Nachhaltigkeit braucht mehr als eine Utopie

Problem Wegwerf-Kapitalismus (Foto: sira)

Die Debatte über ein neues Zivilisationsmodell muss beispielhaft geführt werden. Beispiele oder konkrete Projekte geben Hinweise auf reale Entwicklungsmöglichkeiten und auf die Lösung ernsthafter Gegenwartsprobleme. Nachhaltigkeit braucht mehr als eine Utopie. Eine nachhaltige Entwicklung benötigt Zwischenglieder, die nicht übersprungen werden dürfen. Beispiele sind solche verbindenden Zwischenglieder. Aber welche Qualität müssen sie besitzen, damit Fortschritte erzielt werden können?

Wolfgang Storz hat in seinem Beitrag „Höchste Zeit für zwei, drei, viele und noch mehr Ökoprojekte“ drei Beispiele gewählt: autofreie Innenstädte, den Einsatz von Biobaumwolle für die Herstellung von Kleidern, um den Wasserverbrauch zu reduzieren, und das Recht auf Reparaturen und recycelbare Produkte. Diese Beispiele sind von sehr unterschiedlicher Qualität, was die Anforderungen an Veränderungen betrifft.

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Der Anbau von Biobaumwolle würde 91 Prozent weniger Wasser verbrauchen als der konventionelle. Allerdings ist damit zu rechnen, dass in diesem Fall die Preise um 20 bis 40 Prozent steigen. Eine wesentliche Voraussetzung dieser umweltschonenden Alternative besteht darin, dass sie technisches und organisatorisches Know-how und die entsprechenden Produktionskapazitäten der Unternehmen erfordert. Eine andere besteht darin, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Mitgliedsstaaten der EU die Preise für Bio-Baumwolle “senken”: durch Erhöhung der Einfuhrzölle und Verteuerung der Einfuhr herkömmlicher Baumwoll-Produkte.

Dieses Beispiel zivilisatorischen Wandels erscheint sympathisch, angenehm und unkompliziert. Ein großer ökologischer Fortschritt wäre ohne Verhaltensänderung der Bevölkerung möglich. Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden zukünftig Kleidung aus Bio-Baumwollen kaufen. Allerdings zu erhöhten Preisen, die die Ausgaben für andere Zwecke einschränken.

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Vielleicht sind aber dennoch größere Verhaltensänderungen der Konsumentinnen und Konsumenten erforderlich. Denn die Mentalität einer nicht geringen Zahl von Menschen verursacht ein Problem, das ungelöst bliebe: der Wegwerf-Kapitalismus würde weiterhin fortbestehen. Mag sein, dass der Preisanstieg für Kleidung die fast fashion verändern würde: dass Kleidung billig hergestellt und verkauft wird, damit die Kundinnen und Kunden häufiger neue Kleidung kaufen können. Es mag aber auch sein, dass sie nicht mehr mehrfach jährlich ihre Kleidung entsorgen und neue kaufen würden. Dies würde den Austauschzyklus der Kleidung verlangsamen.

Bis zu zwölf Kollektionen pro Jahr

Die Kleidungsindustrie scheint an einer Verlangsamung der Produktionszyklen unmittelbar kein Interesse zu haben. Die Quick Response Strategie ermöglichte es Herstellern wie H&M, Zara und Primark in Hochzeiten um die Jahrtausendwende bis zu zwölf Kollektionen pro Jahr auf den Markt bringen. Der beschleunigte Austausch von Information und Ware erlaubte es Designerinnen und Designern, rasch auf Trends zu reagieren und die Nachfrage nach bestimmten Stilrichtungen, Farben, Mustern & Co im Rekordtempo zu erfüllen. Deshalb werden die Kleidungsproduzenten versuchen, die Forderung nach nachhaltiger Mode zu blockieren oder im ihrem Sinne umzudefinieren, damit sie ihre Produktionskapazitäten auslasten können.

Dies bedeutet aber: mit einer Initiative wie dem Circular Sweater Project, das Pullover schon jetzt leichter recycelbar macht – dies scheint ein guter Ansatz zu sein – würde dem Problem der Verschwendung von Materialien begegnet. Aber geringerer Ressourcenverbrauch und die Recycelbarkeit wären nicht gleichbedeutend mit Nachhaltigkeit. Schließlich würde die Lust der Kundinnen und Kunden am schnellen Austausch ihrer Kleidung so nicht gedämpft. Und auch die Reparatur von Kleidung, die durch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Reparaturen von 19 auf 0 Prozent erreicht werden könnte, würde allenfalls einen Teil des Problems lösen. Diejenigen, die schon jetzt ihre Hosen, Röcke, Jacken und Mäntel zum Schneider zur Reparatur bringen, würden dies vermutlich vermehrt tun, weil es billiger wird. Aber dies sind Menschen, die ihre Kleidung mögen und dem Material einen Wert an sich beimessen. Aber für diejenigen, die in der Kleidung ein bloßes Wegwerfprodukt sehen, wäre dies nicht attraktiv.

