„Unwirtschaftlich“ gilt als alarmierender Befund, fast schlimmer als unmoralisch, ungebildet oder ungesund. Die Wirtschaft stellt an den Rest der Welt zwei Fragen: Was kostet es? Was bringt es? Es kommt ihr auf das Verhältnis der beiden Antworten an. Ökonomisches Denken setzt Aufwand und Ertrag in Beziehung zueinander. Das klingt nicht nur vernünftig, das ist es auch, denn es ist der Weg vom Notstand zum Wohlstand. Ende der Durchsage? Weshalb ist Ökonomisierung zu einem kritischen Begriff geworden, warum kann man zum Beispiel die Ökonomisierung des Spiels aus guten Gründen nicht wollen?
Der wirtschaftliche Maßstab, die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag, lässt sich an alles anlegen. Auf die Idee, ihn anzuwenden, sind die Menschen wohl zuerst im Zusammenhang mit Arbeitsleistungen gekommen. Lebewesen haben einen Bedarf an Mitteln zum Leben. Der ist für Mäuse ein anderer als für Menschen, aber versorgen müssen sich die einen wie die anderen. Tätigkeiten, die der Versorgung dienen, wollen wir Arbeitsleistungen nennen. Von hier aus lässt sich ein Begriff der Arbeit formulieren, der drei Komponenten umfasst: Den Bedarf, der zu einer Leistung veranlasst, deren Produkt oder Dienst zum Gebrauch (Konsum) bestimmt ist; entweder zum Endverbrauch oder zum Gebrauch in anderen Leistungsprozessen.
Wer gerade keinen Bedarf hat oder wer sich generell die Erzeugnisse der Leistungen anderer aneignet, kann sich auf den Konsum konzentrieren und Tätigkeiten ausüben, die nicht dem Unterhalt dienen, sondern zum Beispiel der Unterhaltung, dem angenehmen Erleben.
Wirtschaftliches Denken und Handeln setzen am Konsum an – die Losung heißt hier sparen -, vor allem jedoch an der Leistung. Das Schlüsselwort der Leistungsseite heißt Produktivität, also mit weniger Kraft und/oder in kürzerer Zeit dieselbe oder sogar eine größere Menge und Qualität erreichen. Die Qualifikation der Arbeitskraft, die verfügbaren Ressourcen und Werkzeuge sowie die Organisation des Leistungsprozesses beeinflussen die Produktivität. Die Land-Wirtschaft ist der historische Präzedenzfall für eine Ökonomisierung der Arbeit. Statt von der Hand in den Mund zu leben, wird es möglich, Vorräte anzulegen, Vorsorge zu treffen für die künftige Versorgung. In der Landwirtschaft und im Handwerk wird die Ökonomisierung der Arbeitsleistungen – gerne auch Rationalisierung genannt – vorangetrieben, die großen Reichtümer haben jedoch zunächst noch keine wirtschaftlichen Wurzeln, sondern gewalttätige, nämlich Eroberung und Raub.
Wirtschaft – Dienerin oder Herrin der Arbeit
Sobald die Arbeitsteilung über die familiäre Selbstversorgung hinausreicht, beginnt sich zwischen Leistung und Konsum der Handel zu schieben. Eigentum, also die Abwehr des Zugriffs anderer, die Frage, wer wem etwas schuldet, und der Tausch bekommen Bedeutung für die sozialen Beziehungen. Aber gesamtgesellschaftlich bleibt die Wirtschaftlichkeit der Arbeit – trotz wachsender Relevanz – bis zum 19. Jahrhundert auch in Europa gegenüber religiöser (gottgefällig oder sündhaft) und herrschaftlicher (oben oder unten) Sinnstiftung nachrangig. Was kostet es und was bringt es, sind noch Fragen unter anderen, wichtigeren, die an die Arbeit gestellt werden.
