Biedermanns sozialer Frieden. Zur deutschen Politik in Zeiten des Krieges

… dass mit ihm kein „sozialer Frieden“ möglich ist außer dem Frieden von gleichgeschalteten Ungleichen.
(Bild: gregroose auf Pixabay)

Noch bis zum Tag vor der Invasion der russischen Armee in die Ukraine erklärten hiesige Politiker unisono, Nord Stream 2 sei eine unpolitische, rein privatwirtschaftliche Unternehmung. Sie hätte nichts mit russischer Machtpolitik zu tun und sei ganz gewiss kein Instrument, den russischen imperialen Herrschaftsanspruch auch und insbesondere gegenüber der Ukraine durchzusetzen. Die meisten Politiker bestritten sogar vehement, dass es solch einen russischen Herrschaftsanspruch überhaupt gebe. Unter ihnen taten sich insbesondere die Kameradschaft Schröders in der SPD, die links-rechte Querfront in der Linkspartei um Sahra Wagenknecht und die AFD hervor.* Sie gaben allesamt der Nato, der EU und allen voran den USA die Schuld an dem russischukrainischen Konflikt. Sie sahen dabei von dem, was die Menschen in der Ukraine selbst wollen, wünschen und für sich beanspruchen, völlig ab, als könnten sie und Russland über diese Menschen nach eigenem Belieben entscheiden.

Offensichtlich hatten sie auch keine Probleme mit dem rassistisch begründeten Weltmachtanspruch Putins. Vielleicht haben sie diesen Anspruch bis heute nicht einmal kognitiv realisiert und machen sich immer noch vor, Putin sei nicht so. In der sogenannten Mitte der Gesellschaft sieht das nicht viel anders aus: Die FDP hielt daran fest, dass der Frieden eine „Dividende“ einbringen müsse und wollte sich deswegen ebenso wenig wie die CDU, die in der Regierungszeit Merkels in den politischen Tiefschlaf versunken war und bis heute daraus nicht aufgewacht ist, das einträgliche Gas- und Ölgeschäft nicht verderben lassen. Sie beharrte bis zum Beginn der russischen Invasion auf dem Geschäft als einem Bestandteil der einzuheimsenden Friedensdividende, während der CDU-Vorsitzende Merz am 03. 02. 22, als die rund 150 000 Mann starken russischen Invasionstruppen die Ukraine schon von allen Seiten (Nord, Ost, Süd) umstellt hatten, öffentlich verkündete: „Russland ist nicht unser Feind. Russland ist ein europäischer Partner…“1

Ein Kanzler als Sandmann

Auch Bundeskanzler Scholz machte das üble Spiel mit und betonte bis zum bitteren Ende des Unternehmens Nord Stream 2, dass es sich um eine rein privatwirtschaftliche Angelegenheit handele, obwohl doch in dem russischen Gesellschaftssystem die funktionale Trennung von privatbürgerlicher Gesellschaft und politischem Staat gar nicht akzeptiert wird und es schon die Spatzen von deutschen Dächern pfiffen, dass die Behauptung von dem rein privatwirtschaftlichen Unternehmen eine Lüge ist und der Bundeskanzler den Sandmann spielt.

Nach der blutigen Invasion Russlands in die Ukraine ist kaum noch zu leugnen, welche politische Absicht Putin mit diesem politischen Unternehmen verfolgt hatte. Es diente dazu, Deutschlands Gasversorgung von der Ukraine unabhängig zu machen, so dass Deutschland von dem seit Jahren ins Auge gefassten Krieg gegen die sich dem russischen Herrschaftsanspruch widersetzende Ukraine ökonomisch nicht betroffen wäre und sich aus Geschäftsinteresse aus dem Krieg des Regimes Putins gegen die Ukraine heraushalten könne.
Die Rationalisierung dafür lag schon bereit. Gerhard Schröder hat die entsprechende Schuldzuschreibung unmittelbar vor dem russischen Einmarsch ausgesprochen, als er am 28. 01. 22 die deutsche Absage an Waffenlieferungen in die Ukraine zur Selbstverteidigung gegen einen möglichen russischen Angriff verteidigte und die ukrainische Kritik daran mit den Worten zurückwies: »Ich hoffe sehr, dass man endlich auch das Säbelrasseln in der Ukraine wirklich einstellt«. Die dreiste Täter Opfer-Umkehr war berechnet. Ihr Sinn war, der Ukraine schon vorab die Schuld für einen möglichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu geben und sie vor die Alternative zu stellen, entweder die auch aus Schröders Sicht berechtigten Forderungen Putins bezüglich der Annexion der Krim und der Abspaltung oder der Annexion von Luhansk und Donezk nach dem Muster von Abchasien und Südossetien anzuerkennen und die Oberherrschaft des großen russischen Bruders über das „kleinere Russland“, das die Ukraine in Putins rassistisch-völkischer Weltanschauung darstellt, zu billigen oder die Ukraine sei selber schuld, wenn Russland einmarschiere.

