Kolonialismus, so ist zu lesen und zu hören, beginne mit dem Griff nach billiger, leicht auszubeutender Arbeitskraft; daraus ergäbe sich die Rechtlosigkeit der kolonisierten Menschen und aus der Ausbeutung entstünden erhoffte Profite. Tatsächlich steht am Anfang von Kolonisierung jedoch die Überzeugung, dass die Objekte der Kolonisten minderen Wertes seien.
βάρβαροι, bárbaroi also eigentlich Fremde, seien der Eroberer- Sprache und der Umgangsformen der Erobernden nicht mächtig. Daraus wurde gefolgert, dass die so bezeichneten unzivilisiert, kulturell unterwertig und gattungsmäßig den Kolonisten nicht gleich seien. Da hat Kolonisierung ihren Ursprung.
Das können wir in Homers Ilias, oder auch in Vergils Aeneis, in Caesars de bello gallico und auch im fünften Buch der historiae des Tacitus über die Juden nachlesen. Wenn ich die damalige Kolonisierung in einen heutigen Sprachgebrauch „versetze“, kommt heraus: rücksichtslose sozio-kulturelle Projekte, die sich politisch, militärisch und ökonomisch wirkungsvoll niederschlagen.
Eroberer ziehen hinaus in die große, weite Welt (oder auch nach „Nebenan“). Sie tragen das Bewusstsein mit sich: Wir bringen den bárbaroi ja etwas, was die bisher nicht hatten. Wer das genauer verstehen will, sollte Reinhold Schneiders Erzählung „Las Casas vor Karl V – Szenen aus der Konquistadorenzeit“ aus dem Jahr 1938 nachlesen.
Im Gegenzug bekämen die Kolonialherrschaften etwas von den Kolonisierten: Arbeitskraft, Waren und Dienstleistungen, Rohstoffe, darunter besonders Wertvolle wie Gold. Manches davon „veredeln“ die Kolonisten, um es anschließend mit Profit den Eroberten zu verkaufen. Jedenfalls steht am Anfang immer das Bewusstsein der kulturellen Dominanz in Kombination mit erdachter ethnischer Überlegenheit. Dieses „Narrativ“ zieht sich durch unsere gesamte Geschichte. Pardon: Nicht ganz. Denn da soll es mal ein kleines gallisches Dorf gegeben haben, bei dem das nicht zutraf. Genaueres weiß man aber nicht.
Auf einer Veranstaltung der Initiative Minderheiten Tirol kürzlich in Innsbruck wurde in diesem Zusammenhang die Frage der „inneren Kolonisierung“ aufgeworfen. Wie muss man sich die „innere Kolonisierung“ in Europa vorstellen? Auf den Territorien traditioneller Staaten wurden Minderheiten so oder ähnlich behandelt, wie die erwähnten „Barbaren“ in eroberten Gebieten. Diese Minderheiten
- waren weitgehend rechtlos.
- Sie wurden in die traditionellen und ökonomisch wichtigen Berufe nicht hinein gelassen.
- Man hat ihnen den Erwerb von Eigentum – in der Stadt und auf dem Land – unmöglich gemacht oder wenigstens erschwert beziehungsweise nur auf isoliertem Gelände gestattet.
- Der Staat nahm sich ihrer in besonderer, diskriminierender und unterdrückender Weise an.
- Dazu zählten die Unterdrückung der Minderheiten-Sprache, rigorose Kontrolle von Mobilität, Diffamierung als kriminell.
- Minderheiten wurden umdefiniert in unzivilisierte, nicht zur gewohnten Umgebung passende, also nicht zur „Heimat“ zählende, fremde Gruppen.
Ob es dazu Beispiele gibt, wird gefragt werden.
Ja, diese Beispiele gibt es. Mir fallen sofort die Millionen polnisch sprechender, polnisch-stämmiger, katholischer Frauen, Männer und Kinder ein, die bis nach dem 1. Weltkrieg überwiegend in der Agrarwirtschaft unter preußischer Diktion leben mussten. Das war die größte, nach Millionen Köpfen zählende, diskriminierte Minderheit in Deutschland. Was wissen wir heute über sie? So gut wie nichts. Nach 1870 mit der Reichsgründung wurde jegliche polnische Eigenständigkeit in den preußischen Gebieten unterbunden. Die Haltung der Preußen hatte Friedrich Engels bereits Jahrzehnte zuvor in der Rheinischen Zeitung zu dem Satz veranlasst:
Ihr habt die Polen verschluckt, verdauen werdet Ihr sie bei Gott nicht!
