektionsschutzgesetz. Aber ihr Veto hätte bedeutet, ganz ohne Schutzmaßnahmen dazustehen. Die Mehrheit hatte sich eine Maskenpflicht als Basisschutz gewünscht. Deshalb hielten sie sowohl die Basismaßnahmen als auch die Hotspot-Regelung mit fehlenden Schwellenwerten für besser als nichts. Baden-Württemberg und einige andere machten trotzdem von der Möglichkeit einer Übergangsregelung Gebrauch und verlängerten die Maskenpflicht in Schulen und anderen öffentlichen Innenräumen bis zum 2. April. Die Hotspot-Regelung wollte die grün-schwarze Regierung ebenfalls nutzen und für die Gastronomie auch weiterhin an der 3-G-Regel festhalten. Seither gilt das Bund-Länder-Verhältnis als gestört. 5

Das Recht auf persönliche Integrität wird relativiert

Die FDP-Bundestagsabgeordnete Aschenberg-Dugnus verteidigte das Ende der Maskenpflicht mit den Worten, dass es immer das Ziel gewesen sei, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern und vulnerable Gruppen zu schützen. Die Inzidenz-Rate, eine Infektion mit positiv Getesteten, galt als nicht mehr ausreichend, um Persönlichkeitseinschränkungen oder Freiheitseinschränkungen zuzulassen. 6

Die Orientierung auf die Infrastruktur stellt eine Grundwertverschiebung dar. Behandlungskapazitäten in Krankenhäusern relativieren den absoluten Maßstab physischer – und psychischer – Unversehrtheit oder Gesundheit. Mit welchen Argumenten lässt sich der Vorrang des Rechtes auf physische und psychische Unversehrtheit gegenüber anderen Rechten in Frage stellen? Schließlich ergibt sich dieser Vorrang aus der evidenten Tatsache, dass alle anderen Rechte dieses Recht auf physische und psychische Integrität voraussetzen. Wer ein untergeordnetes Recht auf Kosten dieses Rechtes durchsetzt, verletzt die Moral und eine gerechte Rechtsordnung gleichermaßen. Der Staat schränkt daher untergeordnete Rechte, etwa auf Bewegungsfreiheit, dann ein, wenn dies erforderlich ist, um Menschenleben zu schützen. Dazu hat er eine Pflicht. 7

Ein wetterabhängiger und kontrafaktisch begründeter Optimismus als Politikersatz

Die Einwände der Wissenschaftler*innen und der Bundesländer scheinen auch den Gesundheitspolitiker Ullmann nicht zu beeindrucken. Die Folgen der Reform seien nicht „so dramatisch wie einige Bundesländer es darstellten und die Hinweise vieler Ärzt*innen, dass es ein schlechter Zeitpunkt sei, um die Corona-Maßnahmen zu lockern, weil die Situation sehr schnell wieder außer Kontrolle geraten könne, seien „ja alles Hypothesen und Modellberechnungen“. Aber wie anders begründet er sein Handeln? Zum einen mit der Hoffnung auf günstige Jahreszeiten, denn meistens komme es nach Beginn des Frühlings zu einem Abfall der Infektionszahlen. Und zum anderen mit seiner psychischen Disposition: er sei da „eher auf der optimistischeren Seite, wie die Infektionszahlen und die Belastungszahlen sich entwickeln werden.“ 8

Also hoffen wir alle, dass das Frühjahr und der Sommer in Deutschland nicht kalt und verregnet sein werden. Und wir hoffen, dass die geplante Ausweitung der Impfkampagne zu einem Anstieg der Impfquote führen und der Bundestag nicht gezwungen sein wird, „rechtzeitig vor einer für den Herbst und Winter 2022/2023 zu erwartenden weiteren Infektionswelle“ eine Impfpflicht zu beschließen. Und zwar für Personen von 50 Jahren an. Und insbesondere die FDP hofft, dass die verbleibenden 25 Prozent Restbevölkerung ihre Eigenverantwortung entdecken wird. Durch Information und Beratung. Und wenn dennoch die Krankheitszahlen steigen und Menschen sterben?

Wasserstandsmeldungen zur Eigenverantwortung

Statt dem Glauben an die Entdeckung der Eigenverantwortung der Restbevölkerung zu folgen, wollen wir fragen, wie groß die Chancen sind, mit ausgeweiteten Informationen und Beratungen der Krankenkassen den Impf-Attentismus von 20 Millionen Bürger*innen zu wenden. Dazu wollen wir einige Erfahrungen heran ziehen und fragen, ob der Optimismus über die Entwicklung der Eigenverantwortung der Bevölkerung gerechtfertigt ist, wenn es darauf ankommt.

