Klaus von Dohnanyi: «Ich habe vor dem Krieg gewarnt»

Foto: Udo Grimberg auf wikimedia commons

Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi ist ein politisches Urgestein. Im Januar 2022 veröffentlichte er sein jüngstes Buch «Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche». Darin warnte er vor einem Krieg in der Ukraine. Am 22. April, zwei Monate nach Kriegsausbruch, interviewte ihn der Norddeutsche Rundfunk. Die Redaktion Infosperber stellt seine wichtigsten Aussagen zur Diskussion. Sie sind wörtlich zitiert und deshalb teilweise umgangssprachlich. Die Interview-Aussagen hat David Huber transkribiert. Bruchstuecke übernimmt hier den Beitrag von Infosperber inklusive der Zwischentitel.

Es ist bedrückend, dass man den Krieg nicht verhindert hat

Vor einem russischen Angriff auf die Ukraine habe ich im Buch ausdrücklich gewarnt. Ich schrieb: Wenn die Ukraine weiterhin in die Nato getrieben wird – und das ist amerikanische Politik – wenn das geschieht, dann kann es einen Krieg an den Ostgrenzen Europas geben, da wo er jetzt auch stattfindet, nämlich an den Ostgrenzen in erster Linie der Ukraine. Das haben amerikanische Fachleute – insbesondere der heutige Geheimdienst-Chef von Präsident Biden – ja ausdrücklich im Jahr 2019 geschrieben. Und ich finde es bedrückend, dass man es hat kommen sehen und es nicht verhindert hat.

Auch kurzfristig wäre der Krieg zu verhindern gewesen

Der amerikanische Präsident hätte nur sagen müssen, «Präsident Putin, wir werden jetzt, nachdem wir sehen, dass Sie es offenbar ernst meinen, über die Zukunft der Ukraine mit Ihnen reden». Das hatte Biden ausdrücklich verweigert. Putin hatte ja im Dezember 2021 an die Amerikaner geschrieben: «Ich brauche es diesmal schriftlich. Ich möchte schriftlich von Ihnen wissen, wie wir mit der Ukraine in Zukunft umgehen wollen.» Daraufhin hat Präsident Biden gesagt: «Über diese Frage werden wir mit Ihnen gar nicht verhandeln.» Und als das passierte, sag ich mal, da hätte es wirklich einen Aufstand auf deutscher Seite geben müssen. Wir hätten sagen müssen: «Das kann doch nicht wahr sein. Denn wenn es jetzt wirklich zu einem Krieg kommt, wie ihr es selber gesagt habt, ihr Amerikaner, dann führt das natürlich auch Deutschland mitten in diese Problematik.»

Die Etikettierung als «Putin-Versteher» halte ich für Quatsch

Ich bin der Meinung, wenn man seinen Gegner nicht versteht, kann man auch nicht mit ihm umgehen. Ich halte diese These von den sogenannten Putin-Verstehern für Quatsch. Wenn ein Fussballtrainer nicht weiss, wie sein Trainer auf der anderen Seite trainiert, mit welchen taktischen Finessen er spielen will, dann kann er auch nicht als Sieger hinterher vom Platz gehen. 
Das heisst, man muss seinen Gegner immer verstehen. Und diese These, man sei Putin-Versteher oder Biden-Versteher oder Xi-Versteher oder Macron-Versteher, die halte ich für Quatsch. Natürlich muss ich Macron verstehen. Macron will Kern-Energie. Macron will seine nuklearen Waffen bewahren. Es ist nicht unsere Politik, aber wir müssen ihn doch verstehen, um mit ihm umzugehen. 
Das habe ich in meinem Buch versucht klarzumachen, nämlich dass die USA ganz andere Interessen haben als wir, aber dass wir dennoch mit ihnen umgehen müssen.

Zur militärischen Antwort gehört die Bereitschaft, miteinander zu reden

Die militärische Antwort und miteinander reden sind keine Alternativen. Man muss beides tun. Natürlich muss man gegenwärtig, so wie es sich nun mal entwickelt hat, auch dafür sorgen, dass man militärisch im Notfall fähig und in der Lage wäre, sich zu verteidigen, obwohl das sehr schwer sein wird. 
Ich habe einmal eine Nato-Übung geleitet, im Auftrag von Bundeskanzler Helmut Schmidt, damals im Bunker noch in Bonn. Und ich habe erlebt, was da passiert: Sobald die Russen ein bisschen vorrücken, dann werfen die Amerikaner auf deutschem Boden taktische nukleare Waffen ab, damit die Russen nicht weitermarschieren können. Also ich weiss, was so etwas bedeutet. 
Aber man muss natürlich heute beides machen. Man muss über Verteidigung nachdenken und sie verbessern, und man muss unbedingt auch reden. Und dass gegenwärtig nicht wirklich geredet wird, insbesondere von der US-Seite nicht mit Putin geredet wird darüber, was man denn tun kann, um dieses Unglück einzugrenzen, das halte ich wirklich für einen grossen Fehler. Das Nicht-Reden ist leider mit amerikanischen Interessen vereinbar. Mit deutschen Interessen ist es nicht vereinbar.