Hinter der Redeweise von der „Ökonomisierung der Arbeit“ verbirgt sich der folgenschwere Unterschied zwischen der Wirtschaft als Dienerin oder als Herrin der Arbeit. Geht es nur darum, das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag zu verbessern? Oder entscheidet die Wirtschaft darüber, welche Arbeit, also welche Leistungen und welcher Gebrauch (nicht) stattfinden? Die Wirtschaftsweise des Kapitalismus, die klassische Form der Herrschaft der Wirtschaft über die Arbeit, leiht sich ihre Legitimation vor allem daraus, dass sie sich als reines Optimierungsprogramm der Arbeit präsentiert und dabei verschleiert, wie sehr sie die Arbeit dominiert und zurichtet. Auf so perverse Arbeitsbedingungen wie Taylorismus und Fordismus kommt nur, wer Wirtschaftlichkeit über alles stellt.
Kapitalismus braucht eine Konsumgesellschaft
Es muss viel zusammenkommen, damit der Wirtschaft der große Sprung von einer optimierenden, aber untergeordneten zu einer der Arbeit übergeordneten Rolle gelingt. Zu den wichtigsten Rahmenbedingungen gehören diese drei: Der Vormarsch des Geldes, der die Zahlungsfähigkeit – die Zahlung ist der „unit act“ (Talcott Parsons) der Wirtschaft – zur Bedingung einer eigenständigen sozialen Existenz macht. Die Individualisierung, die die Einzelnen für sich selbst verantwortlich und den Weg dafür frei macht, Versorgtsein an bezahlte persönliche Arbeitsleistungen zu koppeln. Die Wirtschaftsfreiheit, welche es (vornehmlich Privateigentümern) erlaubt, die Organisation des Leistungsprozesses alleine an einer zu erwartenden positiven Differenz zwischen Ertrag und Aufwand, also am Gewinn, auszurichten.
Aber Vorsicht: Auch ökonomisch dominierte Arbeit bleibt Arbeit, das heißt, die Leistung muss in einen Gebrauch münden: Kein Kapitalismus ohne Verbraucher; viel Kapitalismus gibt es nur zusammen mit einer Konsumgesellschaft und den dazugehörigen Müllbergen; noch mehr Kapitalismus sondert einen Finanzsektor aus, der ein Casino einrichtet, in dem auf Krise komm raus gezockt wird.
Die kapitalistische Eigenart der Zahlung besteht darin, dass sie nur dann stattfindet, wenn Aussicht besteht, die ausgegebenen 75 Cent auf welchen (notfalls krummen) Wegen auch immer möglichst zu einem eingenommenen Euro werden zu lassen. Um seine Funktion zu erfüllen, sich zu vermehren, macht sich Kapital auf die Suche nach Anlagemöglichkeiten, erst da und dort, dann global, später auch im Weltraum. Die Ökonomisierung geht weiter, solange die Gesellschaft daran Gefallen findet oder es sich zumindest gefallen lässt, dass immer mehr käuflich und anhand der beiden übergeordneten Fragen entschieden wird, was es kostet und was es bringt.
Weshalb soll nur die Versorgung verwertbar sein? Weshalb sollen nur materielle Güter auf dem Markt gehandelt werden? Was spricht dagegen, dass alles käuflich, zur Ware, zum Investitionsobjekt und zur Nachfrage wird – Immobilien, Mobilität, Information, Aufmerksamkeit, Gesundheit, Kunst, Sex etc. und eben Unterhaltung? Noch einmal: Warum sollten die Investoren ihren Eroberungsfeldzug abbrechen, solange sich die Gesellschaft darauf einlässt und keine rechtlichen Schranken dagegen errichtet?
Die Nürnberger Zinnsoldatenarmee des Sonnenkönigs
Aus dieser Perspektive wäre es ein Wunder, hätte sich neben Nahrungsmittel-, Textil-, Bauindustrie etc. nicht auch eine Spielwarenindustrie entwickelt. Einen Markt vor allem für Kinderspielzeug aufzubauen, gelang schon sehr früh. Auch wenn heute China der größte Spielwarenproduzent ist, zeugt die Nürnberger Spielwarenmesse – die nächste findet im Februar 2023 statt – bis heute davon, dass die Franken-Metropole als Welthauptstadt des Spielzeugs galt. Tonpuppenmacher finden sich bereits im 15. Jahrhundert in den Steuerlisten der Stadt, die mit Kaufmannsgeist, Handwerkskunst, darunter Zinngießer, Kupfer-, Gold- und Silberschmiede, und ihrer geografischen Lage an wichtigen Fernhandelsstraßen den Ruf begründete „Nürnberger Tand geht durch alle Land“.
