Es ist ein Fundstück mit einer langen Geschichte, die erschüttert, beschämt, sprach-los macht: Nach über 60 Jahren veröffentlicht ein kleiner französischer Verlag unter dem Titel „Les chemins de l’aube“ [„Wege im Morgengrauen“] den Text des Franzosen Sylvain Vergara, der 1943 als 18jähriger in Paris verhaftet und 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert wurde. An der Geschichte seines Überlebens schrieb der junge Franzose aus einem protestantischen Pfarrhaus in Paris über zehn Jahre, warb um eine Veröffentlichung, schrieb an Gott und die Welt, so den späteren Nobelpreisträger und Buchautor Elie Wiesel („Die Nacht“), und erhielt bis auf Wiesels ermutigenden Brief aus dem Jahr 1985 („es muss publiziert werden“) nur Absagen. Bis zu seinem Tod vor dreißig Jahren.
Das schmale, gerade 100 Seiten umfassende Buch fällt aus dem Rahmen der bisher bekannten Berichte, mit denen sich neben Wiesel der Ungar Imre Kertesz mit seinem „Roman eines Schicksallosen“ (im Original 1975, in deutscher Übersetzung 1996) und vor allem Jorge Semprun unauslöschlich bedrückend ins Gedächtnis geschrieben haben. Ohne Sempruns „Die große Reise“, „Was für ein schöner Sonntag“ (1981) und „Der Tote mit meinem Namen“ (2001) ist die Erinnerung an die brutale, menschenverachtende und menschenvernichtende Geschichte des KZs auf dem Ettersberg vor den Toren Weimars nicht denkbar. Ohne ihn wären auch die zynischen Verhaltensweisen der Kommunisten im Lager im Dunklen geblieben, ihre Rettungsaktionen der eigenen Leute auf Kosten anderer zum Beispiel: Jorge Semprun, Jahrgang 1923, ein damaliges führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens, verdankte ihnen sein Überleben. In „Der Tote mit meinem Namen“ deckte er dieses Überleben schonungslos auf.
Emmanuel, le petit
Sylvain Vergara, der zur selben Zeit wie Semprun und Kertesz in Buchenwald war, ist kein jüdischer Franzose, den das Vichy-Regime in eilfertiger Kollaboration an die Nationalsozialisten auslieferte, auch kein Kommunist oder bekanntes Mitglied der „résistance“. Seine Verhaftung und sein Weg über französische Gefängnisse und Sammellager bis auf den Ettersberg bleiben unklar: wie im dichten Nebel, der auch bei der Ankunft des Transports in Buchenwald herrschte. Sein Überlebensbericht beginnt im Februar 1944 auf dem Appellplatz: Da stehen die Häftlinge, die Hände auf dem Rücken verschränkt, hören einen langsamen Marsch des Lager-Orchesters „zur Begrüßung“, sehen die selbstgefälligen Inszenierungen der SS, folgen dem Befehl „Mützen ab“ des Kapo. Vergara blickt auf diese Ankunft im KZ mit einer inneren Kamera. Er hält Bilder fest, flüchtig oder wie im Vorbeigehen. Auf einer Mauer eines Blocks entdeckt er die Inschrift „Mamas Geburtstag“. Und stellt sich die Frage, die für den jungen Protestanten aus Paris zur Überlebensfrage wird: Konnte der Mann, der in diesem Lager an den Geburtstag seiner Mutter denkt, seine Menschenwürde (dignité d`homme) bewahren? Auf allen seinen „Wegen im Morgengrauen“ geht er dieser Frage nach.