Der UN-General-Sekretär müsste in Moskau ausloten, wie die Sicherheit der Ukraine garantiert werden kann

Herr Selensky – der Präsident der Ukraine – hat selber gesagt, er sei bereit, eine Neutralisierung der Ukraine in Kauf zu nehmen, wenn es dafür zu einem Waffenstillstand käme. Es wird eine schwierige Operation, weil Putin inzwischen viel erobert hat, aber das ist eine Möglichkeit. Selensky fügte hinzu: «Aber dann muss natürlich für uns eine Sicherheit gegeben werden.» 

Diese Sicherheit muss nach meiner Überzeugung nicht nur von USA und Europa und Russland gegeben werden, sondern auch von den Vereinten Nationen. Insofern hat Herr Guterres eine grosse Aufgabe, klarzumachen, ja, Präsident Putin, wenn es eine Neutralisierung gibt, dann werden wir mit dafür sorgen, dass dieses Land erstens neutral bleibt und zweitens gemeinsam von uns allen gesichert wird.

Verhandeln muss man in erster Linie mit Putin

Bundespräsident Steinmeier wollte in die Ukraine, aber wäre er nach Moskau gefahren? Verhandeln muss man nicht nur mit Herrn Selensky, verhandeln muss man gegenwärtig mit Putin. Er hat den Krieg angefangen. Dieser verbrecherische Krieg, den Putin begonnen hat, kann nur aufgefangen werden, wenn insbesondere zwischen den USA und Russland eine Einigung über die Ukraine stattfindet. Herr Guterres könnte dabei ja helfen. Aber dann müssen natürlich auch die USA bereit sein, darüber zu reden. Und ich fürchte, das ist nicht im Interesse der USA.

Es braucht ein Nachgeben auf beiden Seiten

Eine Verhandlungslösung könnte so aussehen, dass man auf beiden Seiten nachgibt. Putin müsste zugestehen, dass die von ihm anerkannten selbstständigen Republiken im Bereich des Donbass selbstständig bleiben und nicht von Russland annektiert werden. Putin müsste akzeptieren, dass die Ukraine sich an die EU ökonomisch und politisch anlehnt. Und der Westen müsste akzeptieren, dass die Ukraine nicht in die Nato kommt, und dass Putin eine Garantie bekommt, dass nicht eines Tages amerikanische Soldaten an der russischen Grenze patrouillieren. 
Das wäre nämlich die Folge, wenn die Ukraine als Ganzes in die Nato käme. Ein russischer Präsident ist sich – auch mit seinen innenpolitischen Überlegungen, die hat er ja auch –darüber im Klaren, dass für Russland nicht zu akzeptieren wäre, dass amerikanische Soldaten an der Grenze zwischen der Ost-Ukraine und Russland patrouillieren. Das muss man, glaube ich, im Westen verstehen. Und das gehört zum Verstehen der Interessen der anderen Seite, nämlich der Interessen der russischen Föderation, und nicht nur Putins. 
Der heutige CIA-Chef, also der Geheimdienst-Chef von Biden, hat ausdrücklich gesagt, er habe in Russland niemanden getroffen, er betonte, niemanden, der in dieser Frage die Meinung von Putin nicht teilt.

Die USA haben für die Nato-Expansion immer Druck ausgeübt

Was müssen wir jetzt tun, um den Bruch mit Russland nicht endgültig zu machen? Russland ist eine europäische Nation – zu einem grossen Teil. Also Moskau und St. Petersburg und so weiter haben immer nach Westen geschaut. Und wir haben sie jetzt auf die Seite Chinas gedrängt. Das war nicht sehr klug. Klug war die westliche Politik in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich. Ich mache meine Ausnahme für Deutschland, wir haben immer anders versucht. Aber die USA haben diesen Nato-Expansions-Druck eben immer ausgeübt.

