Wenn nur die (obere) Hälfte zur Wahl geht — kein Thema

Erschreckend wenige BürgerInnen gehen zur Wahl; und das in Zeiten von Klimakatastrophe, Seuchen und (Informations-)Kriegen mit Diktaturen, in denen es also um mehr als Peanuts geht. Ob in Frankreich bei der zweiten Runde der Parlamentswahl oder in Nordrhein-Westfalen bei der jüngsten Landtagswahl — mal gingen etwas mehr und mal etwas weniger als 50 Prozent an die Urne. Kein Zufall: Das Ruhrgebiet nennt der Paritätische Gesamtverband in seinem jüngsten Armutsbericht die »armutspolitische Problemregion Nummer eins«. In der Mainstream-Öffentlichkeit und in der politischen Klasse wird die Wahlverweigerung in beiden Ländern kurz registriert, mit Bedauern abgenickt, niemand scheint sich zu sorgen. Es wird kein Thema. Obwohl damit das System der Repräsentation sogar in halbwegs funktionierenden Demokratien wie Frankreich und Deutschland in eine brisante Schräglage abrutscht: Denn zuverlässig gehen die oberen Schichten deutlich mehr wählen denn die unteren.

Screenshot: Website Paritätische Gesamtverband

In Deutschland wird vor allem mit diesen beiden Argumenten das Problem der NichtwählerInnen weggeleugnet: Na ja, wer nicht wählen gehe, der sei wohl zufrieden mit den Verhältnissen. Und: So schlimm sei es doch gar nicht. Denn: An der jüngsten Bundestagswahl am 26. September 2021 hätten sich immerhin 76,6 Prozent (2017: 76,2 Prozent) beteiligt. Stimmt. Bei allen anderen Wahlen sieht es jedoch deutlich düsterer aus: Bei Landtagswahlen gilt eine Beteiligung zwischen 50 bis 60 Prozent als Erfolg (bei der jüngsten Wahl In Nordrhein-Westfalen: 55,5 Prozent), bei Kommunalwahlen wird die 50 Prozent-Grenze meist nicht genommen, für Europawahlen gilt ähnliches. Und das obwohl sich das politische Spektrum des Parteienangebotes seit einigen Jahren mit AfD und weiteren Gruppierungen wie Klimaliste, Freie Wähler, Die Partei etc. programmatisch verbreitert hat.

Was in Deutschland wie in Frankreich identisch ist: Wer gut verdient und gebildet ist, wählt deutlich häufiger als Geringverdiener ohne Abitur. Eine soziale Einseitigkeit, die in einer Kaskade an Wechselwirkungen zu weiteren Ungleichheiten führt.

Thomas Piketty, Soziologe und Publizist, gibt für Frankreich dazu in einer Spiegel-Kolumne einen wichtigen Hinweis; weltweit bekannt wurde Piketty im Jahr 2014 mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Seine Rechnung: Der sogenannte bürgerliche Mitte-Rechts-Block, zu dem er die Parteienallianz Ensemble von Präsident Emmanuel Macron und die Konservativen um Valérie Pécresse (Les Republicains) zählt, sei in der zweiten Runde der Parlamentswahlen auf etwa 32 Prozent der Stimmen gekommen; ebenso wie der eher linke und der nationalistisch-rechtsextreme Block. Hätten in diesen drei Milieus die Wahlberechtigten gleichermaßen gewählt, dann hätte der bürgerliche Block deutlich weniger, nur etwa 25 Prozent, und der Links-Block deutlich mehr Stimmen erhalten.

Die drei Blöcke liegen jedoch gleichauf, so Piketty, da das Wahlverhalten sehr unterschiedlich sei: Akademiker, Ältere und Wohlhabende wählten häufiger, das nutze dem bürgerlichen Block. Der Links-Block werde dagegen mehr von Jüngeren und Arbeitern unterstützt, die jedoch seltener wählten. Dazu Zahlen des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos: Lediglich 46 Prozent der Wahlberechtigten stimmten überhaupt ab. Von den Wählern zwischen 18 und 24 Jahren wählte etwa jeder Dritte; bei den über 70jährigen war die Beteiligung doppelt so hoch. Von den Geringverdienern mit einem Einkommen bis zu 1200 Euro wählten ebenfalls nur 36 Prozent.

Bild: Stux auf Pixabay

Lautloser Ausschluss

Und nun nach Deutschland. “Sozial prekäre Milieus wählen fast gar nicht mehr”, sagt Bertelsmann-Forscher Robert Vehrkamp. Sein Schluss: „Die repräsentative Demokratie wird immer weniger repräsentativ.” Wahlforscher wie Horst Kahrs, Rosa Luxemburg-Stiftung, gehen davon aus, dass 50 Prozent der Arbeiter und Angestellten in Produktion und Dienstleistungssektoren nicht mehr zur Wahl gehen.
Ein Prozess, der sich über viele Jahre hinweg verfestigt und quasi vervollkommnet. Denn seit Jahren sind im Bundestag bestimmte Schichten nicht mehr vertreten: Hauptschulabsolventen sind dort beispielsweise eine Rarität. Obwohl etwa 30 Prozent der hier lebenden BürgerInnen (nur?!) über einen Hauptschulabschluss verfügen. Rätselfrage: Wie viele Abgeordnete mit Hauptschulabschluss sitzen im Deutschen Bundestag?

Das heißt, Angehörige eines sozial prekären Milieus wählen eventuell nicht, weil niemand aus ihrem Bildungs- und Kulturkreis kandidiert. Übrigens: Bei der Selektion der Kandidaten spielt auch eine Rolle, dass die Parteien von ihren Kandidaten inzwischen faktisch verlangen, viele tausende bis einige zehntausende Euro in den eigenen Wahlkampf zu investieren.

Daraus folgt die Frage: Wie gerecht entscheidet ein `Akademiker- und Beamten-Bundestag`? Welche Interessen berücksichtigt er und welche nicht? Armin Schäfer und Michael Zürn, Politikwissenschaftler, haben diese Form politischer Ungleichheit untersucht und in ihrem Buch „Die demokratische Regression“ die Ergebnisse präsentiert: Projekte und Wünsche von BürgerInnen mit höherer Bildung und höherem sozialen Status werden vom Bundestag „viel häufiger politisch umgesetzt“ als die Wünsche von Menschen, die „weniger Ressourcen haben“. Bundestagsabgeordnete reagieren also auffallend stark auf Forderungen und Wünsche von Unternehmern, Beamten und Gebildeten — und deutlich weniger auf Wünsche einkommensschwacher Gruppen: „Es gibt eine Schieflage bei den politischen Entscheidungen zugunsten derjenigen, denen es ohnehin besser geht.“ Ein Prozess des Ausschlusses von Wählergruppen und Interessen, der sich lautlos und beharrlich perfektioniert.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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