Resümee zum 9-Euro-Ticket: Licht und Schatten

In meinem Beitrag „9 Euro Ticket – ein Desaster mit Ansage“  habe ich vor der Einführung gewarnt. Begründung: Völlige Überlastung des Schienenverkehrs bis hin zu möglichen Katastrophen, die das Gegenteil von Werbung für „mehr Bahn“ bedeutet hätten. Aber meine Zwischenbilanz nach zwei Monaten lautet: Politisch überwiegt das Licht bei diesem zeitlich begrenzten Großversuch.

Ich bin mehr als froh, dass bisher Katastrophen ausgeblieben sind. (Meine Horrovision waren Situationen wie bei der Duisburger Love Parade). Ich habe zwar Bahnsteige erlebt, die an Großdemonstrationen erinnerten, aber noch ist es offenkundig gut gegangen.

Das Gute des Tickets, das ich vorher nicht gesehen hatte, ist die trotz allem positive Wahrnehmung des Verkehrsmittels Bahn – bei vielen Menschen und medial. Es sind positive Fakten geschaffen worden. Mehr noch als der (viel zu niedrige) Preis hat die enorme Vereinfachung (einmal kaufen, jederzeit fahren) das Ticket für sehr viele Menschen populär gemacht.

Screenshot: Campact-Website

BahnerInnen am Limit und Orte ohne zuverlässigen Anschluss

Es gibt aber auch große Schattenseiten, die von den verschiedenen “9-Euro-Ticket-Verlängern- Initiativen” aus dem linken Spektrum einfach ausgeblendet werden.

Erstaunlich ist, wie sich die linken Fordernden gegenüber den Bahnbeschäftigten und deren Gewerkschaften verhalten: Die Hilfeschreie werden einfach ignoriert! Die BahnerInnen sind am Limit. Es ist ein Unterschied, ob man/frau sich einmal für ein paar Stunden in einen völlig überfüllten Zug klemmt oder ob der totale Ausnahmezustand drei Monate lang Arbeits-Alltag bedeutet. Außerdem gibt es eine Überlastung des Zug-Materials.

Auch wenn die Polizei glücklicherweise nur selten Züge räumen musste, für viele Orte und Reisende an Unterwegsbahnhöfen bedeutet das 9-Euro-Ticket: Kein zuverlässiger Bahnanschluss mehr! Ich selbst bin für 30 Cent ( 9 Euro durch 30) von Halle nach Konstanz gefahren, was deswegen gut ging, weil ich jeweils im Startbahnhof einsteigen konnte. Wer dort sofort den allernächsten Platz einnimmt, kann im vollen Zug bis zum Endbahnhof sitzen – umgeben von dicht gedrängten Stehenden. Aber auf Unterwegsbahnhöfen zwischen Erfurt und Würzburg zum Beispiel mussten viele Leute zurückbleiben. Insbesondere die Schwächeren hatten das Nachsehen gegenüber Gruppen von Jugendlichen.

Ob das Ticket zum dauerhaften Umsteigen vom eigenen Auto in den Zug geführt hat, bezweifele ich. Eher das Gegenteil! Bahnpendler MIT Auto dürften während dieser Zeit auf vielen Strecken tendenziell wieder aufs Auto zurückgegriffen haben. Weil sie sich solche Zustände – und zwar täglich – nicht antun wollen.

Was mich auch grundsätzlich stört: Mit diesem Quasi-Gratisticket wird suggeriert, dass der Bahnverkehr keine CO2-Dimension hätte. Was objektiv falsch ist! Auch der ÖPNV verursacht – bei allen seinen ökologischen Vorzügen – CO2 und andere ökologische Kosten. Der Gratis-Charakter aber signalisiert das Gegenteil. Was sich auch darin niederschlägt, dass die Züge zu einem großen Teil von SpontanausflügerInnen bevölkert werden, die erst durch den Gratischarakter motiviert wurden. Gerade der Ausbau der Schieneninfrastruktur wird viel CO2 verursachen (und natürlich auch der Betrieb). Das 9-Euro-Ticket erinnert mich an den viel zu niedrigen Brotpreis in der DDR, der zur Verschwendung bis hin zum Missbrauch als Viehfutter geführt hat.