Wo die Zahlungsfähigkeit in feudalistischen Ländern angesiedelt ist, versteht sich von selbst, weit oben, zum Beispiel beim Adel. Der französische Sonnenkönig (1638-1715) bestellte eine Armee von mehreren Hundert zehn Zentimeter hohen Zinnsoldaten. Töchter reicher Patrizierfamilien bekamen Puppenhäuser, um sie auf ihre spätere Rolle als Hausfrauen vorzubereiten. Der Nürnberger Kaufmann Georg Hieronimus Bestelmeier „gab bereits 1795 einen bebilderten Katalog heraus, das ‘Magazin der auserlesensten und nützlichsten Spiel-Sachen’ und versandte ihn im ganzen Reich. Es war der erste Versandkatalog des Spielwarenhandels“, ist auf der Website der Spielwarenmesse zu lesen.
Alleine über die Puppenindustrie, deren westeuropäisches Zentrum Thüringen, besonders Sonneberg und Waltershausen, sowie dessen französische Konkurrenz lassen sich Bücher schreiben. „Neuerungen in der Puppenproduktion des 19. Jahrhunderts waren die Einführung von Drechselmaschinen, Pappmaché; Porzellanköpfen, die ersten Babypuppen, der Einsatz von Gummi für Puppenkörper, Kugelgelenke als Verbindung der Glieder und das Celluloid, aus dem Köpfe, aber auch ganze Puppen hergestellt wurden“, heißt es bei Wikipedia. Die Firma „Schildkröt-Puppen“ wurde 1873 in Mannheim gegründet. Käthe Kruse startete ihre Puppenmacher-Karriere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1910 wurden ihre Puppen im Berliner Warenhaus von Hermann Tietz erstmals öffentlich angeboten. In das Kapitel „Wirtschaft und Politik“ gehört, dass die Firmengruppe Hermann Tietz, Ende der 1920er Jahre Europas größter Warenhauskonzern, 1933 „arisiert“ wurde. Zur „kalten Enteignung“ traf man sich im Hotel Adlon, wo den damaligen Eigentümern und Geschäftsführern die Pässe abgenommen wurden. Die „arisierenden“ Banken bildeten aus den Anfangsbuchstaben Hermann Tietz „Hertie“.
Expansion von Informationen, Wissen und Bildern
Zurück zur Ökonomisierung des Spiels, die exemplarisch für den wirtschaftlichen Durchdringungsprozess von materiellen zu immateriellen Gütern stehen kann. Neben die Spielwarenmesse tritt die Gamescom, die in Köln (2022 vom 24. bis 28. August) stattfindende „weltweit größte Messe für Computer- und Videospiele“. Den allgemeinen gesellschaftlichen Hintergrund bildet die Entwicklung der Verbreitungsmedien. Zusammen mit der Durchsetzung von Kommunikationsfreiheiten (wie Meinungs- und Pressefreiheit) ermöglicht die Medientechnik vom Buchdruck über die Funkmedien bis zum Computer, den enormen Bedeutungszuwachs von Informationen, Wissen und – Bildern. Über Spielzeug hinaus werden jetzt Spielwelten produziert, in die sich Spieler:innen hineinbegeben, die sie mitgestalten, „erobern“ können. Gewiss wurden fertige Spiele in großer Vielfalt auch vor der Digitalisierung angeboten, aber erst das Computerspiel erschafft bespielbare virtuelle Welten mit irdischen und außerirdischen Kontinenten.