„Frieden“ in Unfreiheit und Ungleichheit

Es fehlte gar nicht viel und Putins Berechnung wäre aufgegangen. Denn nahezu das gesamte politische Establishment hierzulande einschließlich des Kanzlers Scholz, spielte Putins Spiel mit und redete in Bezug auf die Ukraine und Nord Stream2 wie sein Stellvertreter (Schröder) in Deutschland, selbst dann noch, als die Invasion der russischen Truppen in die Ukraine schon begonnen hatte. Erst danach kam es völlig unerwartet infolge des ungeheuren Drucks der westlichen Verbündeten zur drastischen Kehrtwendung der Bundesregierung. So unerwartet sie für die Deutschen kam, so unerwartet muss sie auch für Putin gewesen sein, der bis dahin zu Recht davon ausgehen konnte, dass seine Berechnung aufgehen und der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine für das deutsch-russische Verhältnis folgenlos bleiben würde. Infolgedessen hat die deutsche Regierung aufgrund der eingeübten deutsch-russischen Kollusion eine Mitschuld daran, dass es zum Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine kommen konnte. Sie hat außerdem auch durch ihre unzureichenden und verspäteten Waffenlieferungen sowie durch ihre unzureichende und selbstwidersprüchliche Sanktionspolitik eine Mitschuld daran, dass die Ukraine dem faschistisch motivierten russischen Angriff zu wenig entgegensetzen kann, um sich auf Dauer selbst verteidigen zu können. Alles in allem muss man den Eindruck gewinnen, die Politik der Regierung Scholz möchte nichts lieber, als dass die Ukraine schnell kapituliert, damit wieder der „Frieden“ in Unfreiheit und Ungleichheit herrscht und das Geschäft ohne Friktionen weiterläuft, dass sie aber um der besseren Außendarstellung willen das Gegenteil erzählt und ihre Erzählung mit folgenlosen Bettelbotschaften an Putin bekräftigt.

Nach dem plötzlichen politischen „Paradigmenwechsel“ der Bundesregierung am 28.02.22 hörten wir sämtliche deutschen Regierungspolitiker klagen, Putin sei urplötzlich unzurechnungsfähig geworden. So erklärte Finanzminister Lindner (FDP) kürzlich der „Rheinischen Post“: „Wer kann Wladimir Putin noch ausrechnen? Ich nicht“. Der Spiegel stellt am 28.02.22 die Frage. „Ist Putin verrückt geworden.“ Die Funktion solcher Spekulationen über Putins Geisteszustand scheint mir offensichtlich zu sein. Sie dient der Schuldabwehr für das Versagen der deutschen Politik. Man gibt vor, Putin habe eine alle völlig überraschende, irrrationale Politikwende vollzogen und rechtfertigt auf diese Weise sowohl die plötzliche Kehrtwende der deutschen Politik als auch die ihr vorangegangene Politik. Sie sei vorher angemessen und rational gewesen, weil Putin vorher berechenbar und rational gehandelt habe. Der urplötzliche politische Paradigmenwechsel sei ebenfalls vernünftig und rational, weil Putin plötzlich unberechenbar und verrückt geworden sei. So hat man immer Recht.