Europa und die Europäer und die Deutschen müssen verstehen, dass wir gegenwärtig in Fragen der Sicherheit und der Aussenpolitik nicht wir selber sind, sondern dass es die USA sind, die das bestimmen, über die Nato und über ihre Einflussnahme in Europa, zum Beispiel auf die osteuropäischen Staaten und auf das Baltikum. Wir müssen begreifen, dass die USA da ganz andere Interessen haben. Die USA sind weit weg.

Ein Waffenstillstand nützt der Ukraine am meisten

Ich glaube, der Ukraine nützt man am ehesten, indem man mit dafür sorgt, dass es dort Waffenstillstand gibt, und die Zerstörung des Landes aufhält. Wir müssen dafür sorgen, dass wir eine Situation für einen Waffenstillstand in der Ukraine bekommen. Doch wenn wir immer mehr mit Waffen anfüttern, die dann auch auf die russische Seite hinübergreifen können, dann nützen wir weder Europa noch der Ukraine … Man muss gleichzeitig über Verhandlungen, Gespräche und Begegnungen ein Klima schaffen, in dem ein Frieden möglich ist. Frieden ist nicht selbstverständlich. Es war nie so und wird leider nie so sein. 

Auch in der Nato-Frage haben die USA andere Interessen als die Deutschen

Die Ukraine ist mitten in einem Krieg. Man muss wahrscheinlich auf dem entscheidenden Punkt – nämlich auf der Nato-Frage – nachgeben und die Ukraine neutralisieren, wie es Selensky heute selber einräumt. Das heisst, es ist höchste Zeit, dass Europa und Deutschland verstehen, dass die US-Interessen nicht unsere Interessen in Europa sind … Die EU hat eine direkte Grenze der EU mit Russland oben über Kaliningrad. Das kann doch gar nicht sein, dass unsere Interessen dieselben sind wie die der USA, die einen Atlantik dazwischen haben und 6’000 bis 8’000 Kilometer von Kiew entfernt sind.

Die USA verteidigen ihre eigenen Interessen – auch in Europa. Und das haben sie auch offen zum Ausdruck gebracht. Dass der französische Finanzminister vor einigen Jahren gesagt hat, Europa oder wir in Europa seien nur noch Vasallen – also tributpflichtige Abhängige – von den USA, war ja kein Zufall. Wir müssen mal kapieren, dass wir das ändern müssen durch ein offenes Gespräch mit den USA. Etwas mehr Selbstbewusstsein, etwas mehr Charakter, etwas mehr graden Rücken brauchen wir in Europa.
Wir haben natürlich auch gemeinsame Interessen, das ist völlig richtig.

Deutschland ist heute abhängiger von den USA als von Russland

Wir sind heute viel abhängiger von den USA, als wir abhängig sind von Russland. Und es ist ja auch interessant, dass diese angebliche Abhängigkeit bei der Gaslieferung – wenn man sie nüchtern betrachtet – doch zu der Einsicht führt, dass es immer die Ukraine war, die mehr Gas aus Russland einführen wollte. Haben Sie jemals gehört, dass die Ukraine gesagt hat: «Bitte nicht so viel Gas durch unsere Leitungen»? Im Gegenteil, die haben gesagt: «Macht nicht Nord Stream 2, denn das könnte zu unseren Lasten gehen.» Das war doch der Hauptgrund. Darauf hat Frau Merkel eine Vereinbarung getroffen mit der Ukraine, dass die Menge, die über die Ukraine weiter gesteuert wird, sich nicht ändern wird. Aber hat die Ukraine jemals gesagt: «Ihr macht Euch zu abhängig.»? Nie.

Biden steht unter dem Druck der Midterm-Elections

Präsident Biden hat – nach meiner tiefen Überzeugung – Verhandlungen mit Russland über die Zukunft der Ukraine nur deswegen abgelehnt, weil er mitten in einem Wahlkampf steht. Die USA wählen alle zwei Jahre ihr gesamtes Repräsentantenhaus und einen Drittel des Senats. Und Biden steht vor diesen Midterm-Elections, die im November dieses Jahres stattfinden und die faktisch jeden Präsidenten, kaum ist er gewählt, schon wieder in eine Wahl treiben. Biden war eigentlich in einer sehr schwierigen Lage. Denn er riskiert wirklich, dass er diese Midterm-Elections verliert, und dann hätte er nichts mehr zu sagen. 

Wir sind also gegenwärtig in der Hand eines Präsidenten, der gar nicht mehr frei ist, sondern der, um die Wahlen zu gewinnen, was ja auch sein gutes Recht ist, eigentlich eine Politik machen muss, die den Demokraten in den USA gar nicht entspricht, sondern eben den Republikanern. Und das alles muss man mal offen aussprechen. Ich behaupte ja nicht, dass ich mit meinem Buch immer Recht habe. Ich habe ja ausdrücklich gesagt: «Vielleicht habe ich ja auch Unrecht. Dann brauche ich eine Debatte.» Aber dass wir in Berlin keine Debatten mehr haben, das finde ich betrüblich und beängstigend.

