Wie wenig darf ein grüner Minister wissen?

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“Die Rente mit 63 war ein schwerer Fehler – sie steht sowohl der Generationengerechtigkeit wie dem Fachkräftemangel entgegen”, hat der Finanzminister Baden-Würtembergs, Danyal Bayaz, getwittert. Bayaz ist nach eigenen Angaben im „universitären Heidelberger Umfeld“ groß geworden, der Opa war türkischer Botschafter in der Bundesrepublik, der Vater Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks. Nun hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im vergangenen Jahr untersucht, wie sich Arbeit, Stress, körperliche Last und geringes Einkommen heute auf die Lebenserwartung auswirken. Die Süddeutsche Zeitung berichtete: „Wer als Beamter das 65. Lebensjahr erreicht, kann laut Statistik damit rechnen, noch 21,5 weitere Jahre zu leben. Angestellte und Selbständige haben im gleichen Alter noch eine Lebenserwartung von 19 Jahren. Arbeiter dagegen müssen laut Statistik damit rechnen, nach dem Rentenbeginn nur noch 15,9 Jahre lang zu leben – 5,6 Jahre weniger als Staatsdiener und immerhin noch 2,5 Jahre weniger als Angestellte. Weiß Minister Bayaz so etwas? Oder kommt so etwas in den gehobenen Schichten der Grünen nie zur Sprache?


Minister Bayaz bezog sich mit seiner Wortmeldung auf den Bundeskanzler, der kürzlich der Funke Mediengruppe gesagt hatte: „Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Rentenalter arbeiten können.” Er hatte hinzugefügt, das falle manchen schwer; wiedergegeben in der ARD.
Ausgelöst wurde die Rentendiskussion durch BILD. Das Blatt hatte unter Berufung auf die deutsche Rentenversicherung gemeldet, seit 2014 – also seit dem Inkrafttreten der Rente ab 63 – seien knapp zwei Millionen früher als regulär aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. 2021 seien 268 000 Renten ab 63 hinzugekommen, rund 26 Prozent aller endgültigen Rentenbescheide. Die Rentenkasse werde insgesamt durch alle Renten dieser Art mit 3,4 Milliarden € belastet.

Generationen Geplapper

Einschließlich der Krankenversicherungsbeiträge für die Rentner und der Ausgleichsleistungen für die Knappschaft hat die deutsche Rentenversicherung 2022 rund 354 Milliarden € verteilt. Sie ist damit das „Instrument“ mit der größten Verteilungssumme im Land. Dabei ist die Rente ab 63 strenggenommen längst passé. Der Zeitpunkt für die Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente für besonders langjährig Versicherte (45 Jahre Versicherungszeit) liegt heute statt bei 63 bei 64 Jahren. Der Zeitpunkt steigt zugleich mit dem Hinausschieben des regulären Rentenzuganges von 65 Jahren auf 67 Jahre im Jahr 2031. Schauen wir uns das Ganze mal etwas genauer an; vergessen wir hierbei auch nicht die Frage, ob Danyal Bayaz der geeignete „Zeitzeuge“ ist, um über die Rente ab 63 zu rechten.

Wir falten gern die Zeit, statt sie auseinander zu ziehen und Abschnitt für Abschnitt ausgiebig zu betrachten. Wir schieben sie zusammen, bis sie wie ein Plissee wirkt. Kennzeichnend ist der Gebrauch des Wortes „Generation“. Zum Beispiel sprechen deutsche Fußball- Kommentatoren seit Katar von der glücklosen Kimmich- Generation. Zuvor wurde eine Pandemie- Generation hin und her gewendet. Der Boomer-Generation folgte die Generation X. Dann traten die Generationen Golf und Youtube auf. Viele Jahre zuvor gab es eine skeptische Generation und noch weiter zurückliegend wurde von der „verlorenen Generation“ gesprochen. Mensch kann neuerdings im Stream ernüchtert sehen, was aus der „verlorenen Generation“ in Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ geworden ist. Schlage ich gegenwärtig die Zeitung auf, bleibe ich an den Worten „letzte Generation“ kleben.

Was ist daran echt, was PR-Gag, was wird von Bündeln aus Geburtsjahrgängen mit unterschiedlichen Bedingungen und Lebensweisen gedeckt? Eine echte Generation verbirgt sich tatsächlich hinter der Bezeichnung „Rente ab 63“.

Konsumarme Kindheiten

Die Generation, die ich meine, besteht aus einer Anzahl Jahrgangs- Kohorten, beginnend mit im 2. Weltkrieg Geborenen; in der Nachkriegszeit auf die Welt Gekommenen – bis zu denen, die in Westdeutschland bis Anfang der sechziger die Augen aufschlugen. Diese Jahrgänge wurden durch geringe Aufstiegschancen, durch eine zu der Zeit noch proletarische oder halb-proletarische Arbeits-Sozialisation, durch die Lebensweise zusammengebunden. Sie hatten in der Regel, vorsichtig geschrieben, konsumarme Kindheiten, sie besuchten die alte Volksschule (die wooden class) mit ihren acht Jahrgangsklassen, die in den sechziger Jahren durch die neun- oder zehnklassige Hauptschule abgelöst wurde, und die selbst mittlerweile wieder verschwunden ist.

Volksschule Mettenhof (später Max-Tau-Schule) Kiel, 1967
(Foto: Friedrich Magnussen auf wikimedia commons)

Die Heranwachsenden gingen mit 14 oder 15 in die Lehre. Vielfach traten sie mit der Berufswahl in die Fußstapfen der Väter, sie arbeiteten unter heute vergessenen harten Bedingungen mit langen Arbeitszeiten. Sie atmeten über viele Jahre Zeug ein, das heute die Polizei sofort auf den Plan rufen würde. Sie zahlten ohne Murren ihre Steuern und Sozialabgaben, Viele lernten Mitte der siebziger Jahre Arbeitslosigkeit und die immer stärker werdende Furcht vor der Massenarbeitslosigkeit kennen, vor dieser Geißel der Working Class, die heute weit überwiegend verschwunden ist.

Wer 1950 auf die Welt kam, hatte als Mann eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp 65 Jahren, die Frauen von 68 Jahren. Mittlerweile liegt die Lebenserwartung der Frauen im Schnitt bei fast 84 Jahren und der der Männer bei 79 Jahren. Nach 2010 hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung allerdings nur noch marginal erhöht.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat [wie im Vorspann schon mitgeteilt, aber es ist eine Wiederholung wert] im vergangenen Jahr untersucht, wie sich Arbeit, Stress, körperliche Last und geringes Einkommen heute auf die Lebenserwartung auswirken. Die Süddeutsche Zeitung berichtete: „Wer als Beamter das 65. Lebensjahr erreicht, kann laut Statistik damit rechnen, noch 21,5 weitere Jahre zu leben. Angestellte und Selbständige haben im gleichen Alter noch eine Lebenserwartung von 19 Jahren. Arbeiter dagegen müssen laut Statistik damit rechnen, nach dem Rentenbeginn nur noch 15,9 Jahre lang zu leben – 5,6 Jahre weniger als Staatsdiener und immerhin noch 2,5 Jahre weniger als Angestellte. Auch bei Frauen gibt es solche Unterschiede, wenn auch weniger ausgeprägt: Beamtinnen haben laut DIW-Studie eine um drei Jahre längere Lebenserwartung als Arbeiterinnen.“

Im Schnitt 5,6 Jahre – rund 2000 Tage weniger als Beamte im Schnitt. Weiß Minister Bayaz so etwas? Oder kommt so etwas in den gehobenen Schichten der Grünen nie zur Sprache?

Eine Art “blaue Mauritius” in der Rentenversicherung

Eine vergleichbare Untersuchung für frühere Zeiten ist mir nicht bekannt. Es ist freilich plausibel, eine noch größere Differenz zwischen den Lebenserwartungen der verschiedenen Berufsgruppen in den Jahrzehnten zuvor zu unterstellen. Schaut man sich die Sterbetafel 2010/12 an, dann zeigt sich in der Auswertung der Daten, dass damals drei Viertel der verstorbenen Männer weniger als 70 Jahre alt geworden waren, bei der Frauen liegt die Vergleichszahl bei einem knappen Drittel.

Die österreichische Rentenversicherung hat versucht, das Problem der geringeren Lebenserwartung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu lösen. Die sollten in der ersten Phase ihrer Rentenzeit überproportionale Rentenerhöhungen erhalten. Das scheiterte daran, dass es sich als sehr schwierig erwies, die besonders belasteten Erwerbsverläufe präzise von den weniger belasteten zu trennen. Das Problem blieb, dort wie in der Bundesrepublik.

Das Rentenzugangsalter (ein Wort wie ein dreifacher, eingesprungener Rittberger) steigt binnen 24 Jahren bis 2031 um zwei Jahre. Die durchschnittliche Versicherungszeit in der Rentenversicherung betrug 2021 bei den Männern knapp 41 und bei den Frauen etwa 29 Jahre (die Zahlen gelten für Westdeutschland). Die erforderliche Lebensarbeitszeit wird also im Schnitt bei den Männern um fünf, für die Frauen um etwa 7,5 Prozent verlängert.

Das ist übrigens kein Reflex auf die wachsende Zahl der Altenteiler und –innen, sondern Antwort auf die gestiegene Lebenserwartung. Auf die wachsende Zahl der Menschen, die in Rente gehen, reagieren Gesetzgeber, Exekutive und Rentenversicherung mit variabler Rentenanpassung einmal in jedem Jahr, Änderung des Beitragssatzes und variablen Zuschüssen aus dem Steueraufkommen.

Erwerbsbiografien mit 45 und mehr Arbeitsjahren gibt es also tatsächlich. Eine Handvoll Rentner kommt gar auf eine reguläre Altersrente von 3000 € im Monat. Das sind diejenigen, die 45 Jahre lang ohne Unterbrechung den höchstmöglichen Beitrag in die Rentenversicherung eingezahlt haben – eine Art „blauer Mauritius“ in der Rentenversicherung. Zum Vergleich: die durchschnittlichen Versorgungsbezüge in Deutschland (Pensionen) lagen 2016 bereits über 3000 €.

Bild: Andrew Martin auf Pixabay

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen – vielleicht noch folgender Hinweis: Wer statt mit jetzt 65 Jahren und 10 Monaten mit 63 in Rente geht, der muss monatlich auf 0,3 Prozent seines Rentenanspruchs verzichten – wurde damals zu Riesters Zeiten beschlossen, also: 2 Jahre macht 24 Monate X 0,3 =  7,2 Prozent Abzüge; macht bei einer Rente in Höhe von 1800 € knapp 130 € je Monat.
Angefangen mit dem Geburtsjahrgang 1947 wird die Altersgrenze bis 2023 um jährlich einen Monat angehoben. Wer beispielsweise Jahrgang 1956 ist, kann mit einem Alter von 65 Jahren und zehn Monaten in Rente gehen. Ab 2024 wird die Altersgrenze beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1959 in 2-Monats-Schritten angehoben. Für Versicherte ab Jahrgang 1964 gilt dann die Regelaltersgrenze von 67 Jahren. (Rentenversicherung).

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Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

3 Kommentare

  1. Seriöse Untersuchungen zeigen, dass von der Rente mit 63 nicht in erster Linie die angezielte Gruppe derjenigen profitiert, die in ihrem Arbeitsleben starken körperlichen u.ä. Belastungen ausgesetzt waren, sondern Facharbeiter und Angstellte. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-rente-mit-63-ist-teuer-und-verschaerft-den-fachkraeftemangel-18545595.html

    Für das teuerste Wählergeschenk der SPD und der GroKo aller Zeiten müssen die jüngeren Beitragszahler aufkommen, die selbst später davon nicht profitieren werden, sondern im Gegenteil eine niedrige, zum Leben kaum ausreichende Rente zu erwarten haben. Das Lieblingsprojekt der Sozialdemokratie orientiert sich an dem alten Leitbild des Fabrikarbeiters, der 45 Jahre und länger ohne Unterbrechung schuftet und Beiträge zahlt. Das gibt es so aber kaum noch. Immer mehr arbeiten in prekären wechselnden Jobs und/oder als (Schein)Selbstständige. Vor allem für sie müsste eine nachhaltige Alterssicherung geschaffen werden. Das wäre eine moderne soziale Rentenpolitik – nicht die rückwärtsgewandte Rm63.