Bild: Clifford K. Berryman auf wikimedia commons

Rechthaberei auf Kosten der Wahrheit

Aber die Rechthaberei geht auf Kosten der Wahrheit. Wahr ist nämlich, dass Putin mit Schläue und Gewieftheit schon seit langem dasselbe Ziel der Wiederauferstehung des großen „einigen“ Russlands verfolgt, wozu als Kern die Dreieinigkeit der russländischen Brudervölker Russland, die Ukraine und Weißrussland gehören, und wahr ist auch, dass man hierzulande mehr als ein Jahrzehnt lang den Kopf in den Sand gesteckt hat und nicht sehen und hören wollte, mit wem man es zu tun hatte, nämlich einem extrem autoritären Charakter2 mit einem faschistischen Wunschbild3 , der die Kränkung seines kollektiven Narzissmus, die der Zusammenbruch des großrussischen Imperiums (der UdSSR) für ihn bedeutete, niemals verwunden hat. Putin hat das auch in seiner Rede zur Lage der Nation im April 2005 ganz offen ausgesprochen, als er den Zerfall der Sowjetunion 1990 „die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte und hinzufügte: „45% unseres Territoriums haben wir damals verloren“. Damit gab er damals schon zu verstehen, dass er mindestens auch Weißrussland, die Ukraine, Georgien, die baltischen Staaten, Kasachstan als unsere Gebiete ansieht, deren Verlust er innerlich hinzunehmen noch keineswegs bereit ist.

Noch deutlicher äußerte sich der russische Außenministerminister Lawrow in diesem Jahr, als er die Länder Mittel- und Osteuropas als „durch den Zusammenbruch der Warschauer Vertragsorganisation und der Sowjetunion verwaiste Gebiete“ nannte, die „herrenlos“ seien. Das ist durchaus als Drohung des Herren zu verstehen, der Herrenlosigkeit der „verwaisten Gebiete“ ein Ende zu bereiten, damit die Identität des russischen Herren keinen Schaden nehme und die Welt vor dem Chaos der Herrenlosigkeit gerettet werde, ganz gleich was die herrenlosen Anderen wünschen.

Es „war primär Geschäftsinteresse“

Der Führer Putin und sein Außenminister eifern, angetriebenen von einem unbändigen beschädigten kollektiven Narzissmus, einem faschistischen Wunschbild nach. Es stellt darauf ab, die Schädigung des kollektiven Narzissmus zu reparieren und greift nach allem, „was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in Übereinstimmung mit den narzisstischen Wünschen bringt, dann aber womöglich auch noch die Realität so modelt, dass jene Schädigung ungeschehen gemacht wird“3a. Damit ist das Ziel benannt, um das es Putin geht: Einsammeln der „verwaisten“ russländischen Erde sowie Liquidierung jeglicher mit diesem Herrschaftsanspruch nichtidentischer, demokratisch-emanzipatorischer „Elemente“, wo und wann immer es geht. So geht er seit Jahren zu Werke. Er sammelt ein und mordet, was sich nicht fügt. Ich erinnere an den Einmarsch überlegener russischer Truppen in Georgien mit dem Resultat der Abtrennung der unter russischer Kontrolle stehenden georgischen Landesteile Südossetien und Abchasien, die er zu unabhängigen Republiken erklärte, sodann an die Abspaltung des von russischen Truppen besetzten Transnistrien von Moldawien und die Unabhängigkeitserklärung der transnistrischen Republik, den barbarischen Krieg Putins auf der Seite des Diktators Assad und des islamfaschistischen Regimes des Iran gegen die anfänglich demokratische Revolution in Syrien, an die Annexion der ukrainischen Krim anno 2014, an den ebenfalls seit 2014 anhaltenden Versuch Putins, mit Luhansk und Donezk weitere Teile vom ukrainischen Staatsgebiet abzutrennen und wie Abchasien und Südossetien als formell unabhängige Staaten unter russische Kontrolle zu bringen.