Wie weiter aus meiner Sicht?

1. Natürlich braucht es einen Ausbau der Bahnkapazitäten! Und zwar passend zu den jüngsten Erfahrungen – eben in eine Klimabahn statt in superteure Tunnelbahnhöfe und neue Hochgeschwindigkeitsstrecken; die bringen nur einer kleinen Gruppe von Bahnreisenden Vorteile, aber nicht den Massen, die mit dem 9-Euro-Ticket unterwegs sind. Die Klimabahn dagegen orientiert sich vor allem am Umstieg der Massen. In wesentlich kürzerer Zeit mit dem Ausbau des Bestandsnetzes die Kapazitäten stark erhöhen und dabei für große Netto-Entlastungen der Klimabilanz sorgen – das ist der Kern des Klimabahnkonzepts. Siehe dazu, was ich im Bruchstücke-Beitrag „Die Klimabahn Chance und Risiko für die Grünen“ zum Konzept „Takt und Tempo ausgeführt habe.

Für besonders überlastete Strecken könnten viele seit Jahren abgestellte Züge reaktiviert werden und schnell Entlastung bringen (siehe die Hunderte von Schnellzug- und Regionalzugwaggons sowie Loks in Leipzig-Ost, Hamm und auf Rügen). Trotzdem muss festgestellt werden: Selbst beim Schnellausbau nach dem Klimabahn-Konzept dauert es einige Jahre, bis die Massen dieses Sommers auf Dauer und unter akzeptablen Bedingungen befördert werden können.

2. Darum muss es eine vernünftige Lenkung auch durch den Preis geben: Der sollte natürlich wesentlich günstiger sein als vorher. Aber auch nicht so niedrig, dass Fehlanreize zu Sauf- und Ausflugstouren gegeben werden. Ganz besonders im Fokus der Preisgestaltung sollte der Anreiz zum Verzicht aufs eigene Auto stehen. Denn das bedeutet ökologisch, städtebaulich und ökonomisch die ganz große Entlastung für das Gemeinwesen und für das Klima. Bei sehr guten Umsteigebedingungen könnten so innerhalb der nächsten Jahre 20 Prozent der autofahrenden Bevölkerung zum befreienden Verzicht aufs eigene Auto bewegt werden. Das sind vor allem Menschen in den Ballungsräumen.

Mein Vorschlag: Eine “Bahncard 75” im Preisbereich von 800 Euro im Jahr, die 300 Euro Taxi- und Carsharing-Gutscheine enthält, die Nutzung des ÖPNV im eigenen Großverbund sowie ca. 10 Tageskarten, die spontan zu Tagesnetzkarten für den gesamten Bahnverkehr, auch den Fernverkehr mit ICEs, gemacht werden können. (Ein Problem des 9-Euro-Tickets ist auch, dass Regionalzüge als Ersatz für die immer noch teuren ICE und IC zweckentfremdet werden. Also überfüllte Regionalzüge und daneben halbleere Fernzüge.)

Die “Bahncard 75” könnte das Bahnreisen (auch ohne Bahncard 100) einfach und attraktiv machen. Auch weil es durch die Taxi- oder Car-Sharing-Gutscheine den gelegentlichen Rückgriff aufs Auto ermöglicht. Aber eben nicht auf das eigene, das den knappen öffentlichen Straßenraum blockiert. Ein solches Ticket würde die Umsteigerhaushalte finanziell sehr entlasten

Natürlich sollte es darüber hinaus für Bedürftige eine Anzahl von 9 Euro Tickets im Jahr und andere Sonderangebote geben – aber immer auch mit dem Blick für die Kapazitäten.

Print Friendly, PDF & Email
Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied der Expertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn und Mitgründer des Bündnisses Bahn für Alle. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke