Bei der Vorstellung der “Gaspreisbremse“ zeigte sich ein irritierendes Bild: Michael Vassiliadis, Chef der drittgrößten Mitgliedsorganisation im Deutschen Gewerkschaftsbund, trat als eine Art informeller Regierungssprecher vor Kameras und Mikrofone. Unter dem Motto “Sicher durch den Winter“ erläuterte der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie die Idee, Privathaushalten einen Monatsabschlag der Heizkostenrechnung als mageres staatliches Weihnachtsgeschenk zu erstatten. Preisbegrenzungen hingegen soll es frühestens im März oder April nächsten Jahres geben.
Gebremst wird, geht es nach der „Kommission Gas und Wärme“, also paradoxerweise erst dann, wenn es im Frühling nicht mehr so dringlich ist. Zudem wird die Industrie nach den Plänen eindeutig priorisiert. Die Unternehmen sollen sieben Cent pro Kilowattstunde zahlen, Privatleute zwölf. Weiterhin profitieren Gewerbebetriebe schon ab Januar 2023 von den günstigeren Konditionen – mit der Begründung, die finanzielle Entlastung sei dort wegen einer klareren Datenbasis leichter umsetzbar.
Gewerkschafter Vassiliadis von der IG-Bergbau-Chemie-Energie repräsentiert eine Branche, die stark betroffen wäre, falls Energie in den nächsten Monaten wirklich knapp werden sollte. In der “Kommission Gas und Wärme“, die das Konzept ausgearbeitet hat, vertrat er vorrangig die Interessen der eigenen Klientel. Die Beschäftigten der Aluminiumhersteller zum Beispiel benötigen in ihren Produktionsabläufen besonders viel Energie. Deren Jobs sichern zu wollen, ist ein verständliches gewerkschaftliches Anliegen. Doch müssen Arbeitnehmervertretungen deshalb die Politik einer sozialdemokratisch geführten Regierung kritiklos unterstützen?
Statt mit oppositionellen Kräften kooperiert der DGB in bekannter Manier mit der SPD. Die Gewerkschaften verlangen zwar finanzielle Entlastungen für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen und eine höhere Besteuerung von Vermögenden. Die Straßenproteste gegen teure Energie und hohe Inflationsraten aber überlassen sie weitgehend der AfD. Die eigentlich dafür prädestinierte Linkspartei ist durch interne Konflikte geschwächt und meist mit sich selbst beschäftigt. Zusätzlich schreckt ab, dass Regierungsmitglieder wie Innenministerin Nancy Faeser die Demonstrationen, ähnlich wie schon in der Corona-Krise, pauschal unter den Verdacht der “Demokratiefeindlichkeit“ gestellt haben.
Verbalradikalismus und Harmonie
Die aktuellen gewerkschaftlichen Forderungen für die kommenden Tarifrunden in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst liegen immerhin zwischen acht und zehn Prozent mehr Lohn. Das klingt auf den ersten Blick hoch, dürfte im Ergebnis jedoch nicht mal die Preissteigerungen ausgleichen. Denn Forderungen sind bekanntlich noch keine Abschlüsse, zu ihrer Durchsetzung bedarf es kämpferischer Aktionen bis hin zu Streiks.
Doch bisher hat es noch keine gewerkschaftlichen Demonstrationen gegeben – anders als in Nachbarländern wie Großbritannien oder Österreich. Der ÖGB organisierte schon Mitte September landesweite Proteste gegen Energiekrise und Teuerung, zudem hat der österreichische Dachverband einen eigenen Vorschlag zur Übergewinnsteuer entwickelt. Der britische Aufruf “Don’t pay UK“ ermuntert Millionen Gaskund:innen dazu, das Bezahlen ihrer Energierechnung zu verweigern. Unterstützt wird die breit angelegte Kampagne wesentlich vom Trade Union Congress TUC, dem Pendant zum DGB auf der Insel.
Das Verhältnis der (formal überparteilichen) deutschen Gewerkschaften zur Bundesregierung war historisch betrachtet stets ambivalent. Unter CDU-geführten Kabinetten hörte man auf den Kundgebungen zum Tag der Arbeit am 1. Mai häufig verbalradikale Floskeln wie die Warnung vor einer “Koalition aus Kabinett und Kapital“. Harmonischer ging es zu, wenn die Sozialdemokratie den Kanzler stellte, doch selbst dann scheuten die DGB-Organisationen keineswegs jede Konfrontation.
1974 zum Beispiel trug ein harter Streik im öffentlichen Dienst mit stark eingeschränktem Nahverkehr und überquellenden Mülltonnen auf den Straßen maßgeblich zum bald folgenden Sturz von Willy Brandt bei. Heinz Kluncker, der mächtige Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV, einer Vorläuferorganisation von ver.di, setzte im damaligen Arbeitskampf eine zweistellige Tariferhöhung durch – nach dem Ölpreisschock bestand wie heute die Gefahr einer beschleunigten Inflation. Und auch später, als Rot-Grün unter SPD-Regierungschef Gerhard Schröder Mitte der Nuller Jahre die Hartz-Gesetze durchsetzen wollte, mobilisierten die Arbeitnehmerorganisationen mit Massendemonstrationen gegen das Vorhaben.
Oder zum Beispiel 7. November 1981: „Fast hörbar ist Franz Steinkühler ‚ein Stein vom Herzen gefallen‘, als sich im frostigen Dämmerlicht auf dem Stuttgarter Schlossplatz nicht nur, wie erhofft, 40.000, sondern 70.000 Teilnehmer zur Protestkundgebung gegen Arbeitsplatzverlust und soziale Demontage versammelt hatten“, schrieb Die Zeit. Steinkühler, damals Bezirksleiter der IG-Metall in Baden-Württemberg, hatte gegen den Willen des DGB-Bundesvorstandes zu Protesten gegen die SPD/FDP-Regierung Helmut Schmidts aufgerufen. Für große Demonstrationen gegen Sozialabbau mobilisierte der gesamte DGB erst, als Helmut Kohl im Bundeskanzleramt saß.
Mobilisierungslücke
Derzeit dominiert sozialpartnerschaftliche Kungelei, höflicher ausgedrückt: mitwirkende Zusammenarbeit in einer “Konzertierten Aktion“ – so heißt der Pakt zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften in Anlehnung an frühere Zeiten.
Die Arbeitnehmerorganisationen im DGB bilden allerdings keinen einheitlichen Block. Ver.di-Chef Frank Wernecke, wie sein IG BCE-Kollege Michael Vassiliadis Mitglied der Gaspreis-Kommission, hält die jetzt präsentierte Regelung für “nicht ausreichend sozial ausbalanciert“. Die stärker links ausgerichtete Dienstleistungsgewerkschaft hat sich wie auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem BUND, Campact, Attac und der Initiative Finanzwende zu einem Bündnis “Solidarischer Herbst” zusammengetan. Die Demonstrationen am 22. Oktober in sechs Großstädten, auf denen auch vereinzelte DGB-Fahnen wehten, standen im Schatten der Solidarität mit den Protestierenden im Iran.
Noch bleiben gewerkschaftliche Aktionen im Bündnis mit anderen emanzipatorischen Strömungen die Ausnahme. Der Unmut in der Bevölkerung aber ist offensichtlich, die Bereitschaft zum Sozialprotest gerade in Ostdeutschland groß. Die so entstandene Mobilisierungslücke füllen rechte Bewegungen – in denen sich in der Tat auch Feinde der Demokratie tummeln.
Unter dem Titel “Lauwarmer Herbst” erschien der leicht geänderte Beitrag zuerst in der taz.