Der vorläufige Höhepunkt dieser Politik der Rückeroberung russländischer Erde ist die gegenwärtige Invasion in die Ukraine, um diese, weil der Versuch der Abtrennung von Luhansk und Donezk von der Ukraine am Widerstand der demokratischen Republik Ukraine scheiterte, als ganze zum „Protektorat“ ihres – in Putins Augen – „großen Bruders“ Russland zu machen. Selbstverständlich gehört auch der Bau von Nord Stream 2 zu Putins Plan der Rückeroberung der seiner Auffassung nach „urrussischen“ Ukraine. Wenn man Putin über einen so langen Zeitraum „falsch eingeschätzt“ hat, stellt sich die Frage, warum man das tat und warum die deutsche Regierung selbst dann noch daran festhielt, als der Krieg schon begonnen hatte und sich auch jetzt (12. 03. 22) immer noch weigert, den Öl- und Gasimport aus Russland zu stoppen, mit dessen Einnahmen Russland das Massenmorden in der Ukraine finanziert und warum die deutsche Regierung sich weiterhin weigert, der ukrainischen Bevölkerung angemessene Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern. Adorno hat darauf in seinem Vortrag „Erziehung nach Ausschwitz“ (1966) die Antwort gegeben. Er fragt darin, warum im Nationalsozialismus nur „ganz Wenige sich regten“, und gibt die Antwort: Es „war primär Geschäftsinteresse: dass man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt“ und um ihn nur ja nicht zu gefährden, „sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden. Das Schweigen unterm Terror war nur dessen Konsequenz. Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, dass nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte, darauf machen sie stets erneut die Probe.“4

Rücksichtslose politische Rationalisierung

Der Folterknecht Putin hat schon viele solcher Proben gemacht. Alle gingen gut für ihn aus. Niemand stellte sich ihm entgegen und bot ihm entschlossen Einhalt oder brach auch nur das Geschäft mit ihm ab. Stets redeten sich Politiker die Sache schön, und die ungeheure Zahl der Mitläufer nahm es gerne hin. Wie hätte das Putin nicht ermutigen sollen, den Krieg zu riskieren? Wie hätte es ihn nicht ermutigen sollen, darauf zu setzen, dass im Westen, allen voran in Deutschland, das Geschäftsinteresse obsiegen und man die Ukraine mit guten Worten des Trostes fallen lassen werde? So ist es gekommen. Der Bundeskanzler der Nord Stream2, nicht beenden wollte, als die rechte Zeit dazu war, der dann den prospektiven Opfern des kommenden Krieges keine angemessenen Selbstverteidigungswaffen liefern wolle, als das den Krieg noch hätte verhindern können, weigert sich auch jetzt wieder, wo es allerhöchste Zeit dazu ist, einem Importstopp für Öl- und Gas aus Russland zuzustimmen. Begründet wird das allerorten damit, dass sonst der innere „soziale Frieden“ gefährdet würde.

Theodor W. Adorno

Doch was sie „sozialen Frieden“ nennen, ist aber nur die „Zusammenrottung von Erkalteten“(ibd.), die ihre Erkaltung mit Rationalisierungen überhöhen. Wären die Beschützer des deutschen sozialen Friedens nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit Anderen außer mit den Wenigen, mit denen sie eng verbunden sind, geschieht, hätten sie die Entwicklung, die in diesen Krieg führte, nicht hingenommen. Sie hätten sehr viel früher bemerkt, mit welcher Art von Macht, Machthaber und Ideologie sie es zu tun haben und dass mit ihm kein „sozialer Frieden“ möglich ist außer dem Frieden von gleichgeschalteten Ungleichen. Durch das Bestreben rücksichtloser politischer Rationalisierung wird der leibhaftige moralische Impuls zur Solidarität mit dem quälbaren Leib konterkariert. Das Bessere lebt „in der spontanen Regung, die, ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, dass das Grauen weitergeht“ und „in dem theoretischen Bewußtsein, das durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergehe.“ Dieser Widerspruch ist der Focus der Moral heute. Spontan reagiert das Bewusstsein soweit, „wie es das Schlechte erkennt, ohne mit der Erkenntnis sich zu befriedigen“5 und durch Rationalisierungen darüber betrügt.


*  Noch zu Beginn des Krieges wurde auf einer Demonstration in Berlin gegen den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine eine „Zeitung gegen den Krieg“ verteilt, die eine einzige Erklärung dafür war, warum Putin keinen Krieg will und in Wahrheit die Nato der Aggressor sei. Es war zwar als Herausgeber nicht „Die Linke“ angegeben, aber das Impressum war ein who is who der „Linken“, darunter auch Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi, der sich später davon distanzierte und Sahra Wagenknecht wegen nachhaltiger Realitätsverzerrung und Empathielosigkeit, die sich darin zeige, kritisierte.