Eine Virologin hat mit Blick auf die Corona-Pandemie vor Sorglosigkeit von Teilen der Bevölkerung gewarnt. Es sei wichtig, dass die Menschen umsichtig bleiben und nicht gleich wieder auf Normalität umstellen. Sollten sie in Innenräumen fortan seltener Masken tragen, würden sich weiterhin viele Menschen mit der Omikron-Untervariante BA.2 infizieren.9

Gewiss, die meisten Menschen unterwerfen wenigstens einige ihrer Interessen Werten. Das haben die letzten zwei Pandemiejahre gezeigt. Viele haben auf die Erfüllung ihrer Interessen verzichtet, wenn diese mit ihrer von Werten inspirierten Selbstachtung unvereinbar war. Aber Menschen weichen leider von ihren rationalen Interessen oft auch „nach unten“ ab. Sie handeln in einer Weise, die ihnen schadet, obgleich sie moralisch noch schlechter ist, als wenn sie nur ihren Nutzen maximieren.

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Hier einige Stichworte zur Realverfassung („den Wasserstand“) der Eigenverantwortung:

 Menschen gehen davon aus, dass das Virus nicht sie, sondern andere erwischen wird.
 Als „normal“ betrachtete Bedürfnisse wie das Reisen werden nicht hinterfragt („Das steht uns zu!“).
 Teile der Bevölkerung informieren sich nicht, erkennen ethische und wissenschaftliche Argumente nicht an, befolgen nicht gerechte Gesetze und missachten die Pflicht zur Rücksicht auf diejenigen, die gefährdet sind.
 Es gibt eine Neigung bei Bürger*innen, die eigene Intelligenz bei politischen Wahlen nicht anzustrengen. Wahlen scheinen ein besonderes Lustgefühl aus der Identifikation mit Politiker*innen hervorzurufen, die so sind wie sie und all das ausleben, von dem sie selber träumen.
 Eine große Minderheit von Menschen, die nicht zu wissenschaftlichem Denken ausgebildet ist, neigt zur intellektuellen Selbstüberschätzung. So kommt es zu einer unkontrollierten Verbreitung skeptischer Ideen, die deswegen so willig aufgenommen werden, weil sie einen Egalitarismus zu befördern scheinen.
 Menschen verlernen wieder, welche schmerzlichen Erfahrungen dazu geführt haben, Institutionen wie die parlamentarische Demokratie, die Unabhängigkeit der Judikative und den Sozialstaat zu errichten, die Teil ihres Alltags sind.
 Die hartnäckige Krummholzigkeit der menschlichen Natur und die anthropologisch konstanten Schwächen der Menschen.

So gesehen, dürfte nicht verantwortungsbewusstes Verhalten der wahrscheinliche Fall sein, sondern Sorglosigkeit. Sie könnte ein Grund für Impfzurückhaltung und –weigerung eines Viertels der Bevölkerung sein. Die Sorglosigkeit zeigt sich in dem Wunsch zur „Rückkehr zur Normalität“: zurück in einen Zustand („ein Leben“) vor die Pandemie mit intensiven privaten und beruflichen Kontakten. „Der Sommer wird wieder entspannt werden.“ Der Wunsch nach dem normalen Leben bestätigt anthropologisch konstante Schwächen der Menschen.

Kulturell bedingte Unterschiede

Sie sind gleichwohl nicht weltweit gleichermaßen ausgeprägt. Denn in China, Japan, Südkorea und vor allem Taiwan scheint es bei der Wirksamkeit von Infektionsschutzstrategien eine erhebliche Diskrepanz zur „westlichen Welt“ zu geben. Dort war die Zahl der Neuinfektionen und Todesfälle durch Covid-19 deutlich geringer als beispielsweise in Deutschland. Die größere Wirksamkeit der Infektionsschutzstrategien wurde auf kulturell bedingte Unterschiede im Sozialverhalten und deren Einfluss auf das Auftreten von Infektionen gesehen. Menschen in Ostasien, so wurde argumentiert, haben eine andere Vorstellung von angemessener körperlicher Distanz als „Westler“. Die Menschen grüßen sich in der Regel, ohne sich zu berühren; die Menschen sind es gewohnt, Masken zu tragen (was in Europa zunächst belächelt wurde), um die Ansteckung anderer zu verhindern. Diese Motivation empfanden viele Europäer*innen lange Zeit als äußerst irritierend. 11

LiLee Ng, eine aus Singapur stammende Ökonomieprofessorin argumentierte, dass die massiven Unterschiede in den Reaktionen des Ostens und des Westens auf die Pandemie in deren kulturellen Werten liegen.

