Von wem fühlt sich Putin verstanden? Von Peking im Osten und Rechtsextremisten im Westen

Wer weiß schon, was in den Kremlbunker vordringt, was dort wie gewichtet, was lächerlich gemacht und was ernst genommen wird. Schon deshalb empfiehlt es sich, eilige Engführungen der politischen Debatte nicht einfach mitzumachen. Der Mainstream, dafür gibt es ihn, weiß Bescheid. Aber „Augen geradeaus“ lässt den Horizont schrumpfen. In viele Richtungen zu schauen und zu denken, kann den Realitätsgehalt der Wahrnehmungen verbessern.

Deutsches Historisches Museum, Ausstellung „X für U: Bilder, die lügen“
(Foto: Fabian Arlt)

Wenn ein amerikanischer Präsident, der seine Wahlniederlage nicht anerkennen will, zum gewaltbereiten Sturm auf das Kapitol animiert,
wenn ein Technologie-Papst wie Peter Thiel der Demokratie eine klare Absage und deren aggressivsten Gegnern massive finanzielle Unterstützung erteilt,
wenn die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse von Ungarn bis Texas rechtspopulistischen Angriffen ausgesetzt sind,
wenn rechtsextreme Terrortrupps Jagd auf Migranten und politische Gegner machen
– sind das Signale, die dem Kreml sagen: Du bist isoliert, denn niemand kann verstehen, dass du deine politischen Kritiker unterdrückst und ausschaltest; du stehst alleine, denn niemand außer dir findet Herren-Mentalität und Freund-Feind-Denken gut; du bist der einzige, der offene Gewalt für ein Mittel der Politik, Brutalität für notwendige Abschreckung und kriegerische Aggression unter Umständen für legitim hält?

Eine eingängige Erzählung, aber…

Als vorherrschende öffentliche Meinung hat sich festgesetzt, dass es die dialogorientierte, kooperationsbereite und ökonomisch interessierte Politik westlicher Regierungen war, die das Kremlregime zu dem kriegerischen Überfall auf die Ukraine geradezu eingeladen habe. Weil europäische Länder, allen voran Deutschland, friedliche Koexistenz mit Russland zum beiderseitigen Nutzen praktizierten und davon nicht lassen wollten, habe es die Kremldiktatur wagen können, ihre großrussischen Rache- und Expansionsgelüste in immer schlimmere Taten umzusetzen. Das alte russische Rezept, demokratiefeindliche Unterdrückung nach innen und gewalttätige Angriffe nach außen, das hätte man doch sehen müssen, hat in Putin einen Chefkoch gefunden, vergleichbar dem mit Hitler paktierenden Stalin, usw. usw… Eine eingängige Erzählung, aber wie realitätstüchtig ist sie?

Die klassische rechtspopulistische Methode, am Mainstream anzuknüpfen und ihn – garniert mit treuherzig-perfider Entrüstung „das wird man doch noch sagen dürfen“ – auf niederträchtige Weise zuzuspitzen, der gefeuerte Bild-Chefmacho Julian Reichelt beherrscht sie noch: „Während die Ukraine im Horror von Angriffskrieg und Völkermord versinkt, schlendert Angela Merkel, Architektin dieses Wahnsinns, ganz entspannt mit Frau Schavan, die sie immer gut versorgt hat, durch Florenz.“ Kein Zweifel, er hat nichts verlernt. Hat er schon getwittert, dass die Ostermarschierer den Weg gebahnt haben für den russischen Einmarsch in die Ukraine, oder kommt es erst noch?

Reichlich Kapital und eine mafiöse Moral

Die Zeitgeschichte der politischen Demokratien des Westens ist nicht nur von individuellen Freiheiten und menschenfreundlicher Pluralität geprägt, sondern auch von einer wirtschaftlich getriebenen Globalisierung, gestützt auf die ursprüngliche Akkumulation ökologischer Blindheit und sozialer Ungerechtigkeit. Vor allem aber haben – mindestens seit den Krisen des Finanzsystems, des Klimas und der Migration, aber auch schon in der strukturellen Arbeitsmarktkrise am Ende des 20. Jahrhunderts – rechtsextreme Weltbilder viel mehr Aufmerksamkeit und verstärkten politischen Zulauf bekommen. Das braune Erwachen betrifft führende Nationen wie die USA, Frankreich, England, Deutschland und viele andere, selbst skandinavische Länder. In der Nachbarschaft, in der Öffentlichkeit, in Parlamenten, sogar in Regierungen haben antidemokratisches Reden, frauenfeindliches Schwadronieren, rassistisches Verhalten, braunes Organisieren und nationalistische Hasskriminalität bis hin zu Morden nachweisbar zugenommen.