1 So Merz in einer gemeinsamen Pressekonferenz zum Abschluss der zweitägigen Klausurtagung CSU-Landesgruppe im Bundestag, wo er als Gast eingeladen war.
2  Zum autoritären Charakter: N. Ackermann, Th. W. Adorno u. a., Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil, Amsterdam 1977 Erich Fromm, Studien über Autorität und Familie, Sozialpsychologischer Teil (1936) wiederabgedruckt in: Erich Fromm Gesamtausgabe Bd1, Analytische Sozialpsychologie (1980)
3  Zum faschistischen Wunschbild Putins s. Heinz Gess, Ukraine – Zwischen Krieg und Frieden, in: Kritiknetz _ Zeitschrift für kritische Theorie der Gesellschaft Link: https://www.kritiknetz.de/neo-faschismusundrassismus/1505-. Über die Korrelation von autoritärer Charakterstruktur und Faschismus auf der Faschismusskala siehe Ackermann, Adorno, a. a. o. Die Disposition zum Faschismus wird nach der Faschismusskala durch eine Reihe von Variablen definiert, von denen jede eine zentrale Tendenz zum Faschismus bildet. Die Variablen sind: Konventionalismus, autoritäre Untertänigkeit, aggressive Autoritätssucht, Abwehr der Intrazeption, Aberglaube und Stereotypie, Macht und Robustheit, Destruktivität und Zynismus, Projektion, ichfremde Sexualität.
3a Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders. Gesammelte Schriften 10.2 Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1977, S. 564
4  Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders. Gesammelte Schriften 10.2 Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1977, S. 687.
5  Alle Zitate in dieser Passage: Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966, S. 279 f


Der Beitrag erschien zuerst auf Kritiknetz – Zeitschrift für Kritische Theorie der Gesellschaft

Heinz Gess
Prof. Dr. Heinz Gess arbeitete im Fachbereich Sozialwesen an der FH-Bielefeld, er ist Soziologe und Herausgeber der sozialwissenschaftlichen Online-Zeitschrift Kritiknetz – Zeitschrift für kritische Theorie der Gesellschaft.

2 Kommentare

  1. Etwas und Jemanden verstehen zu können und verstehen zu wollen, ist eine Grundhaltung der Aufklärung. So offenbart der Sprachgebrauch, der in der Diskussion über den Ukrainekonflikt diejenigen, die nicht der eigenen Befindlichkeit das Wort reden, herabsetzend als „Putinversteher“ bezeichnet, bei denjenigen, die diesen Begriff herabsetzend verwenden und schreiben, ein unaufgeklärtes bzw. die Aufklärung herabsetzendes Denken.

    Im Begriff „Putinversteher“ wird das Verstehen verächtlich gemacht. Ob sich der Autor des Beitrages „Biedermanns sozialer Frieden. Zur deutschen Politik in Zeiten des Krieges“ selbst als „Putinversteher“ sieht? Jedenfalls beansprucht er für sich in geradezu obsessiver Weise, Putin zu verstehen – allerdings lässt sein Verständnis weniger einen Aufklärungswillen als Befindlichkeiten erkennen.

    Befindlichkeiten zu äußern, ist in diesen Zeiten verständlich und mitunter auch nachvollziehbar. Hilfreich für das aufgeklärte Verständnis politischer Prozesse ist es allerdings weniger.

    Ich habe den Beitrag jetzt mehrfach an mich herangelassen. Er ist eine Text obsessiver Befindlichkeit, ein Machwerk der Distanzlosigkeit, Vorurteile, Rechthaberei, Unterstellungen, Übergriffigkeiten, Beschimpfungen, Schuldzuweisungen, der Ignoranz politischer Prozesse usw.usw. – kurz einer Seele, die etwas auf ihr Lastendes loswerden will ohne Rücksicht auf Verluste bei sich und anderen.

    Solche Texte gibt es und man mag sie psychologisch erklären können. Zur Erklärung und Deutung der Welt oder der Prozesse leisten sie indes nur einen mittelbaren und begrenzten Beitrag,
    Als politische Orientierungshilfe oder als Beitrag zu einer aufgeklärten Diskussion sind sie nicht wirklich tauglich.