Herstellung und Vertrieb digitaler Spiele waren im Hardware-Bereich von Anfang an in den Gesamtkomplex der digitalen Technikentwicklung eingebunden, die sich – trotz aller Nonprofit-Initiativen – unter den Bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie vollzog und damit unter der Dominanz der monetären Fragen, was es kostet und was es bringen wird. Wie die Studie „World-Video-Games-Industrie 2020-2023: Trends, Technologien, Perspektiven“ zeigt, bleibt die Games-Industrie in den allgemeinen Trends verankert. Die Studie basiert auf Umfragen bei 50 großen, mittleren und kleinen Entwicklern und Publishern von Computerspielen aus den USA, Großbritannien, EU-Ländern und Russland. 78% der Befragten gaben an, dass sie Mobiltelefonspiele entwickeln; 70 % arbeiten an Konsolen- und PC-Projekten; 60 % der Befragten veröffentlichen Browsergames.
Im Software-Bereich wiederholt sich das bekannte Problem der Medienökonomie, dass deren Produkte, anders als materielle Güter, von vielen Konsumenten gleichzeitig gebraucht werden können: Die Information, die Absender weiter geben, bleibt für sie erhalten. Das führt zu phantasievollen Zahlungsvariationen. „Die beliebtesten Monetarisierungsmodelle in der Gaming-Industrie sind (1) Käufe im Spiel (Charaktere, Gegenstände usw.), (2) Abonnements und (3) Werbung im Spiel. Die Anwendung dieser Methoden wurde von 74 %, 60 % bzw. 52 % der befragten Unternehmen angegeben“, heißt es in der Games-Industrie-Studie. Die am häufigsten entwickelten Spielgenres bei den befragten Unternehmen waren Rollenspiele und Abenteuerspiele (74 % der Befragten), Shooter und Kampfspiele (64 %) sowie Strategiespiele (60 %).
Von Rentabilitäts-Zumutungen umzingelt
Über die Arbeit und über das Spiel kann man viel Gutes lesen. Wie sehr sie sowohl der Selbstverwirklichung als auch der Kooperation und der sozialen Bindung dienen, wie sehr sie Lern- und Qualifizierungsprozesse, Innovations- und Gemeinschaftsideen fördern können. Die normative Kraft des Faktischen schmälert unser Vorstellungsvermögen, wie großartig Arbeit und Spiel das alles tatsächlich könnten, wären sie nicht von den Ansprüchen und Zumutungen ökonomischer Rentabilität umzingelt. Eine exponentielle Pointe besteht darin, dass sich ein Business für serious games herausgebildet hat, die auf spielerische Weise vermitteln sollen – Stichwort gamification -, wie sich ökonomisierte Arbeit freudiger und erfolgreicher organisieren und praktizieren lässt.
Unter dem Pseudonym Frank Bayer erschien der Beitrag zuerst in der August-Ausgabe 2022 von OXI. Wirtschaft anders denken
WO HAT ES MIT DEM BÖSEN ANGEFANGEN?
Wohin zielt der obige Text? 2/3 beschäftigen sich mit der Ökonomisierung von Arbeit. Rhetorisch fällt auf: Es wird die Sozioevolution seit der neolithischen Revolution kurz angerissen (Arbeitsteilung, Vorratshaltung bei Landwirtschaft, Industrialisierung, Monetarisierung). Das ist im Groben so gewesen; aber es wird immer zwischengeschoben, dass nicht gut war, was da geschehen ist. Und: Je später die Entwicklung (Finanzwirtschaft), desto übler. Aber auch verhinderbar, abwendbar?
MORAL UND FAKTEN GUT GEMISCHT
Da mischen sich zwei Perspektiven: Eine deskriptiv-sozioevolutionäre und eine normative. Über die Richtung des Normativen will ich nicht streiten. Nur darauf hinweisen: Dies Schlingern zwischen Beschreibung und (implizit-beiläufiger) Bewertung produziert Stimmung, aber keine strategische Klarheit. Ich kann über den Absolutismus und seine Luxuskultur herziehen, das rhetorische Dekadenz- und Ausbeutungs-Schwert schwingen. Aber was soll’s – eben außer Stimmung unter Stimmungsempfänglichen verbreiten, von denen unterstellt wird, dass sie den gleichen Wertehorizont teilen. Wer an Historie Schuldfragen in der Form stellt, will auch Winnetou-Bücher des 19. Jahrhunderts unter moralisierendes Kuratel stellen.