Die Frage stellt sich, wie viel Bestätigung die Kremldiktatur daraus ableitet, dass in den USA und in Europa genau die Abkehr von Humanismus und Aufklärung vermehrt Anziehungskraft ausübt, die in das eigene Weltbild und zu den eigenen politischen Handlungsweisen des Kreml passt?
Warum spielt im öffentlichen Diskurs die Frage keine Rolle, wie viel Motivationsschub für die Kremldiktatur davon ausgeht, dass im Westen bis in die Spitze führender Konzerne und bis in höchste politische Ämter hinein Brüder im demokratiefeindlichen, nationalistischen, rassistischen, gewalttätigen Geiste auftreten?
Wie sehr stärkt es Putin, dass er sein Verständnis von Politik – als Kumpanei zwischen Kerlen mit keinerlei Skrupel, reichlich Kapital und einer mafiösen Moral, immer auf der Jagd nach Selbstbedingungsgelegenheiten und auf der Hut vor Verrätern – in westlichen Ländern auf der Überholspur sieht? Es sind Peking im Osten und der Rechtsextremismus im Westen, die dem Krieg des Kreml Rückendeckung geben.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

3 Kommentare

  1. Lieber Hans Jürgen Arlt,
    wie Du siehst, habe ich mir mit dem Kommentar einige Zeit gelassen; nun treibt es mich aber doch um, mich zu Deinen Gedanken zu äußern.
    Vielem von dem was Du in Bezug auf den Westen schreibst, kann ich zustimmen. Mein Problem habe ich mit dem Satz „Warum spielt im öffentlichen Diskurs die Frage keine Rolle, wie viel Motivationsschub für die Kremldiktatur davon ausgeht, dass im Westen bis in die Spitze führender Konzerne und bis in höchste politische Ämter hinein Brüder im demokratiefeindlichen, nationalistischen, rassistischen, gewalttätigen Geiste auftreten? “
    Meine kurze Antwort: Weil es aktuell irrelevant ist.
    Ich frage mich nämlich, welche Konsequenzen ich aus diesem Satz ziehen soll?
    Natürlich müssen wir weiter kritisch auf aus selbst blicken – nur nutzt das im Moment weder den Ukrainern, noch wird es Putin und seine Gesellen stoppen.

    Meine Überzeugung: Aktuell gibt es nichts was man gegenseitig Aufrechnen kann und auch die Ursachenforschung hilft nicht so richtig weiter. Ich nehme einen Aggressor war, der rücksichtslos seine Ziele verfolgt und dabei vor nichts zurückschreckt. Im übrigen fürchte ich, dass sich China Putin zum Beispiel nimmt und wir uns danach wieder fragen, warum wir so lange weggeschaut haben.
    Die für mich schmerzliche Erkenntnis:
    Putin entzieht sich in seinem Denken unserer (meiner) Logik. Deshalb macht es auch keinen großen Sinn, nach Erklärungsmustern für sein Verhalten zu suchen.
    Ob und wie wir ihn stoppen können, weiß ich leider auch nicht.

  2. Danke für die Kommentierung, lieber Wolfgang Rose, die sehr plausibel klingt und der ich trotzdem widersprechen will.
    „Putin entzieht sich in seinem Denken unserer (meiner) Logik. Deshalb macht es auch keinen großen Sinn, nach Erklärungsmustern für sein Verhalten zu suchen.“

    In wichtigen Fragen – was das Kremlregime stärkt und was es schwächt, gehört sicherlich dazu – lassen sich Öffentlichkeit und Politik nicht davon aufhalten, dass sie die Antwort nicht kennen, im Gegenteil, die Kommunikation blüht gerade deshalb auf, weil niemand etwas Genaues weiß. Ob das nützlich oder schädlich ist, mag dahin gestellt bleiben. (Ich halte es für nützlich, weil es neben wissenschaftlichen Anstrengungen ein Weg zu besseren Antworten sein kann, öffentlich zu diskutieren, sich vernünftig zu streiten.)

    Für entscheidend halte ich: Nichtwissen schützt nicht vor Handelnmüssen. Welche Deutungen sich durchsetzen, welche Erklärungen als Ersatz für Nichtwissen den Mainstream bestimmen, hat Konsequenzen für unsere Handlungsweisen. Wenn sich die Auffassung etabliert, dass es die gesprächs- und kooperationsbereite Politik westlicher Regierungen war, die dem Kremlregime die Möglichkeit bot, diesen Aggressionskrieg gegen die Ukraine zu riskieren, dann hat das sehr praktische Folgen: Nicht nur werden alle, die sich für eine Politik der friedlichen Koexistenz stark gemacht haben, zu moralisch Angeklagten; sondern vor allem wird eine solche Politik für die Zukunft desavouiert, Militarismus, Nationalismus, Freund-Feind-Praktiken erscheinen als die grundsätzlich angemessenere, bessere Politik.
    Geschrieben habe ich eine Plädoyer dafür, auch andere Deutungen ins Auge zu fassen, in die Überlegungen einzubeziehen und für die politischen Konsequenzen zu berücksichtigen. Weil es – und hier sind wir auseinander – selbst angesichts der gleichzeitigen Barbarei des Kreml in der Ukraine – nicht irrelevant ist.