Mit Sanktionen werden wir weder Russland noch China verändern

Die realistische Politik besteht darin, dass man versucht, die eigenen Werte zu bewahren, Werte bei anderen anzumahnen, wenn das vernünftig ist, aber im Übrigen weiss, dass nicht jedes Land so regiert ist, wie man selbst sich regiert. Deutschland kann auch nicht regiert werden wie die Schweiz, und die USA können auch nicht regiert werden wie die Schweiz. Es sind eben verschiedene Grössen, verschiedene Länder, verschiedene Probleme. Und das muss man einfach realisieren. 

Wir werden durch Sanktionen weder China noch Russland verändern. Das ist doch Unsinn. Wir treiben mit den Sanktionen jetzt die Russen immer weiter an die Seite Chinas. Aber wir werden doch deswegen Russland nicht über Nacht verändern, das seit Jahrhunderten ähnlich oder anders regiert wird, aber in diese Richtung regiert wird, die wir heute kritisieren. Das ist doch einfach dummes Zeug.

Wir bräuchten eine Debatten-Kultur à la USA

Ich glaube, wir haben in Deutschland eine relative schmale Debatten-Kultur, wenn Sie uns mit den USA vergleichen… Bei uns werden die Menschen doch nicht auf Debatten erzogen. Auch nicht in der Schule. Das ist natürlich in den USA und in Grossbritannien ganz anders – besonders auch in England. Aber auch dort hat die Debattenkultur nachgelassen, weil sich viele in ihrem Echo-Raum bewegen, in dem sie über Social Media die Nachrichten bekommen, die ihnen gefallen.

2 Kommentare

  1. Was für ein Bullshit: „Die USA müssen mit Putin über die Neutralisierung der Ukraine verhandeln“. Putin-Russland ist längst dabei, große Teile der Ukraine im schrecklichsten Sinne zu „neutralisieren“, sprich: auszulöschen. Und ein uralter früherer SPD-Politiker verlangt auch noch Verständnis dafür, weil „Russland uns viel näher steht als die USA“. Und neoimperialistische Verhandlungen von zwei Mächten über die betroffenen Menschen und ihre Nation hinweg. Unfassbar!

    Wie gut, dass ich die SPD nach wenigen Monaten wieder verlassen habe. Die muss, wenn sie in Zukunft noch ein wenig Selbstachtung und Achtung von anderen will, sich von viel mehr trennen als nur vom Putin-Vasall Schröder.

  2. Lieber Ludwig Greven, was für ein heftiger, emotionaler und Emotionen heischender Kommentar. Von Donanyi hat nicht gesagt, die USA sollten mit Putin besprechen, was aus der Ukraine wird. Sondern Putin hatte sich das so vorgestellt und seine Truppen aufmarschieren lassen, um seinen Vorstellungen Nachdruck zu verleihen. Donanyi meint, es sei ein Fehler gewesen, auf jene russischen Schreiben (vor Kriegsbeginn) gar nicht erst zu antworten und damit wissentlich in Kauf zu nehmen, dass die Truppen in Marsch gesetzt werden. Es ist auch unseriös, mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Neutralisierung“ zu agitieren, also Bündnisfreiheit mit Auslöschung gleichzusetzen. Mit Wortspielen kommt man der Lösung des Problems nicht näher. Schließlich möchte ich, der jahrelang in Hamburg gelebt und Dohnanyi wegen seiner deutschnationalen Schlagseite seit eh und je kritisiert hat, mich dagegen verwahren, ihn als uralt beiseite zu schieben. Nein, das ist kein „bullshit“. Ich bin nicht der gleichen Meinung, aber seinen Verstand hat Dohnanyi wenigstens noch beisammen. Und wo ich schon mal dabei bin: es gibt Menschen, die gewisse charakterliche Schwächen von Gerhard Schröder nicht erst heute, sondern schon vor 40 Jahren erkannt haben (als er noch Juso-Vorsitzender war). Wer dann trotzdem in die SPD eingetreten ist, sollte sich an die eigene Nase fassen, anstatt seine Irrtümer mit Propagandalärm zu übertönen. „Putin-Vasall“? Fünftes Rad am Wagen, Vaterlandsverräter. Was sagt uns unsere Erinnerungskultur zu solchen Verbalinjurien?

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