Sylvain Vergara gibt sich in seinem Bericht über die 14 Monate in Buchenwald den Namen „Emmanuel“: Gott (sei) mit uns. Warum er diesen Namen aus dem Alten Testament wählte, gibt der Autor nicht preis. Wir erfahren über ihn selbst auf diesen hundert Seiten fast nichts. Seine Zeit vor Buchenwald kommt nicht vor. Schemenhaft taucht ein Haus in den Bergen des Doubs auf, mehr nicht. Dieser Jugendliche, der auf die Mithäftlinge wie ein Kind gewirkt haben muss, denn sie nennen ihn nur „le petit“ (den Kleinen), beobachtet und beschreibt menschliches Verhalten unter menschenvernichtenden Bedingungen. Das System, das im Lager herrscht, durchschaut er nicht. Wer wen und mit welchen Mitteln am Leben hält, begreift er ebenso wenig. Er fragt nicht, was die verschiedenen Aufnäher auf der Häftlingskleidung bedeuten, warum auf den roten „Winkeln“ der politischen Häftlinge ein S für Spanier prangt, wie bei Semprun, ein B für einen Belgier namens Léon, der ihm hilft zu überleben. „Den „Duft der Kohlrübensuppe“, den der 16jährige Imre Kertesz im Krankenlager als Hauch des Überlebens beschreibt, verspürt dieser Emmanuel nicht.
Sylvain Vergara schreibt mit behutsamen, eher leisen Worten über das Sterben in diesem Lager, über gegenseitiges Helfen, aber auch gegenseitiges Bestehlen, Anschwärzen, Vernichten. Er staunt mit eindrucksvollen, nie plakativen Sätzen, was Menschen Menschen antun können. Immer wieder kreist der junge Protestant um sein Thema, wie Christsein, christliche Nächstenliebe oder der Glaube an Gott in einem solchen Lager noch möglich ist, wo jeder jeden belauert, beobachtet und um das eigene Überleben kämpft. Es sind jeweils kurze Kapitel, in denen der Autor beobachtet, wie ein Mensch stirbt oder ein anderer die letzte Brotkugel unter dem Kopfkissen eines erschöpft Schlafenden klaut und über Emmanuels Empörung laut hinweglacht. „Santamaria“ erzählt ihm in seiner ersten Nacht in der Baracke aus seinem Dorf und den schönen Mädchen, die auf ihn warten wie seine Mutter. Santamaria stirbt in dieser Nacht neben Emmanuel und wird am Morgen aus der Baracke geworfen, ohne dass jemand den Toten beachtet. Um seinen leeren Platz, schreibt Vergara, schlagen sich die Nachbarn, um sich ausstrecken zu können.
Glückliches Geschrei: Es war das Ende
Entsetzen und Bewegendes liegen bei diesem Autor dicht beieinander. Anrührend beschreibt der junge Franzose die Gespräche, die in dem Wald mit den winterschwarzen, kahlen Bäumen zwischen ihm und Léon, einem belgischen Arzt, dann und wann möglich sind. Es sind die kleinen Fluchten am Abend, in denen die beiden kurz die Baracke verlassen, auf dem Berg spazierengehen, sich gegenseitig festhalten und bestärken in ihrem Glauben selbst in diesen grausigen Zeiten. Und es wird Léon sein, der ihn im Krankenlager vor dem Abtransport nach Auschwitz bewahrt, ihm gegen die Ruhr schwarzgeröstetes Brot in den Mund schiebt, für Medikamente sorgt.
Am Tag der Befreiung fällt Vergara als erstes auf, dass die grellen Lichter an den Wachtürmen erloschen sind. Sein Emmanuel steht draußen und schaut um sich, sieht durch den Morgennebel noch schwach Sterne. Er lehnt sich an eine Buche, streichelt die Rinde. Und dann: „Aus dem Lager stieg glückliches Geschrei: Es war das Ende.“ Er selbst rührt sich kaum, schreit nicht, weint nicht, reißt sich dann nur seine KZ-Nummer von der Jacke: 29 909. Er ist sich nicht sicher, ob er wirklich noch am Leben ist. Im letzten Satz legt sich Emmanuel auf die Erde und schließt die Augen.
Mehr erfahren wir nicht: Weder wie aus Emmanuel wieder Sylvain wird, noch wie der nun Zwanzigjährige weiterleben wird. Es gibt kein Nachwort, das der bitteren Geschichte dieses Buches und seines Autors nachgeforscht hätte. Der Verlag Ampelos beschränkt sich auf den kargen Hinweis, dass Sylvain Vergaras Bericht zur „Literatur der Zeugenschaft“ zu zählen und daher zu publizieren sei: Sechzig Jahre nach seinem Entstehen und dreißig Jahre nach dem Tod des Autors.
Die notwendige Geschichte zur Geschichte schrieb Ariane Chemin am 2. September, einen Tag nach dem offiziellen Erscheinungsdatum des Buches, auf einer Seite in der französischen Tageszeitung „le monde“. Ihr Titel: „Das vergessene Buch von Buchenwald“. Das Wort „oublié“ (vergessen) druckte die Zeitung groß und fett. Die Spurensuche Ariane Chemins führt weit zurück in die vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Marcelle und Pfarrer Paul Vergara, Sylvains Eltern, versteckten mit Hilfe ihrer Pariser Gemeinde jüdische Kinder und Jugendliche, darunter die Holländerin Yvonne. Sie wird Jahre später Sylvain-Emmanuel heiraten, sechs Kinder bekommen und diesem menschenscheu gewordenen Mann helfen, seinen Bericht zu schreiben, immer weiter an den Worten und Sätzen zu feilen und die Hoffnung nicht aufzugeben, dass daraus ein Buch wird, das die Menschen in Frankreich bewegt.
Geschichte der „Wege im Morgengrauen“
Sie tippte auf einer kleinen Schreibmaschine das Manuskript mit einem Durchschlag. Im Gespräch mit der heute 65jährigen Tochter Anne erfährt Ariane Chemin, dass diese Originale nicht mehr existieren: Tief depressiv verbrannte Sylvain kurz vor seinem Tod im Winter 1993 das Manuskript und Kopien, die er wieder und wieder französischen Verlagen angeboten oder an Prominente geschickt hatte, um sie um Vermittlung zu bitten. Vergeblich. Nur zum zwanzigsten Jahrestag der großen Verhaftungswellen in Paris erschien 1964 in der Revue „Esprit“ sein letztes, kurzes Kapitel, in dem französische (politische) Häftlinge bei einem Gruppenappell einen jüdischen Häftling in ihren Reihen versteckten: Eine Tat, die alle gefährdete und die Emmanuel nicht verstand. Der Revue schien die Heldenhaftigkeit der Franzosen zu gefallen, die sonst auf den übrigen hundert Seiten kaum zu finden ist.
Sylvains Vernichtungswut entgingen einige Exemplare, die ein Freund aus der Gemeinde auf eigene Kosten hatte drucken lassen. Aber sie interessierten niemanden mehr. Bitter zitiert Ariane Chemin den Historiker Laurent Joly, der 2016 zusammen mit seinem Kollegen Francois Passera von der Universität Caen die schriftlichen Zeugenschaften aus den finsteren Jahren Frankreichs noch einmal gelesen, ausgewertet und gewichtet hatte. Französische Verlage hätten Abenteuerliches und Heroisches aus dem Widerstand bevorzugt, keine Berichte voller Gräuel und Grauen von Überlebenden, so urteilten die Historiker nach ihrer Recherche.
Und dabei wäre es auch für die „Wege im Morgengrauen“ geblieben, hätte nicht Denis Faure, der sich für die Geschichte des französischen Protestantismus in jener Zeit interessiert, vor gut einem Jahr die Kinder Vergara aufgesucht, um sie genauer über des Schicksal ihres Großvaters Paul und seines Sohnes Sylvain zu befragen, der, wie sich erst jetzt durch verstaubte und vergilbte Funde in seiner Militärakte herausgestellt hat, in seinem protestantischen Gymnasium im Doubs zu einer Widerstandsgruppe gehörte, die Sabotageakte verübte. Die Gruppe flog durch Verrat auf und führte zur Verhaftung Sylvains. Bis zu diesen Funden glaubte die Familie, Sylvain sei stellvertretend für seinen abwesenden Vater verhaftet worden. Und so erwähnte Tochter Anne in dem Gespräch mit Denis Faure eher beiläufig, dass ihr Vater über seine Deportation einen Bericht geschrieben hätte. Und überreichte Faure ein Exemplar. Neun Monate später liegt das Buch vor, erschienen am 1. September, dem Antikriegstag. Die Geschichte zur Geschichte, die Ariane Chemin aufgeschrieben und die „le monde“ eindrucksvoll dokumentiert hat, fehlt darin.
Sie ließe sich in einer deutschen Übersetzung nachholen. Es wäre eine Chance, an den 18jährigen Sylvain-Emmanuel im KZ Buchenwald würdig zu erinnern.
Der Beitrag erschien zuerst auf Faustkultur.