Die „individualistische“ Kultur des Westens stellt die Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen in den Vordergrund, während die „kollektivistische“ Kultur des Ostens die Bedürfnisse der Gesellschaft in den Vordergrund stellt. Persönliche Freiheit und individuelle Rechte […], die Auflehnung gegen Autoritäten und Unabhängigkeit haben im Westen Vorrang vor gegenseitiger Abhängigkeit. In einer kollektivistischen Kultur opfern die Menschen ihre eigene Bequemlichkeit für das Wohl aller anderen, akzeptieren Autoritäten eher und befolgen strenge Vorschriften freundschaftlicher.“12

Demonstration von Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen unter dem Motto „Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie“ am 1. August 2020 in Berlin (Foto: Leonhard Lenz auf wikimedia commons)

Falsche Signale

Die Bundesregierung hat mit dem neuen, von der FDP geprägten Infektionsschutzgesetz die Eigenverantwortlichkeit der Bürger*innen zu einem maßgeblichen Regulativ für die Steigerung der Impfquote gemacht. Sie hat damit ein falsches Signal an die Bevölkerung gegeben. Sie hat sich gegen den Rat der Wissenschaftler*innen und gegen die Einwände der praktisch für die Pandemiebekämpfung verantwortlichen Bundesländer entschieden. Damit wird sie diejenigen bestärken, die Eigenverantwortung so auslegen, dass sich jede und jeder selbst weiter mit Masken schützen kann, wenn sie oder er es will. Und es wird Irritationen oder mehr bei allen denjenigen auslösen, die sich haben impfen lassen.

Ein falsches Signal ging auch von einer bedeutenden sozialstaatlichen Institution, der gesetzlichen Krankenversicherung aus. Die Kassen wehrten sich dagegen, dass sie alle Versicherten schriftlich zur Vorlage von Impfnachweisen oder Befreiungen auffordern, diese kontrollieren und säumige Kunden den Bußgeldstellen melden sollen. Und dann fiel der irrwitzige Satz: „In Europa herrscht akuter Papiermangel, und somit fehlt Material für die rund 120 Millionen Schreiben.“13 Die gesetzlichen Krankenversicherungen zeigten sich nicht dazu in der Lage, ihre Pflicht zu erfüllen. 

Mit dieser Haltung ist in der Corona-Krise schon viel Porzellan zerschlagen worden. Sie befeuert die existierende Sorglosigkeit der Impfschwarzfahrer. Das Statement der Krankenkassen zeigt, woran es in der Impfkampagne in Deutschland immer gefehlt hat: wie man eine Impfkampagne gut organisiert.14 Haben sie vergessen, dass die Institutionen der Verfassung und des Sozialstaates, zu denen sie selbst zählen, eine Antwort auf eine geschichtliche Konstante waren? Auf unkontrolliertes menschliches Machtstreben und gesellschaftliche Ungleichheit. Diese Institutionen und Organisationen sollen es einhegen. Und die beachtlichen Erfolge der Nachkriegsordnung zeigen, dass die Lernprozesse nicht vergeblich waren.

Aber dieses erfolgreiche Lernen bedeutet keineswegs auf alle neuen Herausforderungen richtig zu reagieren. Die hohe Impfquote in Spanien mag als ein Hinweis darauf bewertet werden, dass die Bevölkerung dieser jungen Demokratie die Errungenschaften eines Sozialstaates und eines Gesundheitssystem noch zu würdigen weiß. Sind sie in Deutschland in Vergessenheit geraten? Haben die Krankenkassen die schmerzlichen Lernprozesse, aufgrund derer sie gegründet wurden, wieder verlernt? Dies wäre ein Fall kultureller Entropie.

Was notwendig wäre

Eine Gesundheitspolitik mit einer modellhaft idealisierten Eigenverantwortung als maßgeblichem regulativen Prinzip hat keinen verlässlichen Boden unter ihren Füßen. Vielmehr untergräbt sie die Legitimität von liberaler Staatlichkeit. Einer der wichtigsten Standards, die Maskenpflicht, soll jetzt in einer Phase aufgegeben werden, in der nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die Belegungen in den Krankenhäusern kontinuierlich zunehmen. Die Bundesregierung gibt eines der wichtigsten Instrumente aus der Hand, mit dem sie den Infektionsdruck abmildern kann.

  • Stattdessen müssen, um die weltanschauliche Freiheit liberaler Staatlichkeit zu erhalten, Standards gesichert werden.15 Der Staat soll kulturelle Leistungen fördern, die das eigene Wertesystem stützen. Dazu gehören nicht nur Kunst, Religion und Philosophie, sondern auch die Werte, die durch die organisatorische Kultur von Institutionen und Organisationen „gelebt“ werden. Wenn eine Patientin in eine Arztpraxis einer deutschen Großstadt mit der Frage kommt, welche Modalitäten für die Urlaubsrückkehrer*innen aus südeuropäischen Ländern gelten, und die befragte Arzthelferin von alledem nichts weiß, liegt ein organisatorisch-kulturelles Problem vor. Hält das Ärzteteam, das diese Praxis leitet, es nicht für nötig, ihre Mitarbeiter*innen an der Schnittstelle zu den Patient*innen zu informieren und auskunftsfähig zu machen? Das Beispiel der pflichtvergessenen Krankenkassen beschreibt denselben Sachverhalt nur in einem größeren Rahmen.
  • Ein demokratischer Staat muss Rechtsbrüche bestrafen. Die normative Grundlage dafür wollte der Bundesgesundheitsminister mit seinem Vorhaben schaffen, eine allgemeine Pflicht ab 18 Jahren einzuführen.16 Demnach hätte, wer von Oktober 2022 an keine Impfung nachweist, mit einem Zwangsgeld bis zu 25 000 Euro belegt werden können.
  • Die Bundesrepublik Deutschland muss die epistemische Autorität der Wissenschaften aufrechterhalten. Deren Zersetzung bedroht den modernen Staat in seinen Grundfesten. Wenn es keine begründbaren Wahrheiten gibt, ist die Meinung von Ignorant*innen zu Covid 19 ebenso ernst zu nehmen wie diejenige des Professors für Virologie.
  • Und schließlich, als sofort anzugehende mittelfristige Aufgabe, muss der demokratische Staat seinem Bildungssystem die Argumente deutlich machen, die zur Annahme der Prinzipien liberaler Verfassungen geführt haben. Zu oft werden Freiheit und Selbstbestimmung mit Egoismus und Rücksichtslosigkeit verwechselt. In dieser Hinsicht ist es absurd zu sagen, dass es die freie Entscheidung des Einzelnen sein muss, ob er oder sie eine Maske trägt und mit wem oder wie vielen Menschen man sich trifft. Und es geht den Staat (und die Gesellschaft!) sehr wohl etwas an, wie Friedrich Merz Weihnachten feiert. 17 Bei einer Pandemie sind solche Entscheidungen nicht nur privat, denn sie haben (potenziell tödliche) Folgen für andere Individuen.

1 Vgl. Rüdiger Soldt Die Maskenpflicht fiel der FDP zum Opfer FAZ 16.3.2022; Heike Schmoll Die Maske soll unbedingt fallen FAZ 17.3.2022 2 Lockerung der Corona-Maßnahmen FDP-Politiker Ullmann sieht Phase der Eigenverantwortung. Andrew Ullmann, FDP, MdB, Obmann im Gesundheitsausschuss, im Gespräch mit Tobias Armbrüster. Interview 15. März 2022 , DLF 3 Vgl. Kim Björn Becker Das Gewissen hat die Wahl FAZ 17.3.2022, Eckart Lohse, Einigung in weiter Ferne, FAZ 18.3.2022 4 Deutliche Kritik an geplanten Corona-Lockerungen FAZ 15.3.2022 5 Vgl. Andreas Ross Der FDP zuliebe düpiert die Ampel die Bundesländer FAZ 19.3.2022; Schmoll (2022); Soldt (2022) 6 Vgl. Ullmann (2022) 7 Vgl. Vittorio Hösle, Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart, 2021, 3., aktualisierte und erweiterte Neuausgabe. Freiburg Verlag Karl Alber, S.235 8 Vgl. Vgl. Ullmann (2022) 9 Virologin Ciesek warnt vor Sorglosigkeit FAZ 21.3.2022 10 Christian Geinitz, Impfschwarzfahrer FAZ 22.3.2022 11 Vgl. Christoph Kleine, Has Confucius won the Corona war?, 25.02.2021 (E: 25.03.2022), https://www.multiple-secularities.de/Coronawar 12 LiLee Ng, “East Asia’s ‘Soft’ Culture Key to Beating Covid-19,” 1. Dezember 2020, zitiert nach Kleine (2021). 13 Kassen wollen an Impfpflicht nicht mitwirken FAZ 22.3.2022 14 Jasper von Altenbockum, Das darf nicht wahr sein: Papiermangel? FAZ 22.3.2022 15 Vgl. Hösle,(2021, 247 16 Lohse (2022) 17 Georg Ismar, Maria Fiedler, Robert Birnbaum, “Merz Stemmt Sich Gegen Fest-Auflagen „Es Geht Den Staat Nichts An, Wie Ich Weihnachten Feiere“,” 3. Dezember, 2020, https://www.tagesspiegel.de/politik/merz-stemmt-sich-gegen-fest-auflagen-es-geht-den-staat-nichts-an-wie-ich-weihnachten-feiere/26646258.html.

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

1 Kommentar

  1. Ich bedanke mich zuerst für die sehr differenzierten Betrachtungen über das Für und Wider des künftigen Pandemie-Krisenmanagement der Bundesregierung. Ich füge lediglich — verglichen mit den sehr abwägenden Betrachtungen dieser Analyse — einige sehr grobschlächtige Betrachtungen zur Regierungspartei FDP hinzu. Diese Partei verschafft Egoismus und Rücksichtslosigkeit unter dem Deckmantel von Freiheit und Selbstbestimmung freie Bahn. Sie ist sich nicht zu schade, in Zeiten, in denen nebenan ein Volk auf Tod und Leben gegen eine Diktatur um Souveränität und Freiheit kämpft, hier in Deutschland einen freedom-day zu feiern, weil es ihr ohne Rücksicht auf Verluste gelungen ist, die Abschaffung der Maskenpflicht durchzusetzen.
    Warum tut sie das?
    Die FDP hat sich vor zwei, drei Jahren als Freiheitspartei erfunden und damit bisher Wahlerfolge erzielt. Diese Erfolge an der Urne ist der alleinige Grund, warum sie in Sachen Maskenpflicht und genauso in Sachen Tempolimit fundamentalistisch rein persönliche (bindungslose) Freiheiten auf Kosten des Ganzen durchsetzt; SPD und Grünen sie könnten das verhindern, aber sie tun es nicht, so dass ihre Schuld nur wenig geringer ist.
    Um eine Partei beurteilen zu können, kann ihre Regierungspraxis, ihr Programm und ihr Personal betrachtet werden.
    Das führt zu der zweiten Frage: Ist der FDP persönliche Freiheit wirklich ein Anliegen? Dann könnte man ja sagen: Sie hat in Fragen der Abschaffung der Maskenpflicht tragisch geirrt und in der Verhinderung des Tempolimits auch.
    Dass es der FDP jedoch um die Freiheit gar nicht geht — sondern lediglich um Marketing-Vorteile in Angesicht der Wahl-Urne —, davon berichtet Andrij Melnyk, der Botschafter der Ukraine in Berlin.
    In einem Text der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAS) vom 27.3. („Der ungewöhnlichste Botschafter aller Zeiten“) berichtet dieser von einem Gespräch, das er direkt nach Kriegsbeginn mit Christian Lindner, FDP-Vorsitzender und Bundesfinanzminister, hatte. Der habe „mit so einem höflichen Lächeln“ vor ihm gesessen und gesagt: Der Ukraine blieben nur noch wenige Stunden. Waffen zu liefern und Russland aus dem SWIFT auszuschliessen, das bringe nichts. Vielmehr müsse man nach vorne schauen und sich auf das einstellen, was komme: eine von Russland besetzte Ukraine und eine Marionetten-Regierung in Kiew. Der Botschafter: „Das war das schlimmste Gespräch meines Lebens.“
    Das Gespräch belegt, dass es der FDP um vieles gehen mag, nie und nimmer um Freiheit.
    Sie betreibt vielmehr eine fundamentalistische Politik mit dem alleinigen Ziel der Maximierung der Stimmen. Insofern passt ihre Regierungspraxis zu dem verkommenen geistigen und moralischen Niveau ihres Spitzen-Repräsentanten.

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