Innere Kolonisierung beschränkte sich aber nicht allein auf Polen in Preußen. Auch gegenüber Juden, Sinti, Roma, Sorben und gegenüber den Jenische gab es die „innere Kolonisierung“. Man verwandelte deren Lebensräume gewissermaßen in „Inseln“ im „Meer“ der Mehrheitsgesellschaft. Diese Kolonisierung war nicht durchgängig gleich; sie hatte und hat unterschiedliche Formen. Einige Hinweise:
Die bekanntesten Inseln sind die Ghettos, die es seit vielen Jahrhunderten gab. Papst Paul IV hat den Ghettos 1555 als Grundlage eine Littera apostolica, eine päpstliche Rechtsetzung in Form einer Bulle gegeben:
…dass eben diese Juden in unserer gütigen Stadt und in einigen Städten, Ländern und Orten der heiligen römischen Kirche so unverschämt geworden sind, dass sie nicht nur unter den Christen vermischt und in der Nähe von deren Kirchen ohne einen trennenden Unterschied in der Kleidung leben, sondern dass sie sogar Häuser in den vornehmeren Gegenden und Gassen der Städte, Länder und Orte, in denen sie leben, mieten, Immobilien kaufen und besitzen,…..
Viele der mittelalterlichen Ghettos dienten übrigens auch dem Schutz und der Selbstbehauptung der Ghetto- Bewohner vor den sie umgebenden Mehrheits-Gesellschaften. Die Nazis haben diesen Gedanken pervertiert. Sie haben Millionen Juden und Hunderttausende Sinti und Roma-Gruppen in Ghettos zusammengepfercht: Nicht um sie zu schützen, sondern um sie zu ermorden. Es wurden 1300 Ghettos in jenen Jahren gezählt.
Aus dem Wörterbuch des Unmenschen: “Ballastexistenzen”
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die als Wander- Handwerker arbeitenden und lebenden Familien in „Asoziale“ umgedeutet. Bereits in den zwanziger Jahren wurde beraten, ob solche nicht besser zwangssterilisiert werden sollten. „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ erschien 1920. Es war ein weitverbreitetes Buch des Strafrechtlers Karl Binding und des Neurologen Alfred Hoche, das den Nazis später als eine Art „Blaupause“ diente. Binding führte das Wort „Ballastexistenzen“ in die damaligen sozio-kulturellen Diskussionen ein.
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurden die landfahrenden Familien, also Wander-Handwerker, darunter auch viele Überlebende der Nazizeit, an die Ränder der Städte gedrängt, dadurch zu Isolation und Arbeitslosigkeit verurteilt. Peter Widmann hat vor Jahren eine beeindruckende Darstellung dieser Entwicklung vorgelegt. (An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik. Metropol Verlag, Berlin 2001).
Die in der Lausitz lebenden Sorben machten ähnliche Erfahrungen. Die Weimarer Republik brachte dieser Volksgruppe mit eigener Sprache, eigenen Traditionen und Ideen formale Gleichheit mit der Mehrheitsgesellschaft. Aber an den realen Lebenslagen änderte sich wenig. Die Nazis wollten die Sorben „um-deutschen“ – und weil das nicht voran kam, wollte Heinrich Himmler sie aus der Lausitz vertreiben, um sie anderswo anzusiedeln – so ähnlich hat Stalin das mit den Wolgadeutschen tun lassen.
Über die längere Zeit gesehen verschwinden viele Minderheiten im Meer der Mehrheit. Die Sinti-Familien sind weitgehend Teil des Meeres geworden. Jenische verschwinden mehr und mehr in Deutschland. Die Jüdinnen und Juden haben neue Gemeinden gebildet. Aber deren Gefährdung durch neue Nazis und antisemitische Muslime sowie durch eine uninteressierte Gesellschaftsmitte ist unübersehbar. Einen Blick hierfür hilft Ronen Steinkes Buch: Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt, entwickeln. (Herlin Verlag Berlin 2. Auflage 2020)
Wir haben für die innere Kolonisierung keinen Blick entwickelt; oder entwickeln wollen. Als am 1. Juni 2012 das Kreislaufwirtschaftsgesetz in Kraft trat, verloren über kurz oder lang tausende Altwaren- Sammler- Betriebe ihre Existenzgrundlage, denn das Einsammeln werthaltiger Gegenstände wurde bei Strafe Sache der Kommunen. Die erwähnten Kleinbetriebe wurden vor allem von früheren Wander-Handwerkern betrieben. Projekte, um diesen Vorgang sozial abzufedern, kenne ich nicht.
Mein abschließender Blick auf die innere Kolonisierung: In meiner Heimat im Rheinland werden jährlich zur Zeit der Krötenwanderung viele Frauen, Männer und Kinder aktiv, um den Kröten das Schicksal zu ersparen, von Automobilen tot gefahren zu werden. Die Gefährdung tierischer Arten bewegt Menschen. Der Verlust von Minderheiten-„Inseln“ im Meer der Mehrheit wird stillschweigend hingenommen.