Im Fall der Kleidung erscheint ein zivilisatorisches Umdenken schon komplizierter. Ökologischer Fortschritt würde die tiefgreifende Veränderung der Geschäftsmodelle der Kleidungsindustrie erfordern, aber zugleich ein Umdenken und Verhaltensänderungen der Konsumentinnen und Konsumenten. Vermutlich müsste die Transformation den Charakter und das Verständnis der Mode selbst tangieren. Die moderne Kleidung ist der Mode unterworfen und schlechthin veränderlich; sie verändert die Kleidung immer wieder von neuem. Die Mode ist Ausdruck der Flüchtigkeit des Existierenden. Sie kommt der Neigung von Menschen entgegen, gelegentlich ihr Äußeres zu verändern: mit neuer Kleidung, die einen anderen Stil signalisieren soll, mit einer neuen Frisur oder einem neuen Make-up, die anderen Menschen die Änderung des Charakters anzeigen sollen oder einem anderen Körper, der durch Abnehmen, Jogging oder Body-building erreicht wird, der auf eine neue Lebenseinstellung hinweist. Welche Antworten hat das neue Zivilisationsmodell auf diese elementaren Bedürfnisse?

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Wenn eine Großstadt wie Frankfurt am Main sich das Ziel setzt, in der Innenstadt autofrei zu werden, stehen die ökologischen Zielsetzungen wie eine bessere Luft, geringerer Lärm und höhere Lebensqualität im Vordergrund. Zugleich soll die individuelle Mobilität der Bürgerinnen und Bürger erhalten werden, indem der öffentliche Nahverkehr erheblich ausgebaut und seine Nutzung kostenlos wird. Und wenn zudem tausende von Taxen subventioniert würden, würden von einem privilegierten Fortbewegungsmittel zu einem Subsystem des ÖPNV.

Das Auto – ein komplexes Arrangement

Trotz dieser Mobilitätsalternativen würde eine autofreie Innenstadt eine Zumutung der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssten nicht nur mit Gewohnheiten und Routinen brechen und wären nicht nur in ihrer jederzeitigen individuellen Verfügbarkeit im Alltag eingeschränkt. Sondern der Verzicht auf das Auto würde den physischen und sozialen Aktionsradius der Individuen empfindlich begrenzen. Denn das Auto ist nicht nur Fortbewegungs- und Transportmittel, sondern ein komplexes Arrangement (Gilles Deleuze, Félix Guattari ), das die Möglichkeiten des Individuums erweitert: vor allem selbst darüber bestimmen zu können, wohin die Reise geht. Die Selbstmobilität ist die Ursache für die Lust am Auto, die wiederum die Lust des Menschen an der Mobilität verstärkt. Für viele Menschen ist die Mobilität ein sinnfälliger Bestandteil von Freiheit. So gesehen griffe die autofreie Stadt die Freiheit der Mobilität an.

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Es ist nicht das geringste Problem von Gesellschaft, Staat und Bevölkerung, dass die Vorstellung von zivilisatorischem Fortschritt im Bann des liberalen oder sozialen Staates war. Michel Foucault hat vor knapp 50 Jahren dargelegt, dass im politischen Denken und in der politischen Analyse der „Kopf des Königs noch immer nicht gerollt“ war. In der Gegenwart berücksichtigt das Nachdenken über ein neues Zivilisationsmodell immer noch zu wenig die Bedürfnisdynamiken der Bevölkerung. Es wird den Wechselwirkungen eines aktiven Staates mit Unternehmen und einer globalen Kultur des Massenkonsums nicht gerecht.

Weitere Beispiele und Projekte sollen folgen

Auf dem Weg zu einem neuen Zivilisationsmodell muss der aktive demokratische Staat den Interessenlagen von Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen. Wenn dies nicht geschieht, drohen schlechte Ergebnisse vernünftige Ziele und gute Absichten in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie gefährdeten das große Gesellschaftsprojekt zivilisatorischen Fortschritts. Deshalb kommt es darauf, an strukturelle Reformen gut zu machen.

Wir werden der Debatte über ein neues Zivilisationsmodell auf bruchstuecke.info weitere Beispiele und Projekte hinzufügen. Um den Bedürfnisdynamiken der Bevölkerung eine neue Form zu geben, scheint es wichtig, die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger stärker auszubilden, tatsächliche Wahlmöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können. Dies ist eine Aufgabe für das Bildungssystem. Ein weiteres Projekt soll sich der Frage widmen, wie die Menschen ihr Leben zukünftig selbst verdienen können. Dies wird die Zukunft der Arbeit betreffen.

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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