WIRTSCHAFT IST KEIN MENSCH
Erkenntnistheoretisch geht es dann auch etwas schwurbelig zu – unter dem analytischen Niveau, das ich vom Autor gewohnt bin. Wer einen „folgenschwere(n) Unterschied zwischen der Wirtschaft als Dienerin oder als Herrin der Arbeit“ konstatiert, betreibt Personalisierung, die eindeutige Akteurs-Beziehungen unterstellt. Wirtschaft ist aber keine Person. Sie kann daher weder Dienerin noch Herrin sein. Wer es unterstellt, suggeriert, dass mit klarer Adressierung und deutlicher Mahnung („Nun lass das mal sein!“) etwas zu ändern sei. Unterstellt wird auch, dass Wirtschaft einst Dienerin war, dann sich zur Herrin aufschwang. Das ist klassische Niedergangsmythologie, die schwer historisch zu legitimieren ist.
Wir haben es mit gesellschaftlichen Strukturen zu tun, die sich (im europäischen Raum) seit dem späten Mittelalter dramatisch verändert haben. Am ehesten ließe sich noch sagen, dass im absolutistischen Staat der Herrscher qua kaum geteiltem Machtmonopol „Herr“ über gewisse Strukturen in seinem (noch isolierten) Einflussbereich war. Er hatte noch „Steuerungsmacht“, die sich mit der Ausformung der bürgerlichen Gesellschaft, erst recht mit der Globalisierung aber differenziert und komplex „verdünnt“ („invisibilisiert“?) hat. Das kann man alles nicht mögen, für böse, unmenschlich erachten. Das ändert aber nichts an den weiterlaufenden Prozessen, vor allem nicht, wenn es in einem minderheitselitären Blog abgestrahlt wird.
AUS SPIELGELD WIRD GELD GEMACHT
Dass sich vor allem im 19. Jahrhundert eine Spielwarenindustrie gebildet hat, ist nicht verwunderlich. Es kommen zusammen: Bürgerliche Arbeits- und Freizeitgesellschaft, Massenproduktion von Alltagsgegenständen, die „Erfindung der Kindheit“ (der alte Postman lässt grüßen), bürgerliche Bildungsideologie (Bildung, Hausmusik und Familienspiele gehören seit dem Biedermeier zusammen), Drucktechnik (ohne die keine Spiele in Serie hergestellt werden können), Marketing als kommerzielle Kommunikationsstrategie. Es ist also viel mehr als nur „Ökonomisierung“, was da zusammenspielt.
In der Abschlussarbeit meiner Tochter (sie hatte ein Spiel erfunden, das sie bald wird vermarkten können; böse …) fand ich dies:
„Beispiel für die neue Synthese aus Technik, Produktion und Vermarktung ist ein heute vergessenes, um 1900 aber als Topseller geltendes Spiel namens „Salta“, das dem Halma nachempfunden ist. Es wurde 1899 von einem „Kreativen“ namens Konrad Büttgenbach in Düsseldorf erfunden. Der Erfinder, von Hause aus Musiker, war ein genialer Selbstvermarkter. Er initiierte Turniere mit hohen Preisgeldern an VIP-Locations wie dem Casino in Monaco, förderte die Gründung von Salta-Spieleclubs, sorgte für Berichterstattung in Zeitungen und erfand sogar die Strategie des Celebrity Marketings: Als Salta auf der Weltausstellung in Paris eine Goldmedaille bekam, ließ Büttgenbach eine personalisierte Luxusedition mit Edelstein-Intarsien für Kaiser Wilhelm II anfertigen, über die wieder exzessiv berichtet werden konnte. In London zelebrierte er ein Schauturnier mit der Starschauspielerin Sarah Bernard. Überall in Europa erschienen Lehrbücher, in Deutschland sogar eine „Salta-Zeitung“.
