Die eine Wahrheit ist ein Herrschaftsinstrument

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In der Welt des Spiels ist alles möglich, in der ludischen Realität sprechen die Steine, lachen die Hühner und tanzen die Toten. In der heutigen Welt herrscht große Verwunderung, nicht selten Entsetzen, was andere Menschen für möglich und für wirklich halten. Wie Andere den Gang der Dinge deuten, wie sie die Sachen sehen, was sie wissen, was sie meinen, was sie glauben und was sie zu wissen glauben, darüber erfahren wir dank des Internets sehr viel, mehr als je zuvor. Zu den Folgen gehört, dass wir uns gegenseitig für ziemlich verrückt halten.

Menschen früherer Zeiten und fremder Kulturen haben wir schon immer für seltsame Wesen gehalten mit komischen Vorstellungen und absonderlichen Sitten. Inzwischen erscheinen uns manche Zeitgenoss:innen fast noch wunderlicher. Über Sein und Schein, über das unwandelbare Wesen und flüchtige Schattenbilder zerbrechen sich Philosophen seit Jahrtausenden den Kopf. Wir Heutigen haben das Gefühl, dass die Unsicherheiten, zwischen News und Fake News, Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Wahn zu unterscheiden, noch nie so groß waren. Das könnte wahr sein. Dafür lässt sich (I) systematisch und (II) historisch argumentieren.

I               Wahrnehmung und Kommunikation

Dank ihrer Sinne habe Lebewesen Zugang zur Welt. Sie hören, sehen, riechen, tasten, schmecken, fühlen; die einen schlechter, die anderen differenzierter. Könnten sich Pfifferlinge, Ameisen, Bären und Ameisenbären darüber streiten, in welcher Welt sie leben, wäre kein Konsens möglich, weil sich Quantität und Qualität ihrer Sinnesorgane und damit ihre Wahrnehmungen unterscheiden. Ganz entscheidend kommt die Selektivität der Wahrnehmung hinzu, denn es wird immer nur etwas Bestimmtes – im Unterschied zu etwas anderem – wahrgenommen; und selbst das nur innerhalb des eigenen Aktionsradius, der bei Pfifferlingen besonders klein, bei Steinadlern sehr viel größer ist.

Zeichen, Lüge, Phantasien

Wahrgenommen wird nur Anwesendes. Menschen (Tiere können es auch, aber nicht so gut) haben die Fähigkeit entwickelt, auch Abwesendes in ihre Erfahrungs- und Erlebniswelt hineinzuholen. Wie gelingt ihnen das? Sie benutzen Zeichen. Sie geben sich selbst und allem, was ihnen aus irgendeinem Grund wichtig erscheint, einen Namen. Diese Zeichen teilen sie via Kommunikation anderen mit – was zu nichts führt, solange die anderen die Bedeutung, den Sinn der Zeichen nicht verstehen. Der Sinn des Lautes ei beziehungsweise der Buchstabenkombination Ei muss bekannt sein und verstanden werden. Schon wer nicht deutsch spricht, scheitert; wer deutsch spricht, weiß noch lange nicht, um welches Ei es sich genau handelt. Zwischen dem Symbol Ei und dem im konkreten Fall gemeinten gekochten Frühstückei, das sich der Gast Eva Müller vom Büffet des Strandhotels Ahlbeck auf Usedom nimmt, liegt ein Rattenschwanz potentieller Missverständnisse.

Sinn, soll damit gesagt sein, ist kontextgebunden, er vereint stets seine spezielle, je aktuelle Bedeutung mit einem breiten Horizont möglicher weiterer Bedeutungen. Sinn kann sowohl konkret als auch abstrakt daherkommen. Solche Abstraktionen, nennen wir sie Sammelnamen, haben einen schlechten Ruf, weil sie zu allen möglichen Deutungen einladen. Unter einem Haus kann man sich Eigenheime, Plattenbauten oder das Rote Rathaus vorstellen, unter Freiheit den Wilden Westen, aber auch das Ende eines Gefängnisaufenthalts. Gleichwohl sind Abstraktionen sehr hilfreich, denn wir müssten jedem Grashalm einen Namen geben, könnten wir nicht einfach über „das Gras“ sprechen. Gras existiert genau so wenig wie Obst, das ja nur in der Form von Äpfeln, Birnen, Bananen etc. eine handhabbare Realität ist. Solche abstrahierenden Namen sind „operative Fiktionen“, die Unklarheiten hervorrufen, aber auch Orientierung bieten. Die Statistik produziert sie am laufenden Band: In Deutschland betrug im Jahr 2021 die durchschnittliche Zahl der Kinder bei Ehepaaren 1,75, bei Lebensgemeinschaften 1,49 und bei Alleinerziehenden 1,41. Wann haben Sie das letzte mal 1,49 Kinder gesehen?

Ohne Sinn kommt übrigens auch die Wahrnehmung selbst nicht aus, denn was hilft es, eine Kuh zu sehen, ohne zu wissen, welche Bedeutung sie hat, im Allgemeinen und im konkreten Fall für mich. Ist sie eine heilige Kuh, ein gefährliches Tier, eine Milchquelle oder auf direktem Weg zum Schnitzel?

Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay)

Mit dem Zeichengebrauch tritt neben die Wahrnehmung die Vorstellung, neben der Tatsache Olaf Scholz tauchen die Vorstellungen auf, die mit diesem Namen verbunden sind. Man ahnt sofort, dass diese Vorstellungen sehr verschiedenartig sein können. Aber das ist das kleinere Problem. Sobald die Möglichkeit gegeben ist, Abwesendes zu thematisieren, öffnen sich nämlich der Höllenschlund der Lüge und das Paradies der Fiktion. Nichts hindert mich, etwas zu erzählen, von dem ich weiß, dass es gar nicht stimmt, sofern und solange ich damit rechnen kann, dass es für die Adressaten meiner Erzählung nicht überprüfbar ist. Zum anderen kann die Phantasie ihren freien Lauf nehmen, weil Zeichen auch benutzt werden können, um bloßen Vorstellungen einen Namen zu geben, zum Beispiel dem Wolpertinger oder dem Ungeheuer von Loch Ness oder auch dem lieben Gott und der heiligen Maria. Übrigens auch der Arbeiterklasse.

Die eine Wirklichkeit hat es nie gegeben

Als systematisches Zwischenergebnis haben wir es mit vier verschiedenen Wirklichkeiten zu tun: Der tatsächlich mit unseren Sinnen wahrnehmbaren; sie wird meist Realität genannt. Den mit Hilfe von Zeichen (vor allem der Sprache) hervorgerufenen Vorstellungen von Realitäten. Den Abstraktionen, die nichts Reales benennen, aber irgendwie an Realitäten zurückgebunden sind wie das Obst oder auch statistische Aussagen. Und den Fiktionen, also den Vorstellungen, die sich jenseits von Realitäten entfalten. Sie können zum Beispiel die Form von Visionen oder Utopien annehmen. Oder auch als wahnhaft gelten, wenn sie mit dem Anspruch von Aussagen über Realitäten auftreten, sich aber mit den vorherrschenden Realitätsvorstellungen nicht decken.

Und dann gibt es noch die ludische Wirklichkeit, die sich immer schon Sonderrechte herausgenommen und deshalb auch oft verdächtig gemacht hat. Sie behandelt Fiktionen, als ob sie Realitäten wären. Die Spieler:innen wissen aber und sagen es auch, dass sie diese ludische Wirklichkeit nur während und innerhalb der Spielzeit praktizieren. Sie verhalten sich sofort wieder normal, wenn das Spiel vorbei ist; es sei denn, sie spielen es gleich noch einmal.

Die eine Wirklichkeit, das soll festgehalten werden, hat es nie gegeben, nicht einmal auf der Ebene der direkten Wahrnehmung. Mit dem Zeichengebrauch, also der Kommunikation, wird der Umgang mit verschiedenen Wirklichkeiten zum Alltag und der Streit um die „wirkliche Wirklichkeit“ normal. Es sei denn, und damit kommen wir zu den historischen Umständen, es gibt einen großen Sieger, der alles bestimmt.

II               Aufstand der Zeichen und Vielfalt der Realitäten

Bis die bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zum Aufbruch geblasen haben für Gedanken-, Meinungs-, Informations-, Rede-, Pressefreiheiten hat die Vorherrschaft einer Religion die Kommunikation weitgehend unter Kontrolle gehalten – auch mit Scheiterhaufen und Zensur. Religionen verwalten die Sinne und den Sinn. Sie versuchen, eine, in Zahlen: 1 Wirklichkeit zu produzieren und zu konservieren. Schlechte Gedanken müssen gebeichtet, böse Taten gesühnt werden, bespielsweise am Ende im Fege- oder im Höllenfeuer. Aber mit dem Buchdruck konnten sich Informationen und Wissen über Klöster, Bibliotheken und Paläste hinaus nach und nach verbreiten. Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, wollte eine schönere Bibel drucken, dass er Flugblättern, Romanen, Zeitungen und einer Bücherflut den Weg ebnete, ahnte er nicht. Springen wir vom 18. ins 21. Jahrhundert und versuchen zu begreifen, was der historische Hintergrund für die heutigen Kämpfe um Wirklichkeit ist. Denn wenn das 21. Jahrhundert bereits ein Markenzeichen hat, dann ist es der Kampf um die Wirklichkeit, der Streit um die Grenzen zwischen Fakten, Fakes und Fiktionen.

Ertrinken in der Zeichenflut, Jammern über Sinnlosigkeit

Zu den historischen Umständen, die den Kampf um die Wirklichkeit in der Gegenwart beflügeln, zählen insbesondere diese drei: 1. Das Überhandnehmen der Zeichen, 2. die Differenzierungen und Spezialisierungen der Realitäten sowie 3. die sich häufende Kopplung von Erfolgschancen und Wirklichkeitskonstruktionen, die eine Inflation von PR und Werbung auslöst.

1. Es ist schon oft genug beobachtet und beschrieben worden, dass wir Heutigen unsere Informationen und Erfahrungen immer weniger der eigenen Wahrnehmung verdanken, sondern der Kommunikation. „Die Medien“ sagen wir und meinen die Verbreitungsmedien, die riesige Zeichenmengen transportieren und jetzt auch noch in einer „virtuellen Realität“ abspeichern und jedem Mann und jeder Frau mit einem Smartphone in der Tasche für jederzeitigen Zugriff anbieten. Zeichen, haben wir oben gesehen, funktionieren nur, wenn ihr Sinn geteilt wird, wenn sie verstanden werden. Das Ertrinken in der Zeichenflut und das Jammern über Sinnlosigkeit haben etwas miteinander zu tun.

Angesichts von Presse, Radio und Fernsehen beklagte der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard schon in den 1970er Jahren den „Aufstand der Zeichen“ und die „Agonie des Realen“. Den Computer, der den Zeichengebrauch noch einmal potenziert und ein kommunikatives Schlaraffenland schafft, hatte Baudrillard noch gar nicht so im Blick. Je mehr Zeichen, desto häufiger und härter die Deutungskämpfe. Die moderne Zeichenmenge erhöht sich noch dadurch, dass multikulturelle Deutungszusammenhänge aufeinander treffen. Dürfen Menschen mit weißer Hautfarbe Dreadlocks tragen, die ein Zeichen gegen Kolonalisierung sind, oder ist das eine kulturelle Aneignung, die einen empörenden modischen Gag daraus macht?

2. Arbeit und Leben in der Moderne werden von Soziologen unter anderem auf den Begriff der „Multioptionsgesellschaft“ gebracht, über den Hartz-4-Empfänger:innen nur höhnisch lachen können. Aber der Begriff spiegelt eine Realität: Die Ausdifferenzierung und Spezialisierung auf allen gesellschaftlichen Leistungs- und Konsumfeldern. Ob Medizin oder Sport, Wirtschaft, Kunst oder Wissenschaft, die nicht mehr überschaubare reale Vielfalt der Heilmittel, der Sportdisziplinen, der Brotsorten, Modewaren, Musik- und universitären Fachrichtungen machen aus dem Alltag einen operativen Dschungel und die „neue Unübersichtlichkeit“ zu einem geflügelten Wort. Es ist schwer geworden, das Selbe zu meinen, wenn wir über das Gleiche reden.

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3. Im kommunikativen Schlaraffenland und im operativen Dschungel könnten Pluralität und Beliebigkeit fröhliche Urstände feiern, wären da nicht die wechselseitigen Abhängigkeiten der einen von den Meinungen, Urteilen und Entscheidungen der anderen. Freiheitsrhetorik und Abhängigkeitspraxis gehen Hand in Hand, aber die eine stolziert und die andere humpelt. Dass die Nudeln von Bernbacher, die Autos von BMW, die Studienbedingungen der Zeppelin-Universität und die politischen Entscheidungen der SPD die besten sind, das wissen die Leute ja nicht, wenn man es ihnen nicht immer und immer wieder sagt. Das Spektakel, um überhaupt Aufmerksamkeit zu wecken, und die Inszenierung, um die „richtigen“ Vorstellungen hervorzurufen, werden zu notwendigen Anstrengungen für alle, die auf der Erfolgs- und Überholspur vorankommen wollen.

Für die Kommunikation wurden eigene Programme entwickelt und zugelassen, welche gezielt auf die Wirklichkeitsvorstellungen der Menschen Einfluss zu nehmen versuchen; sie zu manipulieren, sagt man, wenn man das alles nicht so gut findet. Ein besonders komisches Programm ist die Werbung, von der alle wissen, dass sie täuschen will und darf; und dabei stets mehr will als sie darf, weshalb Konflikte entstehen, was noch erlaubt sein soll und was nicht. Die „Medienwirkungsforschung“ versucht herauszubekommen, auf welche Weise und wie sehr Leute sich beeinflussen lassen. Kommunikationsagenturen vieler Art versprechen, genau das zu wissen und zu können. Wie der Schmied Metalle so bearbeiten Agenturen Wirklichkeiten, indem sie Fakten, Vorstellungen und Fiktionen zum Schmelzen bringen und in einem Guss präsentieren.

So tun, als wüsste man, was man tut

Alles in allem entstehen und reproduzieren sich gesellschaftliche Verhältnisse, die den Einzelnen zumuten, in der Praxis so zu tun, als wüssten sie, was sie tun, während in Theorien ausführlich dargelegt wird, dass die vorgeblichen Gewissheiten nur Konstruktionen von zeitlich begrenzter Haltbarkeit sind. Entscheiden muss man sich ja gerade deshalb, weil man nicht weiß, was richtig ist. Die allgegenwärtige Notwendigkeit, zu entscheiden und zu handeln, schreit nach sicherem und eindeutigen Wissen. Dem stehen unvermeidliche Unklarheiten, Meinungsverschiedenheiten und die Erfahrung allseitiger Beeinflussungsversuche gegenüber: Alle wollen dein Bestes, aber jede und jeder nur für sich.

Die Zukunft ungewiss, die Gegenwart unklar, die Geschichte laufend umgeschrieben, da kann aus der Sehnsucht nach der einen Wahrheit, die Halt gibt, eine Sucht werden. Die eine Wahrheit ist und bleibt ein Herrschaftsinstrument. Im 21. Jahrhundert ist sie nur noch im Plural zu bekommen, so dass deren Protagonisten sich entscheiden müssen, ob sie sich gegenseitig ignorieren oder die Köpfe einschlagen. Lasst es uns spielerischer sehen und verstehen, empfehlen Organisations- und Lebensberater:innen. Die reden sich leicht.

Der Beitrag erschien zuerst in der August-Ausgabe 2022 von OXI. Wirtschafts anders denken

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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