    Sozialpolitische Aufgaben wie der in dem Beitrag aufgeführte Ausgleich für harte Arbeitsbedingungen müssen aus Steuermitteln und damit auch von Leuten mit hohem Einkommen, Selbstständigen, Beamten usw. bezahlt werden. Das darf nicht wie auch die sog. Mütterrente den Beitragszahlern alleine aufgelastet werden.

    Außerdem hat die Rente mit 63 neue Ungerechtigkeiten geschaffen. Menschen, die genauso hart geschuftet haben, aber incl. Ausbildungszeiten knapp weniger als die 45 Beitragsjahre aufweisen können, fallen nicht darunter. Wie z.B. ich.

    Nicht zuletzt, und das hat Scholz (leider ohne Selbstkritik als früherer Sozialminister) zurecht angesprochen: Das milliardenteure neue Frühverrentungsprogramm hat massiv zum Arbeitskräftemangel in allen Bereichen und Branchen beigetragen. Andrea Nahles, in deren Amtszeit die Rm63 beschlossen wurde, muss nun als Chefin der Bundesagentur für Arbeit (!) ausbaden, was sie selbst mit angerichtet hat.

    1. Sehr geehrter Herr Greven,
      den Professor Börsch-Supan können Sie für Ihre miserable Perspektive der Rentenversicherung nicht in Anspruch nehmen. Ich zitiere aus einem Cicero- Interview des Jahres 2021: „Herr Börsch-Supan, ich bin 31. Muss ich mir Sorgen machen, ob ich überhaupt noch Rente bekomme?
      Nein. Sie werden sogar eine höhere Rente bekommen, als es der Fall wäre, wenn Sie jetzt mit mir zusammen in Rente gehen würden, ich bin 66.“
      Ich will Sie bei dieser Gelegenheit auch auf einen Irrtum hinweisen, dem Sie aufgesessen sind. Die sogenannte „Mütterrente“, also die Beitragsfinanzierung von Kindererziehungszeiten, die tragen nicht die Beitragszahler sondern die Steuerzahlenden. Ist so, war so.
      Der Steuerfinanzierung der Renten sind übrigens Grenzen gesetzt. So lange es in der Bundesrepublik eine Rentengesetzgebung gibt, die der durch Arbeit gemessenen Lebensleistung folgt, muss der Gesetzgeber da vorsichtig sein, sonst löst er sich von diesem System, so dass a la longue der Finanzminister bestimmt, wohin die Reise mit Ihrer und meiner Rente und der unserer Kinder geht.
      Sofern Sie eine grundsätzliche, von Irrtümern „gereinigte“ Kritik äußern, wäre ich auf Ihrer Seite.
      Es war 1. ein schlimmer Fehler, einen akzeptablen Mindestlohn so spät einzuführen. Der nämlich hätte geholfen, den künftigen Renten ein besseres Fundament zu geben.
      Es war 2. ein schlimmer Fehler, die Vermögensbildung für die Beschäftigten zu vernachlässigen – und zwar Vermögensbildung sowohl aus dem wachsenden Produktivvermögen als auch aus dem wachsenden Finanzkapital. Dann läge die Hauptlast nicht allein auf der Rente.
      Drittens war und ist es ein Fehler, in unserer Gesellschaft, in der die Transparenz-Fetischisten wohl das Sagen haben, so wenig über unser so kostbares Sozialsystem immer wieder zu informieren. Wir müssen lernen, es als eine unserer Kostbarkeiten zu begreifen, es zu verteidigen.
      Freundliche Grüße Ihr KV

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