Wie unschwer zu erkennen: Da herrscht nicht die Wirtschaft über die Arbeit, sondern Strukturen verdichten sich, differenzieren sich, angetrieben über innovative, intelligentere Figuren, die in Folge selbstredend zu „Ausbeutern“ werden müssen. Ich gebe zu, das ist mir zu einfach gestrickt.
Am Anfang all dieses Kuddelmuddels mag aber ein einfaches Motiv gestanden haben: Der Mensch mochte es wohl immer schon einfacher, leichter, entspannter, konfortabler, auch: luxuriöser. Und weil sein Bewusstsein immer ins Unendliche zu driften scheint (anthropologische Konstante?), ist sein Sinnen immer schon unterschwellig aufs Ökonomischere ausgerichtet. Und das noch vor den allerkleinsten Anzeichen kapitalistischen Wirtschaftens. Vielleicht hätte man ja schon der Affenmutter den Stein aus den Händen schlagen müssen, mit dem sie ihren Kleinen demonstrierte, wie man viel schneller und leichter Nüsse knacken kann. Glücklicherweise sind Moralisierer technisch eher desinteressiert und werden wohl nie Zeitreisemaschinen entwickeln …
“Wo hat es mit dem Bösen angefangen?” Die Frage, so formuliert, will die Argumentation als bloßes Moralisieren abwerten. Geschenkt.
Dass dabei der Unterschied zwischen normativ und moralisch eingeebnet wird, ist ein problematischer Nebeneffekt. Eine Gesellschaft ohne normative Ambitionen wäre die Vorhölle. Auch geschenkt.
Ich denke, mit dem bekannten Satz “Kein Prinzip verträgt seine letzte Konsequenz” kann man der Sache näher kommen.
“Ökonomisches Denken setzt Aufwand und Ertrag in Beziehung zueinander. Das klingt nicht nur vernünftig, das ist es auch, denn es ist der Weg vom Notstand zum Wohlstand”, heißt es im ersten Absatz des Artikels. Lässt sich der Umschlagpunkt benennen, an dem die Vernunft den Bach runter geht? In der empirisch-bunten Vielfalt des richtigen Lebens ist das schwer zu ermitteln, aber systematisch lässt sich dieser Punkt dingfest machen.
Der systematische Unterschied liegt sowohl im OB als auch im WIE.
Zum OB: Backe ich Brot, weil es gebraucht wird, und überlege mir, wie ich es wirtschaftlich so hinbekomme, dass ich dabei mehr Geld einnehme als ich ausgebe? Oder gebe ich Geld nur dann aus, wofür auch immer, wenn ich damit rechnen kann, dabei mehr Geld einzunehmen? Ob erzeugt wird, was gebraucht wird, hängt im zweiten Fall davon ab, ob es sich rentiert. Was sich nicht rentiert, wird nicht hergestellt – sollen die Leute doch verhungern. Das ist konsequent wirtschaftlich gedacht.
Zum Wie: Wenn Aufwand und Ertrag in Beziehung zueinander gesetzt werden, dann ist möglichst wenig Aufwand und möglichst viel Ertrag die wirtschaftlich beste Beziehung. Die geringsten Kosten entstehen für mich, wenn ich andere ausbeute – Menschen, soweit sie es mit sich machen lassen, die Natur, solange sie noch nicht ruiniert ist. Das ist konsequent (betriebs)wirtschaftlich gedacht.
Kapitalismus denkt und handelt konsequent wirtschaftlich. Rücksichten, die zusätzliche Kosten verursachen oder das Einkommen schmälern, werden unwirtschaftlich genannt. Welche Lebensverhältnisse mittelfristig (also nach wenigen Jahrhunderten) in den Formen vom Wohlstand und Zerstörung dabei herauskommen, ist auf dem Planeten Erde zu besichtigen.