  3. Ich will an dem Punkt ansetzen, „dass es die gesprächs- und kooperationsbereite Politik westlicher Regierungen war, die dem Kremlregime die Möglichkeit bot, diesen Aggressionskrieg gegen die Ukraine zu riskieren“. Das ist im Moment die prägende Deutung, die ich teile. Ist mit dieser Kritik diese Art von Politik desavouiert? Ich denke nein. Denn diese Politik kann ich umsichtig anwenden oder riskant und fahrlässig.
    Der Kern meines Anliegens: Genau zu differenzieren, ob diese Art von Politik im Prinzip gescheitert ist oder ob sie „nur“ fahrlässig und falsch angewandt wurde.
    Ich denke, es geht darum, das Prinzip dieser sehr sinnvollen und zudem erfolgreichen Politik der Entspannung, des Dialogs und der Kooperation vor denen zu retten, die sie falsch angewandt haben.
    Unter anderem Willy Brandt und Egon Bahr haben diese Politik konzipiert und sehr erfolgreich praktiziert. Warum gelang ihnen das? Sie kombinierten Verhandeln mit Stärke; abgesehen von einem waffenstarrenden Nato-Bündnis gab die Bundesrepublik damals etwa vier Prozent seines BIP für die Bundeswehr aus. Zweitens hatten sie es mit der damaligen Sowjetunion unter Leonid Breschnew etc. mit einem System zu tun, das auf Erhalt seines Gebietes und seiner Macht und nicht auf Expansion aus; wie heute Putin mit seinen großrussischen Plänen, die er nie verborgen hat. Drittens: Die damalige Sowjetunion hat sich zumindest in Europa immer an die vereinbarten Regeln und Verträge gehalten. Und viertens war diese Politik mit „dem Westen“ abgestimmt; da gab es Spannungen, aber keine politischen Risse.
    Mein Schluss daraus: Mit einem solchen Gegenüber und unter solchen Bedingungen kann eine solche Entspannungspolitik erfolgreich praktiziert werden.
    Und nun zur heutigen Situation: Was haben dagegen Schröder, Steinmeier, Merkel und andere gemacht? Sie haben, verglichen mit damals, alles falsch gemacht, was falsch gemacht werden konnte. Sie haben diese Politik der Kooperation und des Dialoges wie Geisterfahrer auch dann noch fortgesetzt als das Gegenüber die Regeln bereits mehrfach demonstrativ gebrochen hatte — die Liste der geradezu provozierenden Regelbrüche war ja bereits zum Zeitpunkt der Besetzung der Krim ziemlich lang. Und sogar nach der Krim-Besetzung wurde, abgesehen von kritischen Worten, weitergemacht. Ihr zweiter Fehler: Diese, ihre Entspannungspolitik wurde zunehmend zum Alleingang, denn die USA waren dagegen und zunehmend auch Regierungen in der EU. Von einer abgestimmten westlichen Politik konnte keine Rede mehr sein. Putin konnte also immer auf eine zerstrittene EU hoffen. Und der dritte Fehler: Ich denke irgendwann einmal machte vor allem Schröder aus dem Prinzip der Entspannungspolitik ein von politischen Überlegungen befreites Geschäftsmodell, für sich sogar ein persönliches und andere wie Merkel, Steinmeier etc. sahen darin zumindest ein Geschäftsmodell für die deutsche Industrie, die sich in Jahrzehnten unter anderem an das besonders billige Gas aus Russland gewöhnt hatte und davon nicht mehr lassen wollte.
    Die Konsequenz daraus: Nicht das Prinzip der Entspannungspolitik ist hier gescheitert, sondern die konkreten Politiker und Politikerinnen, die es so angewandt haben, dass das rein Wirtschaftliche zu Lasten aller politischen Kriterien und Bedenken (Sorge um Souveränität und Sicherheit, Bemühen um gemeinsame EU-Haltung etc.) überhand nahm. Insofern darf analysiert und daraus gelernt werden, lieber Wolfgang Rose: mit Brandt und Bahr wie Entspannungspolitik klug und nicht leichtfertig angewandt wird, mit Schröder, Steinmeier und Merkel wie sie zumindest zu einem Krieg beitragen kann.

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