  2. Der Kommentar von Herrn Weber zu meinem Text ist tatsächlich „ein Machwerk der Distanzlosigkeit, Vorurteile, Rechthaberei, Unterstellungen, Beschimpfungen, Übergriffigkeiten“ (Weber) mir gegenüber, das übler kaum sein kann. Ihn zeichnet aus, dass er mit keinem Wort auf meine Argumente und Zitate, mit denen ich sie belege, eingeht, sondern sich in Beschimpfungen eines von ihm erfundenen Pappkameraden, den er mit mir verwechselt, ergeht.
    Hier spricht offensichtlich einer, der mich hasst, obwohl er mich persönlich gar nicht kennt und nichts von mir weiß. Hier spricht einer von meiner Motivation, die er nur falsch auf mich projiziert, um dann wild draufloszuschlagen. Ich vermute, Thomas Weber fühlt sich erwischt. Es hat ihn getroffen, aber statt in sich zu gehen, schlägt er ‚wütend zurück‘, als hätte ich ihn persönlich beleidigt.
    Herr Thomas Weber irrt. Nein! ich bin kein „Putin-Versteher“. Ich habe das Wort auch nicht benutzt. Er unterstellt das wieder nur. Was ich aber sehr gut verstehe, ist die völkische Ideologie, mit der Putin und sein Außenminister den Angriff auf die souveräne Ukraine, deren Staatsbürger mit riesengroßer Mehrheit nicht zum russischen Imperium gehören wollen, rechtfertigt. Diese völkische Identitätsideologie, die ich in der Tat strikt ablehne, ja auch hasse, mitsamt ihrer Geschichte kenne ich sehr genau, und ich weiß um ihre verheerenden Wirkungen. Sie hat zu wirken nicht aufgehört, wie wir jetzt im Blutland Ukraine wieder schmerzlich erleben müssen; jener Ukraine, in der Stalin in Verfolgung seiner Nationalitätenpolitik im Holodomor schon einmal vier Millionen Menschen dem Tod preisgegeben hat. Ja, meine Seele will – im Unterschied zu der Webers, den all das nicht zu rühren scheint, etwas Lastendes loswerden. Was auf ihr lastet, ist die Erkenntnis, dass viele, viel zu viele Menschen, auch hierzulande um ihres lieben „sozialen Friedens“ willen diese Ideologie immer noch hinnehmen und für sie ‚volles Verständnis‘ im Sinne von Akzeptanz zeigen, wenn sie nur von Mächtigen, die ihnen etwas zu bieten haben (wie etwa Gas, Öl und Kohle) oder die mit ihren Waffen drohen können, zur Maxime ihres Handelns gemacht wird. Was auf ihr lastet, ist die dringliche Erkenntnis, dass es anders werden muss, weil anders die Welt zugrunde gerichtet wird. Eben deswegen greift der Aufsatz den Biedermann und die Biederfrau hierzulande an, die das zwei Jahrzehnte lang haben wachsen lassen und den Kopf entschlossen in den Sand steckten. Könnte es nicht sein, dass Sie, Herr Weber, dazu gehören und sich von einem gewissen linken Jargon haben täuschen lassen, obwohl doch Putins Reden in den beiden letzten Jahren in dieser von mir gemeinten Hinsicht eindeutig waren, und die seines philosophischen Ratgebers Dugin sowieso.
    Ideologien setzen sich nicht ganz von alleine durch. Sie brauchen dazu ihre politisch mächtigen Vollstecker und ihre vielen gleichgeschalteten Mitläufer. Putin und seine Gefolgschaft sehe ich als solche Vollstrecker und eben deswegen greife ich in „Biedermanns sozialer Frieden“ die deutsche Politik an, die viel zu lange die Augen davor verschloss und sich heute immer noch schwertut, sich ihr Versagen einzugestehen. Sie machen sich mit ihrem Beitrag zum Mandarin jener, die nicht hören und sehen und weitermachen wollen. Dazu passt, dass Ihr Kommentar mit keinem Wort auf meine Argumenten und Zitate, mit denen ich sie belege, eingehe, sich sich darin erschöpft, mich persönlich zu beschimpfen. Sie schreiben, Sie hätten meinen Beitrag auf sich wirken lassen. Das sehe ich anders: Mein Betrag ist durch ihren dicken Abwehrpanzer nicht im mindesten durchgedrungen, sondern hat nur all ihre Abwehrkräfte geweckt, ihre gesamte Panzerung angespannt, damit nur ja nicht durchkommt, was die Selbstbesinnung anregen könnte.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke